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Angst als Alltagsbegleiter – Studie zu Rassismuserfahrungen von Frauen in MV veröffentlicht

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Neubrandenburg, 30.11.2022. Permanente Abwertung, Bedrohungen und Hass gehören für  migrantische Frauen in Mecklenburg-Vorpommern zum Alltag. Zu diesem Fazit kommt das Lagebild Rassismus, das Lola für Demokratie in MV e.V. und Tutmonde e.V. gemeinsam mit der Hochschule Neubrandenburg veröffentlichen und das von der Amadeu Antonio Stiftung unterstützt wurde. Für die qualitative Studie mit dem Titel „Angst schwingt immer mit“ wurden betroffene Frauen zu ihren Rassismuserfahrungen und deren Folgen befragt.

Ob Blicke, Bemerkungen, Beleidigungen oder tatsächliche physische und psychische Übergriffe – Mecklenburg-Vorpommern ist kein sicherer Ort für Frauen mit Flucht- oder Migrationsbiografie. Zu diesem Ergebnis kommt das Lagebild Rassismus, das Lola für Demokratie in MV e.V., Tutmonde e.V. und die Hochschule Neubrandenburg heute vorstellen.

Im Lagebild berichten Frauen aus Mecklenburg-Vorpommern, wie sie Rassismus erleben und wie er ihren Alltag beeinflusst. Sie berichten davon, wie sie versuchen, die ständige Abwertung und den Hass in ihren Alltag zu integrieren und was der Versuch, diese Erfahrungen zu vermeiden, sie kostet. Die befragten Frauen geben an, dass sie sich in ihrem Alltag extrem eingeschränkt fühlen und berichten von zahlreichen Bedrohungsszenarien, die ihnen den Zugang zum öffentlichen Raum verwehren.

Die Perspektiven betroffener Frauen als blinder Fleck

Der Rassismus, dem Frauen in Mecklenburg-Vorpommern ausgesetzt sind, ist ein blinder Fleck in der öffentlichen Wahrnehmung. Migration wird häufig als ein männlich besetztes Thema verhandelt. Frauen werden dabei oft nur im Kontext von „Nachzug“ wahrgenommen, oder „angehängt“ als Ehefrauen, Töchter oder andere Verwandte von Männern.

“Frauen mit Flucht- oder Migrationsbiografie erleben sehr oft, dass ihre Wahrnehmung von niemand anderem geteilt wird. Ihre Erfahrungen werden nicht gesehen, nicht anerkannt und sind damit für eine breite Öffentlichkeit unsichtbar”, so Tahera Ameer, ehrenamtliche Geschäftsführerin von Lola für Demokratie . “Das hat verheerende Konsequenzen. Zum einen zweifeln die Frauen häufig an ihrer eigenen Wahrnehmung. Zum anderen können so keine effektiven Maßnahmen gegen Rassismus ergriffen werden.  Nur wer weiß, welche Gesichter Rassismus hat und wie er sich auswirkt, kann dagegen vorgehen. Wir  vermissen den  politischen Willen, Betroffenen zuzuhören, Rassismus in all seinen Dimensionen sehen und verstehen zu wollen. Es braucht ein klares Signal der Politik und Zivilgesellschaft, dass wir  solche Zustände nicht hinnehmen. Dieses Signal vermissen wir.”

Angst als Alltagsbegleiter

“Anhand der Erzählungen von zwanzig Frauen wollen wir Perspektiven nachzeichnen, die in der Öffentlichkeit wenig bekannt und noch ungenügend thematisiert sind”, erklärt Júlia Wéber, Professorin für Migrationsgesellschaft und Demokratiepädagogik an der Hochschule Neubrandenburg. “Die Frauen, die in der Studie zu Wort kommen, unterscheiden sich hinsichtlich ihres Alters, ihrer Sozialisation und Bildungswege, ihrer familiären Situation, religiösen Zugehörigkeit und beruflichen Qualifizierung. Was sie eint, ist, wie kräftezehrend ihr Alltag ist, denn rassistische Kommentare und Beleidigungen sind fester Bestandteil ihrer alltäglichen Lebenswelt.”

Rassismus erzeugt eine Umgebung, in der Angst zur ständigen Erfahrung wird. Das Gefühl, sich in einer Gefahrensituation zu befinden, lässt nicht mehr los. Das hat zur Folge, dass die Betroffenen unter permanenter Unsicherheit leiden. Die Angst wird fast beiläufig in die Tagesplanung integriert: Wo gehe ich Lebensmittel einkaufen? An welcher Haltestelle steige ich aus? Auf welchem Spielplatz können meine Kinder spielen?  All das sind Fragen, die sich von Rassismus betroffene Frauen täglich stellen müssen. Ihre Erzählungen machen auch deutlich: Sich angstfrei im öffentlichen Raum zu bewegen ist ein Privileg, was nicht allen Menschen in MV zuteil wird.

“Ein systematisches Monitoring, das verlässliche Zahlen über Erfahrungen mit Rassismus erhebt, findet in Mecklenburg-Vorpommern nicht statt. Auch Erhebungen zu Ausmaß und Folgen von Alltagsrassismus liegen bislang nicht vor. Und die Perspektiven von betroffenen Frauen sind so gut wie gar nicht präsent”, erläutert Christine Krüger, Professorin für Sozialwissenschaften und Qualitative Sozialforschung an der Hochschule Neubrandenburg. “Wir wollen diese Lücke schließen und empirische Daten von betroffenen Frauen generieren. Ihre Stimmen werden einen wichtigen Beitrag dazu leisten, Mecklenburg-Vorpommern handlungsfähiger zu machen im Kampf gegen Rassismus und dessen Folgen.”

“Wir müssen alle Antirassist:innen werden, einschließlich Migrant:innen. Eine Migrationsgeschichte zu haben, bedeutet nicht automatisch, dass man deshalb keine Rassismen reproduziert”, so Jana Michael, Integrationsbeauftragte der Landesregierung. “Gerade die Solidarität unter Frauen unterschiedlicher migrantischer Gruppen muss sich dringend steigern.“

 

Das Lagebild Rassismus leitet aus den Ergebnissen notwendige Maßnahmen ab und gibt Handlungsempfehlungen für Akteure des Bundeslandes, wie für Politik, Zivilgesellschaft und Soziale Arbeit.

Webdokumentation erzählt Erfahrungsberichte von Betroffenen

Eine begleitende Webdokumentation unter https://wir-hier-in-mv.de veranschaulicht die Ergebnisse des Lagebilds Rassismus in MV mit Erfahrungsberichten von Betroffenen, Illustrationen, Fotos und Texten der Forschenden. Außerdem informiert sie über die Geschichte der Migrationsgesellschaft in Mecklenburg-Vorpommern.

 

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