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Juden in Deutschland täglich in Gefahr – Gemeinsames Handeln von Zivilgesellschaft und Bundesregierung gefragt

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Berlin, 8. November 2021: Einen Tag vor dem 83. Jahrestag der Novemberpogrome fordern Anetta Kahane, Dr. Felix Klein und Düzen Tekkal in der Bundespressekonferenz die gesamte Gesellschaft und insbesondere die neue Bundesregierung zum entschlossenen Handeln gegen Antisemitismus auf.

Antisemitismus zeigt sich wieder offener, ungehemmter und gewalttätiger: In Hamburg wurde ein Jude krankenhausreif geprügelt, weil er an einer israelsolidarischen Demonstration teilnahm; ein anderer in Spandau, weil er sich weigerte “free palastine” zu rufen; in Hagen wurde ein islamistischer Anschlagsversuch auf die Synagoge an Jom Kippur vereitelt; den Zentralrat der Juden in Deutschland überrollten die Hassnachrichten, nachdem Gil Ofarim einen mutmaßlich antisemitischen Vorfall anprangerte; die Verschwörungserzählungen zur Corona-Pandemie haben sich verfestigt; auf allen Social Media Plattformen findet sich geballter antisemitischer Hass. Allein im ersten Halbjahr 2021 gab es bereits 986 antisemitische Straftaten.

“Wir sind erst ganz am Anfang zu begreifen wie gefährlich Antisemitismus ist. Wir müssen jeden Antisemitismus aus allen Milieus bekämpfen“, sagt Anetta Kahane, die Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung. “Denn die Realität ist für Juden in Deutschland: Wenn sie in die U-Bahn steigen, erwarten sie wegen ihrer Kippa beschimpft zu werden, bestimmte Gegenden meiden sie lieber und wenn sie ins Internet gehen, rechnen sie schon mit Judenhass in Sozialen Netzwerken. Die neue Bundesregierung muss Antisemitismusbekämpfung weit oben auf ihre Agenda setzen. Dabei müssen jüdische Perspektiven einbezogen werden. Mit großer Sorge beobachte ich, dass inzwischen der Vorwurf des Antisemitismus schwerer wiegt als der Antisemitismus selbst. Das ist Ausdruck einer zunehmenden Abwehrhaltung.”

 Jüdisches Leben muss geschützt werden

„Die Sicherheit und Freiheit der Betroffenen im Alltag müssen der Maßstab für unser Handeln sein“, betont Dr. Felix Klein, der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus: „Judenhass betrifft alle gesellschaftlichen Gruppen und Milieus. Er bildet den Kern der grassierenden Verschwörungsmythen, die unserem Zusammenhalt den Boden entziehen. Das bedroht die Grundlagen der Demokratie und gefährdet unsere ganze Gesellschaft.”

Düzen Tekkal, Politologin und Gründerin des Vereins HÁWAR.help, der JesidInnen im Irak unterstützt, warnt: „Im Windschatten der Covid-19-Pandemie grassiert eine zweite Pandemie: Die des Antisemitismus. Wir erleben, dass antisemitische Aussagen immer salonfähiger werden, häufig im Gewand des Antizionismus, der oftmals fälschlicherweise als ehrbare und akzeptable Meinung durchgeht. Er wird immer unverhohlener geäußert. Jüdinnen und Juden müssen wieder Angst haben, sicht- und hörbar als Juden in der Öffentlichkeit in Erscheinung zu treten. Das ist eine besorgniserregende Entwicklung. Empathie wird zunehmend nur mit Bezug auf tote Juden ausgedrückt, im Gedenken an die Shoah. Lebenden Jüdinnen und Juden wird sie verwehrt. Wenn wir jetzt nicht gegensteuern, werden wir einen Exodus von sich als jüdisch verstehenden Menschen nach Israel erleben. Und wer kann es ihnen verdenken, dass sie in ein Land auswandern, das derzeit als einziges ihre Unversehrtheit zu garantieren vermag? Dabei muss Deutschland, muss Europa ein Ort sein, an dem jüdische Menschen sich sicher fühlen können – gerade vor dem Hintergrund der Barbarei des 20. Jahrhunderts.“

Forderungen an die neue Bundesregierung

Gemeinsam richten sich die Vertreter aus Zivilgesellschaft und Politik an die neue Bundesregierung, aber auch an die gesamte Gesellschaft: Jeder einzelne muss sich stärker einsetzen, das bisherige Engagement reicht nicht. Jeder muss sich tagtäglich fragen, wo er etwas gegen Antisemitismus tun kann.

In ihrem heute veröffentlichten Lagebild Antisemitismus 2021 fordert die Amadeu Antonio Stiftung u. a.:

  • Der Schutz von jüdischen Einrichtungen und Betroffenen antisemitischer Gewalt muss verstärkt werden. Es braucht angemessene präventive wie repressive Maßnahmen, um die konkrete Sicherheit und das Sicherheitsgefühl zu stärken.
  • Es braucht eine gute Dokumentation antisemitischer Vorfälle, die Straftaten müssen ausermittelt werden und die RIAS Meldestellen brauchen bundesweit eine Ausfinanzierung, um das Dunkelfeld antisemitischer Vorfälle, auch unter der Strafbarkeitsgrenze, unter vorrangiger Berücksichtigung der jüdischen Perspektive, zu erhellen.
  • Die Arbeit der demokratischen Zivilgesellschaft gegen Antisemitismus muss abgesichert werden! Projekte gegen Antisemitismus müssen nachhaltig und eigenständig gefördert werden und dürfen nicht von Jahr zu Jahr um ihre Finanzierung bangen. Das gilt insbesondere für den ländlichen Raum. Zur notwendigen Sensibilität für Antisemitismus gehört, dass Projekte gegen Antisemitismus nicht unter dem Schlagwort Rechtsextremismusprävention mitverhandelt werden. Die bisherigen Ansätze gegen Antisemitismus helfen offensichtlich nur begrenzt. Das gilt es zu evaluieren und neue Wege zu finden.

Über die Amadeu Antonio Stiftung:

Seit ihrer Gründung 1998 ist es das Ziel der Amadeu Antonio Stiftung, eine demokratische Zivilgesellschaft zu stärken, die sich konsequent gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus wendet. Die gemeinnützige Stiftung steht unter der Schirmherrschaft von Wolfgang Thierse.

Publikationen

Lagebild_Antisemitismus_2021_600_800

Zivilgesellschaftliches Lagebild Antisemitismus 2021

Das Lagebild Antisemitismus bündelt zivilgesellschaftliche und jüdische Perspektiven auf Antisemitismus. Es wirft einen detaillierten Blick in die unterschiedlichen Formen, in denen er sich heute in Deutschland zeigt: offen und codiert, physisch und verbal, von rechts, links, aus der Mitte der Gesellschaft wie im Islamismus. Der Analyse folgen Forderungen, um Antisemitismus nachhaltig zu bekämpfen.

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