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RIAS Niedersachsen veröffentlicht Jahresbericht 2024: Deutlicher Anstieg um 86% – Höchststand mit 650 Fällen erreicht

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Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Niedersachsen dokumentierte im Jahr 2024 insgesamt 650 antisemitische Vorfälle – ein Anstieg um 86 Prozent im Vergleich zum Vorjahr (2023: 349 Fälle). Damit verzeichnet das Land den höchsten Stand seit Beginn der Erfassung.

Zu den gemeldeten Vorfällen zählen unter anderem Angriffe, Bedrohungen und Sachbeschädigungen. Wie in anderen Teilen Deutschlands stieg auch in Niedersachsen nach dem 7. Oktober 2023 die Zahl der Vorfälle deutlich an und erreichte in 2024 einen Höchststand mit 650 gemeldeten Fällen. RIAS geht zudem von einer hohen Dunkelziffer aus – viele Betroffene melden Erlebnisse aus Angst oder mangelndem Vertrauen nicht.

Drei Fälle extremer Gewalt wurden 2024 registriert – darunter ein Brandanschlag auf die Synagoge in Oldenburg. Darüber hinaus dokumentierte RIAS Niedersachsen 16 körperliche Angriffe (2023: 11), von denen die Hälfte dem israelbezogenen Antisemitismus zugeordnet wurde. In der Kategorie Bedrohung wurden 35 Fälle erfasst – Vorfälle, die besonders stark in das Sicherheitsempfinden der jüdischen Community eingreifen.

Im letzten Jahr waren insgesamt 215 Personen direkt betroffen, im Vergleich zu 122 im Vorjahr. Die häufigste Erscheinungsform war erneut israelbezogener Antisemitismus, der in 409 Fällen (63%) dokumentiert wurde. Es folgten Post-Schoa-Antisemitismus mit 286 Fällen (44%) also Formen von Antisemitismus, die auf die Abwehr von Erinnerung an die Schoa, Verantwortung und Schuld abzielen. 204 Fälle sind als antisemitisches Othering zu klassifizieren, also Vorfälle bei denen Jüdinnen und Juden als „anders“, fremd oder nicht zugehörig zur Mehrheitsgesellschaft dargestellt bzw. angegriffen werden. Daneben wurden 57 Fälle (9%) antijudaistischen, religiös begründetem Antisemitismus und 56 Fälle (9%) modernem Antisemitismus, wie z.B. Verschwörungserzählungen, zugeordnet.

Der Bericht analysiert nicht nur das quantitative Ausmaß antisemitischer Vorfälle, sondern auch deren inhaltliche Ausprägungen und ideologische Hintergründe. Das Spektrum ist breit: Antisemitismus begegnet Jüdinnen und Juden in allen gesellschaftlichen Schichten und an vielfältigen Orten – öffentlich wie privat. Die bei RIAS gemeldeten Vorfälle zeigen dabei nur einen Ausschnitt der Realität.

Projektleiterin Katarzyna Miszkiel-Deppe von RIAS Niedersachsen erklärt:

„Der dramatische Anstieg antisemitischer Vorfälle in Niedersachsen – um 86 Prozent – ist ein alarmierendes Signal. Antisemitismus war 2024 für viele Jüdinnen und Juden keine abstrakte Bedrohung, sondern brutale Realität: auf der Straße, in Schulen, online und selbst an Schutzorten wie Synagogen. Diese Entwicklung darf weder verharmlost noch als Randerscheinung abgetan werden. Antisemitismus ist ein Angriff auf die Sicherheit von Menschen und auf die demokratische Substanz unseres Landes.“ Der Bericht macht deutlich: Antisemitismus ist in Niedersachsen weiterhin präsent, vielfältig und anpassungsfähig. Für viele Jüdinnen und Juden ist er ein Teil ihres Alltags – ein Zustand, der nicht hinnehmbar ist.

Statements zum Jahresbericht RIAS Niedersachsen 2024

„Der dramatische Anstieg antisemitischer Vorfälle in Niedersachsen – um 86 Prozent – ist ein alarmierendes Signal. Antisemitismus war 2024 für viele Jüdinnen und Juden keine abstrakte Bedrohung, sondern brutale Realität: auf der Straße, in Schulen, online und selbst an Schutzorten wie Synagogen. Diese Entwicklung darf weder verharmlost noch als Randerscheinung abgetan werden. Antisemitismus ist ein Angriff auf die Sicherheit von Menschen und auf die demokratische Substanz unseres Landes.“

Katarzyna Miszkiel-Deppe – Leiterin der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus in Niedersachsen (RIAS Niedersachsen)

„Wer glaubt, Judenhass sei eine Sache der Vergangenheit, irrt: der vierte Jahresbericht von RIAS Niedersachsen zeigt die Allgegenwärtigkeit antisemitischer Vorfälle und weist auf die gestiegenen persönlichen Erfahrungen von judenfeindlichen Anfeindungen, Bedrohungen, Gewalt. Trotz aller transdisziplinären Kenntnisse und Forschung zu den Motiven, Ursachen, Zusammenhängen von Judenhass, scheint die immer wiederkehrende Entmenschlichung, Entindividualisierung, Entwürdigung von jüdischem Leben davon abgekoppelt zu sein. Wie kann es Juden und Jüdinnen gelingen, einigermaßen sicher zu leben? Die jüngsten Kriege, Krisen, globalen und regionalen Gewaltvorfälle laden ein, die daraus entstehenden Ängste mit Aggressionen zu erwidern, sich abzuschotten, zu misstrauen und nur das Eigene, Vertraute als richtig zu bezeichnen. Je mehr das Eigene verteidigt wird, muss das Fremde abgespalten, als unheimlich und schlecht erlebt werden. In diesen polarisierten, hoch emotional aufgeladenen Zuständen kann Kritik weder in die eine noch in die andere Richtung fruchten, im Gegenteil: sie befördert die Spaltung. Einzig die Bereitschaft, sich (selbst-)reflexiv mit sich selbst und dem Anderen auseinanderzusetzen, sich den Geschehnissen aus einer menschlichen Perspektive zu nähern, ein Mitfühlen mit dem Leid der Anderen, kann Annäherung und Miteinander erzeugen.Wieder einmal könnten wir im Grunde genommen dasselbe schreiben wie in den vergangenen Jahren – leider. Der neue Jahresbericht von RIAS Niedersachsen dokumentiert einen erneut drastischen Anstieg antisemitischer Vorfälle. Dabei fällt besonders auf, dass die antisemitischen Straftaten deutlich brutaler und gefährlicher für Jüdinnen und Juden in Niedersachsen und in ganz Deutschland verübt werden.“

Prof. Dr. Claire Schaub-Moore; Erste Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Oldenburg K.d.ö.R.

„Diese Eskalation ist alarmierend. Es reicht nicht mehr, Antisemitismus lediglich zu verurteilen oder routinemäßig Betroffenheit zu äußern. Wir müssen uns ernsthaft fragen, ob der bisherige Umgang mit antisemitischen Straftaten noch angemessen ist – oder ob es nicht längst an der Zeit ist, deutlich rigoroser dagegen vorzugehen. Strafverfolgung, Prävention und politische Konsequenz müssen endlich Priorität haben – bevor sich noch mehr Menschen aus Angst aus dem öffentlichen Leben zurückziehen.“

Michael Grünberg – Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Osnabrück, Stellvertretender Vorsitzender des niedersächsischen Landesverbandes der jüdischen Gemeinden, Direktoriumsmitglied des Zentralrates der Juden in Deutschland

„Der Jahresbericht RIAS Niedersachsen zeigt: Antisemitismus zeigt sich in vielen Formen und ist in allen Teilen der Gesellschaft präsent – offen oder subtil, analog oder digital. Gerade deshalb ist entschlossenes Handeln gefragt. Es reicht nicht, Antisemitismus nur zu erkennen – wir müssen aktiv dagegen wirken, in alle Teile der Gesellschaft hinein und besonders auch im digitalen Raum, wo sich Vorurteile und Hass besonders schnell verbreiten. Das Portal „Jüdisches Niedersachsen online“ leistet in diesem Zusammenhang einen wichtigen Beitrag. Es macht jüdisches Leben, Geschichte und Kultur sichtbar und fördert so ein tieferes Verständnis – ein entscheidender Schritt im Kampf gegen Vorurteile und Ausgrenzung. Nur gemeinsam können wir neue Ansätze entwickeln und nachhaltige Lösungen finden. Gegen Antisemitismus zu stehen, bedeutet, Verantwortung für eine demokratische und offene Gesellschaft zu übernehmen – tagtäglich und überall.“

Prof. Dr. Cord-Friedrich Berghahn, Präsident des Israel Jacobson Netzwerks für jüdische Kultur und Geschichte e.V.

„In den letzten Wochen erreichen mich fast täglich Meldungen über antisemitische Provokationen, Belästigungen vor allem durch Palästinenser und ihre Freunde in Niedersachen und oft auch schlichte, plumpe Unbedachtsamkeiten im Kontakt mit Jüdinnen und Juden.  Da wird z.B. eine Veranstaltung mit einem berühmten israelischen Soziologen massiv von Störern bedroht, sodass die Polizei einschreiten muss. Da wird ein offen antisemitischer Rapper zu einem großen, populären Konzert eingeladen und den Einladenden war das Problem nicht bewusst. Da treten Unterstützer eines Boykotts Israels mit einem Zuschuss des Bundes auf einem Konzert auf – und niemand hat das ernst genommen, obwohl so etwas laut Beschluss des Bundestages nicht erlaubt ist. Und da versammeln sich jeden Samstag Sympathisanten Palästinas am Bahnhof Hannover und brüllen hanebüchene Parolen gegen Israel und gegen Jüdinnen und Juden. Der Antisemitismus wächst und wächst. Judenhass gehört in Deutschland muss entschlossener bekämpft werden – auf allen Ebenen.“

Gerhard Wegner– Niedersächsischer Landesbeauftragter gegen Antisemitismus und für den Schutz jüdischen Lebens

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