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„Die friedliche Revolution war alles andere als friedlich“ – Newsletter Oktober 2020

In eigener Sache

Liebe Leserinnen und Leser,

 

die Feiern zur Deutschen Einheit sind dieses Jahr nicht so bombastisch ausgefallen wie geplant. Der Grund war Corona und nicht eine Art Bescheidenheit im Umgang mit der Geschichte. Doch es gab noch etwas, das anders war als die anderen Jahrestage zum 3. Oktober. An diesem Jahrestag drangen zwei Fragen an die Oberfläche der Öffentlichkeit, die bisher übergangen worden waren. Die eine ist: Wie friedlich war die friedliche Revolution eigentlich wirklich? Und die andere ist: War es tatsächlich eine Revolution? Beide Fragen dringen sehr ein in das Selbstverständnis rund um die Wende 1989 und der darauffolgenden deutschen Einheit. Deshalb hat es 30 Jahre gebraucht, um diese Fragen überhaupt zuzulassen.

 

Der Umbruch, der Zusammenbruch der DDR war der Höhepunkt einer Entwicklung, die mit vielen Veränderungen in der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Staaten begonnen hatte. Er fand also nicht isoliert statt, sondern war ebenso das Ergebnis eines wirtschaftlichen und moralischen Zerbröselns der Länder des "Ostblocks", deren Torwächter die DDR mit der Mauer war. Zu diesem Zerfall von Wirtschaft und Moral gehörte auch, dass die DDR Vertragsarbeiter aus verschiedenen Ländern eingekauft hat und sie behandelte wie man eben nützliche Ware behandelt. Isoliert, mit unmenschlichen Auflagen, zur Arbeit eingeteilt und wieder weggeschickt. Versprechen wurden gebrochen, Freundschaft und Nähe verweigert, rassistische Haltungen der Umgebung, ja sogar Gewalt gegen die Vertragsarbeiter*innen ignoriert.

 

Diese Gewalt kam aus dem Bauch der DDR-Gesellschaft, aus der in den 1980er Jahren auch ein veritabler Rechtsextremismus entstanden war. Die DDR hatte sich nicht dem Erbe des Nationalsozialismus gestellt. Und so überwinterten Rassismus und Antisemitismus. Der Bodensatz blieb trotz des erklärten Antifaschismus unangetastet. Und als die Mauer weg war und die staatliche Kontrolle über die öffentliche Meinung verschwunden, brach sich die rassistische Gewalt Bahn. Nazis und einfache Bürger feierten die Einheit - auch verbunden mit Parolen und Gewalt gegen Vertragsarbeiter*innen, Schwarze Menschen und BPOCs. Dieses Jahr wird zum ersten Mal öffentlich daran erinnert. In Texten und Veranstaltungen wurde deutlich, dass die "friedliche Revolution" für viele Menschen alles andere als friedlich war.

 

Die andere Frage ist: War es eine Revolution? Ja, der Fall der Mauer und die Einheit waren ein gewaltiger, sogar globaler Umbruch und das Ereignis hatte Elemente einer Revolution. Jürgen Habermas bezeichnete die Ereignisse in Ostdeutschland als "nachholende Revolution". Gemessen hat er dies an Werten des Grundgesetzes und der Idee der offenen Gesellschaft. Wenn ich seine Analyse heute lese, kommt sie mir utopisch vor und an der Realität von damals vorbei. Sie kam zu früh. Zu viele Orte Ostdeutschlands verharren in autoritären Sehnsüchten und Kleinstädterei. Die Abwehr von Konflikten beherrscht noch immer Kultur der Auseinandersetzungen - ganz besonders, wenn es um Rechtsextremismus geht. Völkische Gesinnung, Rassismus und Antisemitismus besetzen die Normalität, ihre Opfer spielen keine Rolle.

 

Was für die Bundesrepublik mit der 68er Bewegung begann und die Auseinandersetzung mit dem Erbe des Nationalsozialismus vorangetrieben hat, ist in Ostdeutschland heute der Kampf gegen Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern von Rassismus und Rechtsextremismus. Es ist der Kampf für die Konflikte der offenen Gesellschaft, für Demokratie und für die Ideen des Grundgesetzes, und zwar nicht nur, wenn sie einem gerade passen. Sehr viele Ostdeutsche kämpfen jeden Tag sehr hart und gegen große Widerstände dafür. Sie engagieren sich gegen Rassismus und Antisemitismus. Sie holen so heute endlich die nachholende Revolution nach. Die Stiftung unterstützt sie dabei und ist froh, Teil dieser Bewegung zu sein.

 

Ihre Anetta Kahane

Anetta Kahane. Foto: © Peter van Heesen

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