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„In Deutschland versammelt sich die Unvernunft“ – Newsletter August 2020

In eigener Sache

Liebe Leserinnen und Leser,


in diesem Sommer, dem ersten der Corona-Zeitrechnung, organisieren sich sehr unterschiedliche Gruppen um gegen die Corona-Maßnahmen zu protestieren. Und in der Tat gibt es vieles, wogegen man protestieren könnte. So sind ganze kleine und mittelständische Branchen unter Druck geraten, besonders schlimm sind die Schutzmaßnahmen für alle Selbstständigen, Künstler*innen, Schausteller*innen, für alle, die davon leben, dass Menschen zusammenkommen. Und während riesige Unternehmen mit riesigen Summen unterstützt werden, fehlt diese Unterstützung proportional für viele andere. Auch die Tatsache, dass die Pflegeberufe, vor einigen Wochen noch so hochgelobt und von Balkonen beklatscht, doch keine besseren Bedingungen bekommen, wäre ein Grund zu demonstrieren. Doch stattdessen versammelt sich in Deutschland die Unvernunft.
 

In einer Demokratie ist es egal, ob Leute an Ufos oder Chemtrails glauben, ob Verschwörungsideologen bizarre Geschichten erzählen oder andere davon überzeugt sind, dass Quarzsteine gegen Krankheiten helfen oder man mit Wünschelruten den goldenen Topf am Ende des Regenbogens findet. Das ist ein freies Land, jeder kann denken, was er will und glauben, woran er mag. Die Corona-Proteste aber sind anders. Hier wird ein Wahn geschürt, der gefährlich ist. Für die Gesundheit, weil die Krankheit Covid-19 geleugnet wird und die Demonstrant*innen mit voller Absicht die Hygienevorschriften missachten. Und für die politische und gesellschaftliche Kultur, weil Hysterie und Aggression die Vernunft beiseite brüllen.


In der Mitte dieser Proteste fühlen sich Nazis und Antisemiten sehr gut aufgehoben. Auf diesen Demos wird zum Umsturz aufgerufen, die Shoa relativiert, die Pressefreiheit sabotiert und zu Hass angestachelt. Sie erinnern an PEGIDA und die Stimmung dort gegen alles Nicht-Deutsche. Jetzt geht es um den Hass gegen die Demokratie, ihre Institutionen, ihre Vertreter*innen. Die Verschwörungserzählungen dazu sind antisemitisch, mal offen, mal als Denkmuster. Genau wie bei PEGIDA. Und worin sich beides noch ähnelt, ist der Umgang vieler Medien mit diesem Phänomen. Sie stürzen sich darauf, als gebe es kein Morgen und berichten mitunter voller Verständnis. Viele der Berichterstattungen sind distanzlos und unkritisch. Und einige Medien bieten den schlimmsten Antisemiten eine großzügige Bühne.


Mittendrin die Polizei. Nein, nicht die Polizei, aber doch einige Polizisten wie der Kriminaloberkommissar Michael Fritsch aus Niedersachsen. Anfang des Monats griff er beherzt zum Mikro und erklärte dem begeisterten Publikum, dass es an den Demonstrierenden und "unseren Soldaten" läge, ob der gesellschaftliche Wandel friedlich oder gewaltsam verlaufe. Vorher meinte er, dass auch die Polizei nur dem Volke verpflichtet sei und nicht der korrupten und verlogenen Politik. Seinen Verschwörungsideen lag das Grollen einer nahenden Revolte gegen die Demokratie zugrunde und die Drohung bewaffneter Aktionen, sie durchzusetzen. Dieser Mann, offenbar ein weiterer "Einzeltäter", sieht sich keineswegs so. er sieht sich als Teil einer kritischen Masse, zu der auch die Polizei gehöre.


Dieser Vorgang ist schlimm, denn er höhlt das Vertrauen in die Polizei weiter aus, die in letzter Zeit auch im Zusammenhang mit Rechtsextremismus und Rassismus zurecht heftig kritisiert wurde. Was dieser Fall jedoch bedeutet, illustriert den Verlust an Vertrauen in besonderer Weise. Michael Fritsch war bis zu seiner Rede für die Sicherheit jüdischer Einrichtungen in Niedersachsen zuständig. Unsere Freunde von der Liberalen Gemeinde Hannover trifft das besonders hart, denn sie haben mit ebendiesem Mann zusammengearbeitet. Erst nach dem antisemitischen Anschlag von Halle sahen die Behörden hier einen Handlungsauftrag zum Schutz der Gemeinde. Und sie schickten Herrn Fritsch.


Nein, liebe Leserinnen und Leser, diese Corona-Demonstrant*innen sind keine kleine Gruppe harmloser Spinner. Sie vergiften das Klima, unterminieren die Vertrauensbasis, sie verbreiten neben den Viren auch Antisemitismus. Das sollte die Gesellschaft nicht so einfach stehen lassen.


Ihre Anetta Kahane

Anetta Kahane. Foto: © Peter van Heesen

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