„Politische Neutralität“ wird zunehmend als Kampfbegriff von rechten Akteur*innen, gegen Demokrat*innen instrumentalisiert. Doch ein solches Neutralitätsgebot für die Zivilgesellschaft existiert juristisch nicht. Was als Schutz der Demokratie verkauft wird, ist in Wahrheit ein Angriff auf sie. Ein Kommentar.
Von Vera Ohlendorf
Zum CSD darf in diesem Jahr keine Regenbogenflagge auf dem Reichstag wehen. Dem queeren Mitarbeitenden-Netzwerk der Bundestagsverwaltung ist die Teilnahme am CSD untersagt. Beide Entscheidungen wurden durch Bundestagspräsidentin Julia Klöckner mit Verweis auf die „politische Neutralität“ der Verwaltung getroffen.
Anfang 2025 stellte die Unionsfraktion im Bundestag mit ihrer Kleinen Anfrage „Politische Neutralität staatlich geförderter Organisationen“ die Gemeinnützigkeit zivilgesellschaftlicher Organisationen infrage: „Viele Stimmen sehen in den NGOs eine Schattenstruktur, die mit staatlichen Geldern indirekt Politik betreibt“, heißt es dort etwa. Landtagsfraktionen von AfD, CDU und FDP griffen die Vorlage auf und stellten in Nordrhein-Westfalen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und im Saarland eigene parlamentarische Anfragen. Dem Vorsitzenden der AfD-Fraktion in der Bezirksverordnetenversammlung Charlottenburg-Wilmersdorf, Martin Kohler, wurde im vergangenen März der Zugang zu den Aktionswochen gegen Rassismus verwehrt. Auf Telegram schrieb er: „Die parteipolitische Neutralitätspflicht des öffentlich geförderten Trägers wurde meiner Ansicht nach massiv missachtet. […] Es gibt anscheinend etwas zu verbergen.“

Die politische Rechte spricht oft dann von einer Verletzung des „Neutralitätsgebotes“, wenn gemeinnützige und oder öffentlich geförderte Vereine, Verbände oder Stiftungen ihnen unliebsame Haltungen vertreten, gegen menschenverachtende Aussagen und Maßnahmen Stellung beziehen oder Rechtsextreme von Veranstaltungen ausschließen. Die Behauptung, diese Träger müssten sich „neutral“ verhalten und dürften sich nicht positionieren, ist schlicht falsch, durch juristische Gutachten und in Praxishandreichungen widerlegt. Dennoch ist die Forderung nach „Neutralität“ Kern politischer Strategien, die Gemeinnützigkeit und Förderungswürdigkeit von missliebigen zivilgesellschaftlichen Organisationen gezielt angreifen, diskreditieren und einschüchtern.
Das Grundgesetz ist nicht neutral
Grundsätzlich sind der Staat und seine Organe sowie Einrichtungen des öffentlichen Rechts qua Verfassung zu „parteipolitischer Neutralität“ im Sinne von Un- oder Überparteilichkeit verpflichtet. Staatliche Akteure dürfen nicht in den Parteienwettbewerb eingreifen, einzelne Parteien also nicht benachteiligen oder bevorzugen oder zur Wahl oder Nichtwahl einer bestimmten Partei aufrufen. Gleichzeitig unterliegen sie dem Demokratiegebot (Artikel 20) und den Grundrechten des Grundgesetzes, auch dem Diskriminierungsverbot (Artikel 3 Abs. 3).
Sie dürfen nicht „neutral“ agieren, sondern sind angehalten, demokratische Werte und die demokratische Grundordnung zu wahren und rassistische, antisemitische, sexistische und weitere diskriminierende Strukturen abzubauen. Demokratieschutz, Demokratieförderung und politische Bildung sind damit staatliche Aufgaben, die durch freie Träger übernommen werden können. Förderprogramme wie „Demokratie leben!“ sind Ausdruck dieser Tatsache.
Demonstrationen, Stellungnahmen, politische Arbeit: Alles erlaubt!
Zivilgesellschaftliche Organisationen sind keine staatlichen Funktionsträger. Das ändert sich auch nicht, wenn sie öffentliche Förderungen erhalten. Für sie gelten die im Grundgesetz garantierten Grundrechte, sie genießen Meinungs-, Kommunikations- und Versammlungsfreiheit. Gemeinnützige initiativen haben das Recht, im Rahmen ihrer Satzungszwecke Positionen von Parteien oder Politiker*innen zu analysieren und zu kritisieren. Sie dürfen rassistische, antifeministische oder rechtsextreme Äußerungen klar als solche benennen und diese sachlich begründet (zum Beispiel mit Verweis auf Wahl- und Parteiprogramme, Verfassungsschutzberichte oder Gerichtsentscheidungen) einordnen.
Ebenso dürfen Vereine zu politischen Demonstrationen aufrufen, sofern es um die sachliche Auseinandersetzung im Zusammenhang mit ihren Satzungszwecken geht. Initiativen, die sich der Integrationsarbeit widmen, können also mit politischen Demonstrationen darauf hinweisen, dass Deportationspläne der AfD oder Zurückweisungen von Geflüchteten an den deutschen Grenzen gegen die Menschenrechte und geltende Gesetze verstoßen. In geringerem Umfang sind politische Betätigungen für Gemeinnützige auch möglich, wenn sie deren Satzungszwecke nicht im engeren Sinn berühren, beispielsweise wenn sich ein Sportverein gegen queerfeindliche Äußerungen von Politiker*innen positioniert.
Zivilgesellschaftliche Organisationen unterliegen selbstverständlich auch Pflichten. Sie müssen sich an die allgemeinen Gesetze halten, dürfen also keine falschen Tatsachenbehauptungen verbreiten, keine Straftaten begehen oder dazu aufrufen. Gemäß Gemeinnützigkeitsrecht (§ 55 Abs. 1 Nr. 2 S. 3 Abgabenordnung) dürfen Träger einzelne Parteien nicht mittelbar oder unmittelbar unterstützen, etwa durch finanzielle Zuwendungen, Kampagnenarbeit oder durch Wahlempfehlungen. Das soll verdeckte Parteienfinanzierungen verhindern.
Der Begriff „politische Neutralität“ kommt in der Abgabenordnung nicht vor, ebenso wenig ein Verbot sachlicher politischer Äußerungen. Bei öffentlicher Projektförderung können in bestimmtem Maße politische Unparteilichkeitsforderungen oder thematische Einschränkungen Teil des Fördervertrages sein, die sich auf das geförderte Projekt beziehen, nicht auf die satzungsgemäßen Aktivitäten des Trägers insgesamt. Aktuell gibt es kaum Rechtsprechung zur Rechtmäßigkeit solcher Auflagen, was darauf hinweisen könnte, dass Träger mit diesen einverstanden sind oder den Klageweg scheuen.
Wer muss eingeladen werden?
Vereine sind nicht verpflichtet, Vertreter*innen aller Parteien zu ihren Veranstaltungen einzuladen. Sie entscheiden selbst, wer bei ihnen willkommen ist und wer nicht und unterliegen dabei nur dem Diskriminierungsverbot gemäß Artikel 3 Abs. 3 Grundgesetz. Unvereinbarkeitserklärungen, durch die rechtsextreme Akteur*innen von einer Vereinsmitgliedschaft ausgeschlossen sind, sind zulässig, da politische Überzeugungen im Sinne des Grundgesetzes keine „Weltanschauungen“ sind.
Zivilgesellschaftliche Organisationen bringen ihr Fachwissen in parlamentarische Verfahren ein und betreiben politische Arbeit im Rahmen ihrer Satzungszwecke. In einer parlamentarischen Demokratie ist das, Sachlichkeit und Transparenz vorausgesetzt, für die politische Willensbildung konstitutiv. Das Grundgesetz garantiert das Prinzip demokratischer Offenheit, das von der Chancengleichheit für politische Parteien, die staatliche Stellen garantieren müssen, nicht aufgehoben wird.
Gerichtlich bestätigt: Neutralitätsforderung ist gegenstandslos
Ein allgemeines Gebot „politischer Neutralität“ existiert also nicht, weder für zivilgesellschaftliche Organisationen noch für öffentliche Institutionen. Politische und juristische Entscheidungen haben das vielfach bestätigt: Anfang 2024 postete die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer auf Instagram, die AfD sei ein „Fall für die Verfassungsschutz- und Strafverfolgungsbehörden“. Die AfD sah darin einen Verstoß gegen das Neutralitätsgebot und klagte vor dem Landesverfassungsgericht. Der wies die Klage ab: Eine Landesregierung könne „an der öffentlichen Auseinandersetzung darüber teilzunehmen, ob Ziele und Verhalten einer Partei oder deren Mitglieder als verfassungsfeindlich einzuordnen sind“ und dürfe Warnungen aussprechen.
„Unparteilichkeit, nicht aber Wertefreiheit oder gar Positionslosigkeit“
Auch die Antwort der Bundesregierung auf die 551 Fragen der CDU-Fraktion fiel eindeutig aus: Zivilgesellschaftliches Engagement, das sich auch in Demonstrationen äußert, ist demokratiepolitisch erwünscht. Das Berliner Verwaltungsgericht entschied unlängst, dass das Aufhängen einer Pride-Flagge in einem Hort nicht gegen das Neutralitätsgebot verstößt. Bei der Erziehung in der Schule müsse nicht auf wertende Inhalte verzichtet werden.
Deutlicher noch formuliert es die Jugend- und Familienkonferenz der Länder, die „ein sogenanntes Neutralitätsgebot“ für die Jugendhilfe verfassungsrechtlich nicht normiert“ sieht. Die Verfassung verpflichte zu „Unparteilichkeit, nicht aber Wertefreiheit oder gar Positionslosigkeit“. Fachkräfte müssten Äußerungen und Handlungen aktiv entgegentreten, die gegen die demokratischen Werte gerichtet seien. Die Kultusministerkonferenz stellte bereits 2018 fest, der Beutelsbacher Konsens, ein anerkannter Fachstandard der politischen Bildung, der in den 1970er Jahren formuliert wurde und seither immer wieder fälschlich für eine “Neutralitätspflicht” von Pädagog*innen ins Spiel gebracht wird, verpflichte zu kritischer Auseinandersetzung und zur Vermittlung demokratischer, menschenrechtsorientierter Werte.
Wer die Neutralisierung der Zivilgesellschaft fordert, normalisiert rechtsextreme Diskurse
Der Begriff „Neutralität“ wird durch die politische Rechte in Dauerschleife irreführend genutzt, um Demokratiearbeit zu behindern, zivilgesellschaftliche Organisationen zu diffamieren und Demokrat*innen gezielt einzuschüchtern. Wer demokratische Werte verteidigt oder Rechtsextreme von antirassistischen Veranstaltungen ausschließt, gerät in Verdacht, „etwas zu verbergen“ oder als Teil einer „Schattenstruktur“ staatliche Gelder für politische Einflussnahme zu missbrauchen. Anklänge an Verschwörungserzählungen rund um „Deep State“ und „geheime Eliten“ sind in vielen Fällen offensichtlich.
Das verfängt: Obwohl die sogenannte „Neutralitätspflicht“ in der Regel juristisch unbegründet ist, scheuen sich Lehrer*innen, Beamt*innen, Mitarbeitende in Wohlfahrtsorganisationen oder Ehrenamtliche in Vereinen, sich sachlich-kritisch zu tagespolitischen Themen oder zum Programm von Parteien wie der AfD zu äußern.
Eine Studie von „Zivilgesellschaft in Zahlen” zeigt, dass rund 30.000 zivilgesellschaftliche Organisationen in Deutschland aus Sorge um ihre Gemeinnützigkeit politisches Engagement unterlassen, wobei die Sorge mehrheitlich juristisch unbegründet sein dürfte. In ostdeutschen Kommunen, in denen die AfD politische Ämter innehat, ist der Anpassungsdruck besonders hoch. Längst wird die „Neutralität“ auch jenseits des juristischen Kontextes von Unternehmen betont, die weder gemeinnützig noch öffentlich gefördert sind. So verkündete das sächsische Unternehmen „Teigwaren Riesa”, man sei „politisch neutral“ und bekenne sich „dazu, keine politische Richtung, Bewegung oder Agenda zu unterstützen“, nachdem das Firmenlogo widerrechtlich auf einer Anti-AfD-Demo aufgetaucht war. Viele Kund*innen stimmten begeistert zu. Dass ausgerechnet in Sachsen die Nicht-Verurteilung von rechtsextremen Ideologien ein Verkaufsargument ist, zeigt, wie sehr die Nebelkerze “Neutralität” an Einfluss gewinnt.

Als Kommunikationsstrategie ist die Beschwörung der Drohkulisse rund um die angebliche „Neutralität“ wesentlicher Kern eines Kulturkampfes: Kritik soll verstummen, rechte Positionen sollen weiter normalisiert werden. Dabei geht es nicht um die juristischen Feinheiten der Abgabenordnung, sondern darum, demokratische Grundprinzipien zu schwächen. Die Grenzen des Sagbaren verschieben sich: Menschenverachtende und rechtsextreme Äußerungen erscheinen als legitime Haltungen im Meinungswettbewerb, die man nicht zu kritisieren hat, will man nicht Fördermittel, Rechte oder gesellschaftliche Legitimität verlieren. Dass Diffamierungskampagnen gegen Kritiker*innen im Namen einer vermeintlichen „Neutralität“ selbst keineswegs „neutral“ sind – geschenkt! Die Aufhebung des Verbots des Compact-Magazins zeigt, dass menschenverachtende Aussagen der extremen Rechten in vielen Fällen zulässig und von der Meinungsfreiheit gedeckt sind. Für Menschen und Organisationen, die Demokratie und Grundgesetz verteidigen, dürfen keine härteren Regeln gelten.
Als Demokrat*innen sind wir gefordert, den Neutralitätsdiskurs als das zu entlarven, was er ist: antidemokratisch und verfassungsfeindlich. Dagegen müssen wir uns gemeinsam und solidarisch nicht nur juristisch, sondern auch politisch wehren.
Dieser Artikel ist am 11. Juli 2025 zuerst auf Belltower.News erschienen.