Geschlecht, Rassismus, Antisemitismus (2018)
Wie konnte es dem NSU gelingen, über Jahre mordend durchs Land zu ziehen, während die Polizei in migrantischen Milieus nach den Täter*innen von zehn Morden und zwei Brandanschlägen ermittelte? Wie ist es möglich, dass bei einer Rasterfahndung in der rechten Szene in Nürnberg nach den NSU-Morden alle Frauen ausgenommen wurden, um sich Arbeit zu ersparen? Wie konnten Beate Zschäpe und anderen Frauen im Unterstützer*innenumfeld des NSU sich über eine so lange Zeit erfolgreich als „unpolitisch“, „ahnungslos“ oder „harmlose Freundin von…“ inszenieren? Und warum wird auch noch in aktuellen rechtsterroristischen Fällen – wie Freital, Nauen oder der „Old School Society“ — das rassistische Motiv der beteiligten Frauen übersehen?
Zum Ende des NSU-Prozess am Münchner Landgericht gibt die Fachstelle Gender, GMF und Rechtsextremismus mit ihrer neuen Publikation „Le_rstellen im NSU-Komplex“ Antworten auf all diese Fragen. Die Broschüre arbeitet das Verhältnis von Geschlecht, Rechtsextremismus und deren öffentlicher Wahrnehmung auf. Dazu hat die Fachstelle das NSU-Verfahren von Anfang an begleitet und die Fehlwahrnehmung von rechten Frauen durch Sicherheitsbehörden und Sozialarbeit kritisch reflektiert. Die Broschüre bietet außerdem eine geschlechtersensible Analyse der Medienberichterstattung und Filme über den NSU. Eine weitere Leerstelle, die aufgearbeitet wird, ist die Rolle von Antisemitismus bei der Radikalisierung der NSU-Mitglieder. Dieser spielte bislang in keinem Bericht der Untersuchungsausschüsse eine eigenständige Rolle. Nicht zuletzt zeigen sich blinde Flecken der Ermittlungen, weil sich struktureller Rassismus und Geschlechter-Stereotype wechselseitig bedingen.
Aber die Broschüre bleibt nicht bei der Analyse der vielfachen Missstände in Prozess und medialer Berichterstattung stehen. In Interviews erklären die Nebenklageanwältin Antonia von der Behrens und der Gewerbetreibende Arif, der das Nagelbombenattentat in der Kölner Keupstraße überlebte, wie notwendigen Konsequenzen und Strategien der Aufarbeitung aussehen. Mit dieser Publikation werden Le_rstellen sichtbar gemacht – und gefüllt. Denn das Ende des NSU-Prozesses darf nicht das Ende der gesellschaftlichen Aufklärung bedeuten.
Inhaltsübersicht:
- Eine Chronik des NSU-Prozesses
- Die Berichterstattung über Beate Zschäpe
- Frauen im Umfeld des NSU
- Die Gender-Bias im psychologischen Gutachten über Beate Zschäpe
- Warum eine geschlechterreflektierte und intersektionale Aufarbeitung des NSU-Komplex notwendig ist
- Ein Gespräch mit der Nebenklageanwältin Antonia von Behrens über den Prozess und die Notwendigkeit, weiter Aufklärungsarbeit zu leisten
Die Handreichung wurde nach dem Urteil im NSU-Prozess ergänzt durch den folgenden Einleger: 438 Verhandlungstage sind nicht das Ende der Aufklärung. Zum Urteil im ersten NSU-Prozess