35 Jahre nach dem rassistischen Mord an Amadeu Antonio zieht die nach ihm benannte Amadeu Antonio Stiftung eine kritische Bilanz: Mehr als 100 Todesopfern rechter Gewalt wird nach wie vor die staatliche Anerkennung verwehrt. Die Stiftung dokumentiert aktuell 221 Todesopfer, während die Bundesregierung lediglich 117 offiziell anerkennt. Diese fortbestehende Lücke zeigt ein massives strukturelles Versäumnis. Die Stiftung fordert deshalb die lückenlose Anerkennung aller Todesopfer rechter Gewalt seit 1990 sowie die Garantie staatlicher Unterstützung für die Hinterbliebenen.
Die klaffende Wunde: Anerkennung als Zeichen der Gerechtigkeit
Amadeu Antonio, der am 6. Dezember 1990 an den Folgen eines rassistischen Angriffs in Eberswalde starb, ist das erste offiziell anerkannte Todesopfer rechter Gewalt nach der Wiedervereinigung. Die Verweigerung der Anerkennung für über 100 weitere Opfer verlängert das Leid der Hinterbliebenen und ist politisch fragwürdig. Angesichts des anhaltenden Traumas der Angehörigen und Hinterbliebenen erklärt die Stiftung:
„Keine Anerkennung kann diese Menschen wieder lebendig machen, aber sie zeigt den Angehörigen, dass der Staat ihre klaffende Wunde nicht weiter ignoriert und ihnen endlich Gerechtigkeit zugesteht.“, so Timo Reinfrank, Vorstand der Amadeu Antonio Stiftung. Die Stiftung betont die gesellschaftliche und politische Dimension dieser Morde: „Jeder Mensch, der aus menschenverachtenden Motiven getötet wird, stirbt als Vertreter einer bestimmten Gruppe – dieser Angriff trifft damit die Gesellschaft als Ganzes. Staatliche Anerkennung schafft Fakten und zeigt, Staat und Behörden nehmen rechtsextreme Gewalt als Thema der inneren Sicherheit ernst – gerade jetzt, wo Rechtsextreme auf den Straßen mobilisieren und sich in den Parlamenten Platz nehmen.“, ergänzt Reinfrank.
Die Notwendigkeit unabhängiger Überprüfungen
Dass die Forderung nach lückenloser Anerkennung Realität werden kann, zeigen vor allem Überprüfungen, bei denen sogenannte “Altfälle” durch externe wissenschaftliche Gutachter*innen noch einmal dezidiert überprüft werden. Wie wichtig dabei vor allem auch die zivilgesellschaftliche Perspektive auf diese Fälle ist, zeigt der kürzlich vorgestellte Bericht „Todesfälle mutmaßlich rechter Gewalt in Thüringen seit 1990“. Beauftragt vom Thüringer Landtag, erstellte ein Team der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin in Kooperation mit dem Moses-Mendelssohn-Zentrum ein Gutachten. Flankiert wird dieses Vorhaben von einem Beirat, der sowohl zivilgesellschaftliche als auch behördliche Perspektiven zusammenbringt. Das Gutachten empfiehlt zehn weitere Fälle, die zukünftig offiziell als Todesopfer rechter Gewalt geführt werden sollten.
„Das Vorgehen in Thüringen zeigt: Wir brauchen einen ehrlichen, gemeinsamen Blick von Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Behörden auf diese Taten. Nur so können wir endlich das tödliche Ausmaß rechter Gewalt von offizieller Stelle möglichst lückenlos und wahrhaftig dokumentieren. Das sind wir den Opfern schuldig“, erklärt Timo Reinfrank.
Die unverzichtbare Rolle der Zivilgesellschaft
In Fällen, in denen die offizielle Anerkennung weiterhin ausbleibt, zeigt sich die unverzichtbare Rolle zivilgesellschaftlichen Engagements. Erinnerungsarbeit, wie sie der Verein Palanca e.V. in Eberswalde seit 35 Jahren leistet, ist ein wegweisendes Beispiel dafür, wie wichtig das stete Engagement lokaler Initiativen nach wie vor ist, um Todesopfer rechter Gewalt dem Vergessen zu entreißen. Andernorts stoßen zivilgesellschaftliche Initiativen noch immer auf Widerstände, weil Kommunen vergessen wollen: „An all jene, die gerade um dieses Erinnern ringen, möchten wir sagen: Wir stehen an eurer Seite!“, so Reinfrank.
Zum 35. Todestag von Amadeu Antonio erneuert die Amadeu Antonio Stiftung ihre zentralen Forderungen an Politik, Justiz und Sicherheitsbehörden. Die Stiftung macht deutlich, dass eine umfassende und glaubwürdige Aufarbeitung rechter Gewalt nur möglich ist, wenn alle Todesopfer rechter, rassistischer und antisemitischer Angriffe vollständig und eindeutig anerkannt werden.
Die Stiftung fordert daher eine systematische Überprüfung und Korrektur bisher nicht anerkannter Fälle, transparente Ermittlungs- und Beurteilungsverfahren sowie eine klare politische Prioritätensetzung im Kampf gegen rechte Gewalt. Im Zentrum staatlichen Handelns müssen dabei die Perspektiven und Erfahrungen der Betroffenen stehen.