Der Nahostkonflikt und die Haltung zu Israel sind wahrscheinlich der größte Widerspruch zwischen rassismus- und antisemitismuskritischen Aktivist:innen. Aus Sicht von Rosa Fava, Leiterin von ju:an, der Praxisstelle Antisemitismus- und rassismuskritische Jugendarbeit der Amadeu Antonio Stiftung, überlagern sich dabei mehrere Problemfelder: Die Ausblendung „unpassender“ Realitäten, Begriffslosigkeit und Unwillen zur Kommunikation, soziale Trennungen und identitäre Positionierungen.
Da hat man zugesagt, einen Artikel über einen der zentralen Streitpunkte zwischen rassismus- und antisemitismuskritischen Akteur:innen zu schreiben, den „Nahost-“ oder „Israel-Palästina-Konflikt“, und dann startet Russland einen Krieg gegen die Ukraine und alle Aufmerksamkeit, die allgemeine und die eigene, scheint woanders platziert. Aber die Verbindungen ergeben sich von selbst: „Dasselbe erleben die Palästinenser seit 74 Jahren“, so und ähnlich lauten Stellungnahmen angesichts der Situation in der Ukraine, die in antirassistischen Foren kursieren, etwa in einem Clip eines ägyptischen Sportstars. Dass das kurze Video nicht von einer unterdrückten Stimme stammt, sondern auf einem mit der Hamas, den Muslimbrüdern und Katar in Verbindung stehender Sender ausgestrahlt wurde, wird dabei nicht erwähnt.
Vor kurzem war „dasselbe“, was „in Palästina“ herrsche, noch Apartheid wie in Südafrika: Viele in der antirassistischen Szene freuten sich über den Bericht von Amnesty International Anfang Februar, in dem versucht wird nachzuweisen, dass ein „System der Apartheid gegen die palästinensische Bevölkerung in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten“ bestehe. Es sind dieselben Kanäle palästinasolidarischer Aktivist:innen, über die zunächst die eine, dann die andere „Information“ gestreut wird. Hat man vor wenigen Wochen also noch lernen sollen, dass in Israel und im besetzten Westjordanland (und im nicht besetzten Gaza irgendwie auch) Apartheid herrsche, die rassistisch motivierte und gewaltsam aufrechterhaltene absolute Trennung einer unterdrückten von einer anderen Bevölkerungsgruppe, lernt man nun: Seit 1948 herrschen Invasion und Angriffskrieg.
Was denn nun, Apartheid oder permanenter Überfall? Und wieso seit 74 Jahren israelische Invasion, wenn es die Armeen arabischer Staaten waren, die 1948 in das gerade gegründete Israel sowie die Gebiete, die laut Teilungsplan ein palästinensischer Staat hätten werden können, einfielen? Bis 1967 waren der Gazastreifen und die Westbank ägyptisch besetzt bzw. ein Teil Jordaniens, ein gutes Viertel von 74 Jahren. Und wieso leben bei 74 Jahren Invasion noch Menschen in den palästinensischen Gebieten, wenn in der Ukraine nach wenigen Tagen schon Hunderttausende aus dem Land geflüchtet waren? Nicht einmal, wenn man quasi in Echtzeit den militärischen Überfall eines Staates auf einen anderen und den resultierenden Krieg beobachten kann, gelingt es vielen Aktiven der hiesigen antirassistischen Solidaritätsbewegung mit Palästinenser:innen, die Unterschiede zu sehen und überhaupt klare Begriffe zu finden. Wo waren die Anschläge und der Raketenbeschuss seitens der Ukraine, wie sie den Luftangriffen Israels auf Gaza regelmäßig vorangehen, oder eine vergleichbare Aggression?
Emotionalisierende Rhetorik und fehlende analytische Begriffe
Realitätsbezogene Fragen werden nicht gestellt und korrekte Begriffe gar nicht erst gesucht. Die aktuelle „dasselbe“ und „genauso“-Rhetorik zielt, wie immer, auf Emotionalisierung, evoziert dazu das Bild eines zeitlosen, immerwährenden palästinensischen Opferstatus‘ und will gar keine konkrete Analyse leisten. Beim Apartheidbegriff ist das anders: Denjenigen, die Israel als einen Apartheidstaat definieren wollen, geht es darum, dem Land im Sinne des Internationalen Rechts ein Verbrechen gegen die Menschheit zuzuschreiben, das die UNO-Staaten zum Eingreifen zwingt; sie wissen sehr genau, warum sie diesen Terminus wählen. Vielen in der Solidaritätsszene dürfte das nicht bewusst sein. Der Begriff erscheint plausibel, weil es tatsächlich keinen eigenen und treffenden Begriff für die Situation der Palästinenser:innen gibt, die im Westjordanland und Ostjerusalem seit Jahrzehnten unter Besatzung und Militärrecht bzw. unter palästinensischer Selbstverwaltung ohne Souveränität leben. Passende Bezeichnungen lassen sich auch nicht einfach übernehmen. Die Liste von Territorialkonflikten und umstrittenen und/oder besetzen Gebieten, mit denen die Situation analytisch verglichen werden könnte, ist zwar lang, aber niemand macht den Vergleich beispielsweise mit der Situation in der Westsahara oder Nordzypern. Stattdessen werden in der antirassistischen Bewegung ausschließlich Rassismus und Kolonialismus zur Kennzeichnung der Lage genannt, die Grundlagen der Apartheid in Südafrika und in Namibia unter südafrikanischer Herrschaft (bis 1990). „Rassismus“, „Apartheid“ und „Kolonialismus“ sind dabei aber zu Schablonen und Chiffren degradiert, um Israel als „böse“ und alleinigen Aggressor erscheinen zu lassen.
Vereinfachungen im Antirassismus
Das Fehlen konkreter Analysen geht mit weiteren Vereinfachungen einher, die die jüngere antirassistische Palästina-Solidaritätsbewegung prägen. In der älteren, vielfach noch aktiven, internationalistischen Solidaritätsbewegung wurden stärker politologische Begriffe und Kategorien verwendet, die sich meist auf marxistische Grundlagen beriefen und Machtkonstellationen im Kontext des Ost-West-Konflikts betrachteten. Das war und ist nicht alles klüger, und meist fehlten konkrete Analysen außerhalb der „alles westlicher Kapitalismus und Imperialismus“-Schablone genauso wie heute.
In einem wichtigen Aspekt aber gab es Unterschiede: Die linke antiimperialistische Szene differenzierte palästinensische Akteur:innen und beurteilte sie nach ihren proklamierten sozialen und politischen Zielen. Die Befreiung von der israelischen Besatzung wurde nicht allein als nationale Befreiung eines völkisch definierten Kollektivs gedacht, sondern auch als Emanzipation von Klassenherrschaft, patriarchalen und anderen Zwängen. Solidarität wurde daher vor allem mit denjenigen palästinensischen Akteur:innen praktiziert, die nominell zumindest soziale Gegensätze kritisierten und allgemeine Herrschaftskritik übten. Die „soziale Frage“ war der „nationalen Sache“ untergeordnet, aber es gab sie noch.
Race und Nation statt Klassenkampf
Der Internationalismus betrachtete den israelisch-palästinensischen Konflikt unter ähnlichen Kategorien wie beispielsweise den Nordirlandkonflikt, die baskische Unabhängigkeitsbewegung oder den türkisch-kurdischen Konflikt. Teilweise wurden auch diese als koloniale Gegensätze beschrieben, in denen regionale Entwicklungsunterschiede (Industrialisierung versus agrarische Struktur) mit sprachlichen und/oder kulturellen und/oder religiösen Unterschieden sowie separaten nationalen Selbstverständnissen zwischen herrschender und unterdrückter Klasse zusammenfielen, aber es wurde keine Schwarz/Weiß-Dichotomie aufgemacht. So wurde zwar immer schon entweder Israel selbst als imperialistischer Aggressor verstanden oder als Vorposten der imperialistischen Hauptmacht USA, aber erst im antirassistischen Paradigma wird aus den Gegensätzen eine Differenz von Races, die der Apartheidbegriff braucht.
Die internationalistische Solidaritätsbewegung begrüßte immer die Zusammenarbeit israelischer und arabischer Aktivist:innen beispielsweise in Gewerkschaften, um gemeinsam „die Kapitalisten“ zu schwächen, während der aktuelle Antirassismus Boykotte gegen israelische Firmen betreibt, die die Entlassung von palästinensischen Arbeiter:innen zur Folge haben.
In der aktuellen antirassistischen Solidaritätsszene wird die Gründung Israels allein auf die Einwanderung „weißer Juden aus Europa“ zurückgeführt, die zwar durchaus als Opfer des Holocaust gesehen werden, aber eine unrechtmäßige Fremd-Herrschaft über eine als indigen und of Color verstandene arabisch-palästinensische und/oder muslimische Bevölkerung installiert hätten. Die inneren Herrschaftsverhältnisse in der palästinensischen Gesellschaft interessieren heute nicht mehr, die Positionen der politischen Akteur:innen auch nicht, alles geht in den Kategorien „weiße Kolonisatoren“ versus „Kolonisierte of Color“ unter. Daher fällt es der aktuellen Solidaritätsbewegung so leicht, auch die Existenz Israels als Besatzung zu sehen, und die Kritik an der Besatzung und Besatzungspraktiken verschwimmen zur Kritik am Bestehen Israels: Weiße dürfen außerhalb Europas keine Souveränität besitzen.
Während die linke antiimperialistische Bewegung doch noch Widerstände gegen zu viel Nationalismus aufbrachte, gibt es seit der fast vollständigen Umdeutung des israelisch-palästinensischen Konflikts zu einem Kampf von Kolonisierten gegen White Supremacy keine Resilienz mehr gegen rassistisch grundierte nationalistische palästinensische Narrative. Die Nähe zum Islamismus, der keine jüdische Souveränität auf „islamischem Boden“ duldet oder gleich gar keine Juden:Jüdinnen, wird dabei nicht einmal zur Kenntnis genommen. Während es gegen die Beteiligung der türkischen Grauen Wölfe auf Kundgebungen noch Kritik und Ausschlussmaßnahmen gibt, werden Slogans eines aggressiven palästinensischen Nationalismus mitgetragen: „From the river to the sea / Palestine will be free.“ Woher Slogans und Symbole stammen, interessiert nur die Gegenseite.
Begriffs- und Interesselosigkeit seitens antisemitismuskritischer Akteur:innen
Die Begriffslosigkeit jedoch besteht auch auf der anderen Seite, antisemitismuskritische und in der Regel damit verbunden israelsolidarische Aktive haben ebenso keine treffende Bezeichnung für die Lage von Palästinenser:innen in Westjordanland und Ostjerusalem. Hier geht es den Akteur:innen meistens darum, zu belegen, dass und warum die Kennzeichnung Israels als Apartheidstaat antisemitisch ist, mit der konkreten Situation vor Ort und der Frage, wie sie zu bezeichnen sei, befassen sie sich aber ebenfalls selten. Oft findet sich in den Stellungnahmen der gegen Antisemitismus Aktiven nicht einmal die Unterscheidung zwischen Israel und dem Westjordanland, sondern es wird lediglich belegt, warum Israel eine Demokratie ist, dort wie überall rassistische Verhältnisse bestehen, aber bei Weitem keine Apartheid.
Falls einmal die Rede auf das Westjordanland und Ostjerusalem kommt, werden zurecht israelische Sicherheitsbedürfnisse als Hintergrund für militärisch durchgesetzte Kontrollen und Trennungen angeführt, immer wieder vorkommende Menschenrechtsverletzungen auch mal kritisiert, aber es gibt kein Bemühen, die Situation auf den Begriff zu bringen. Weder interessiert sich das Anti-Antisemitismus-Milieu überhaupt merklich für die Lage der Menschen in den A-, B- und C-Zonen, in die das Westjordanland geteilt ist, noch finden überhaupt politologische Kategorien viel Verwendung. Stattdessen argumentieren die meisten auf Ebene von, auch unterschiedlichen, Antisemitismustheorien und -definitionen. Diese sind gar nicht dafür gedacht, den politischen Gegensatz zu fassen oder eine Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse zu leisten.
Genauso sprachlos reagieren viele Akteur:innen der Antisemitismuskritik auf die Tatsache, dass ein Großteil der palästinensisch-deutschen Bevölkerung auf teilweise mehrfache Flucht und Vertreibung in den arabisch-israelischen Kriegen zurückgeht, empathielos sowieso: Es wird, von einigen pädagogischen Materialien zum Nahostkonflikt abgesehen, nie zum Thema, wie das Unrecht und die Gewalterfahrungen – die gar nicht immer durch die israelische Staatsgewalt oder das Militär erfolgten – anerkannt werden können. Die antisemitischen Implikationen der Forderung nach „Rückkehrrecht” werden skandalisiert, ohne ein Wort über Kompensationen zu verlieren. Antisemitismuskritische Akteur:innen wissen viel über den Antisemitismus arabischer und/oder muslimischer Politiker und seine – mutmaßliche – Bedeutung im Konflikt. Wie die Mainstreammedien sehen sie in hiesigen Kundgebungen aber nur potenziell islamistische Muslime am Wirken, keine Menschen, deren Familien vor Jahrzehnten alles verloren haben und die sich eine Existenz aufbauen mussten, als „Willkommenskultur” nicht einmal denkbar war.
Soziale Trennungen der Akteur:innen
Diese zwar unterschiedliche, aber beidseitige Begriffslosigkeit – hier ein falscher Begriff, dort das Fehlen eines Begriffs – führt oft zu gegenseitigen Beschimpfungen, die Sprachlosigkeit und nicht selten den Unwillen zur Kommunikation verdecken. Dies wurde hier nur beispielhaft für den Apartheidbegriff skizziert, gilt aber seit Jahrzehnten für jedes Ereignis im israelisch-palästinensischen Konflikt und im Kampf Israels gegen unterschiedliche Feinde, die angeblich zum Wohle der Palästinenser:innen und im Sinne einer arabischen bzw. islamischen Solidarität handelten. Was die Sprachlosigkeit noch bestärkt, sind die sozialen Trennungen zwischen vielen Aktiven. In der Antisemitismuskritik kommen die meisten Akteur:innen sehr viel stärker als bei der Rassismuskritik aus weiß-deutschen Milieus und bringen keine oder kaum eigene Diskriminierungs-, kollektive Gewalt- oder auch Verfolgungserfahrungen mit – eine soziale Trennungslinie, die in die sachbezogenen Auseinandersetzungen vielfältig hineinwirkt.
Lange Zeit standen sich in den hiesigen Israel/Palästina-Auseinandersetzungen weiß-deutsche Protagonist:innen gegenüber, die mit unterschiedlichen historischen, aktuellen und theoretischen Bezugnahmen argumentierten und dabei meist dichotome Solidarisierungen vollzogen: Entweder mit „den Juden in Israel als Überlebenden des Holocaust als Verbrechen der eigenen Groß/Eltern“ oder mit „den Palästinensern als am meisten unterdrücktem Volk und Opfer der Opfer“. Schon immer lautete der Vorwurf der einen Seite, die „Israelsolidarität“ verhalte sich ignorant und rassistisch gegenüber den Palästinenser:innen, und die Kritik der anderen Seite, die „Palästinasolidarität“ schiebe die Palästinenser:innen nur vor und verbräme damit den eigenen Antisemitismus und reproduziere ihn neu als sekundären, gegen Israel gewandten. So kreisen beide Pole auf die eine oder andere Art um das deutsche Verbrechen Auschwitz und seine Nachwirkungen, und der tatsächliche Konflikt wird für beide zur Projektionsfläche.
Ethnisierung politischer Positionierungen
Seitdem der Antirassismus stärker als früher zu einer sozialen Bewegung von Betroffenen geworden und von Aktiven getragen ist, die die eigene Rassismuserfahrung als politischen Ausgangspunkt wählen und ihn oft auch mit unterschiedlichen kollektiven Identifikationen (als Migrant:innen, Schwarze, People of Color, …) und Narrationen verbinden, hat sich die Situation verändert. Zwar gibt es bei Weitem keine 1:1-Solidarisierung, aber oberflächlich betrachtet erscheint nun vielfach die „antirassistische Palästinasolidarität“ als international ausgerichtete „Migrantifa“, in der auch immer mehr palästinensisch-deutsche Gruppen mitwirken — die „anti-antisemitische Israelsolidarität“ wird zum weiß-deutsches Überbleibsel. Seitdem in der Antisemitismus- und auch in der Rassismuskritik mehr Juden:Jüdinnen wirksam und sichtbar werden, ergeben sich stärker als zuvor neue Kraftfelder in der Polarisierung, weil jüdische und auch israelisch-deutsche Aktive sich auf beiden Seiten engagieren.
Die Überlagerung der Gruppenzugehörigkeiten mit politischen Positionen trägt zu Verhärtungen im Diskurs und neuen Formen von Sprachlosigkeit bei. Dabei ergeben sich stellenweise besondere Paradoxien: So gibt es die Zurückweisung einer weiß-deutschen „Israelsolidarität“ durch Juden:Jüdinnen mit dem Argument: ‚Von Deutschen mit Großvater in der Wehrmacht lasse ich mir nicht erklären, was Antisemitismus ist‘. Dies erleben weiße Deutsche oft als eine Art Schock, der sie sprachlos macht. Viele erfahren zum ersten Mal, was eine Reduktion auf Herkunft heißt, was die Entindividualisierung bedeutet, die mit der Zuschreibung eines kollektiven Merkmals und Fremdzuweisung in eine nationale Gruppe einhergeht. Weiße Deutsche sind es nicht gewohnt, ihr individuelles Denken, Fühlen und Handeln als Funktion ihrer Herkunft entwertet zu sehen und nichts weiter als eine deutsche Stimme zu sein. Und gleichzeitig befassen sich viele Deutsche mit Vorfahr:innen in Wehrmacht und Bund Deutscher Mädel tatsächlich gerade deshalb mit Antisemitismus, sehen sich zur Solidarität mit Juden:Jüdinnen verpflichtet und beziehen dies auch auf Israel.
Was hier passiert, ist, dass eine machtkritische, die Definitionsmacht der marginalisierten Gruppe stärkende Haltung auch auf das Verhältnis zwischen Juden:Jüdinnen und nichtjüdischen Deutschen übertragen wird: Gemäß der Maxime, sich als Person of Color nicht von Weißen Rassismus oder als Frau nicht von Männern Sexismus erklären zu lassen, oder als weiße Person Schwarze nicht in Rassismus zu dozieren und als Mann in Sachen Sexismus auch einmal den Mund zu halten, erwarten Juden*Jüdinnen nun von nichtjüdischen Deutschen, paternalistisches Verhalten zu unterlassen. Grotesk wird es aber, wenn jemand, mit welchen Großeltern auch immer, einer Person auf einer Kundgebung entgegenruft, dass sie mit ihrem Wehrmachtsopa mal ganz still sein solle – diese Person aber aus einer Familie von Holocaustüberlebenden kommt und „dennoch” genauso aussieht wie weiße Deutsche. Das vereinfachende Farbschema aktueller ‘Gesellschaftsanalyse’ erweist sich einmal mehr als wenig tragfähig.
Familienbiografie als Schicksal
Diese Zuspitzungen der letzten Jahre und Paradoxien in den hiesigen Auseinandersetzungen um den Nahostkonflikt, die aus Begriffs- und Sprachlosigkeit Sprechverbote machen, beruhen auf problematischen Vorstellungen von Identität.
Im Antirassismus werden zwar sowohl das Weißsein als auch das Rassifiziertsein, aufbauend auf historisch gewachsenen Verhältnissen, als durch Sozialisation und auch durch kollektive transgenerationelle Prägung bedingt beschrieben. Zunehmend aber wird die sich so entwickelnde Identität als genauso fest verstanden wie Natur oder Kultur in rassistischen Ideologien: Als eine unhintergehbare Wesenhaftigkeit. Oder Schicksal, wie die Rechten es nennen. Individualität und Interaktion mit sich verändernden gesellschaftlichen Verhältnissen sind nicht mehr denkbar. Familienbiografische Bezüge sind im identitätspolitischen Denken nicht mehr oder weniger prägende Größen, zu denen die Individuen sich unterschiedlich verhalten, sondern sie werden zu Determinanten.
So werden Palästinenser:innen zu ewigen Opfern der Gründung Israels als angeblich kolonial-rassistischem Akt stilisiert und alle anderen von Rassismus Betroffenen zu ihren ‚natürlichen‘ Bündnispartner:innen. Deutsche stehen diesem Weltbild zufolge wegen Wehrmacht und Weißsein ohnehin auf der Täter-Seite, Israelis und Juden:Jüdinnen wird zugestanden, sich für die eine oder andere Seite zu entscheiden. Auch ohne Bezugnahme auf antirassistische Diskurse und Kategorien teilen viele Deutsche aus einer selbstkritischen Sicht eine nationale Identifikation mit Wehrmacht und Täterschaft und missverstehen dies als kollektive Familienbiografie und Haftung qua Abstammung. Dies gerade auch deshalb, weil Rechte diese staatsbürgerschaftlich gestiftete Bindung, die jedoch auch die Deutsche mit deutsch-jüdischer Großmutter und den Deutschen mit einem türkischen Gastarbeiter als Großvater umfasst, immer aggressiver abstreifen wollen. Das identitäre Denken in Abstammungskategorien ist kein Problem allein des aktuellen Antirassismus, wie oft dargestellt, daher greift es überall.
Mehr Sachkontroverse, weniger Identität
Mit Blick auf den Streit rund um Israel/Palästina, Rassismus und Antisemitismus bedeutet das, Schicksalsgemeinschaften zu verlassen und im Bewusstsein um Differenzen eine sachbezogene Auseinandersetzung zu führen. Der russische Angriff auf die Ukraine macht überdeutlich, dass einfache familienbiografische Ableitungen kollektiver Haltungen nicht möglich sind: Der eine Ur/Groß/Vater in der Wehrmacht kann in der Ukraine gemordet, der nächste das russische Leningrad / St. Petersburg ausgehungert und der dritte in Belarus die Dörfer dem Erdboden gleich gemacht haben – aber auch mit ukrainischen Kollaborateuren ein Konzentrationslager bewacht oder mit russischen Truppen den „jüdischen Bolschewismus“ bekämpft haben. In einer Nation haben nicht alle dieselbe Geschichte. Politische Haltungen gegenüber einem Gegenstand wie dem aktuellen russischen Krieg gegen die Ukraine ergeben sich aus politischen Kategorien, in einem Prozess, in dem auch durch Zugehörigkeiten und Familienbiografie beeinflusste Emotionen und Solidarisierungen reflektiert werden müssen. Determiniert ist niemand, und wer mitreden will in Sachen Israel/Palästina und dabei aktiv sein gegen Rassismus und Antisemitismus, muss mehr tun, als auf die eigene und der anderen Hautfarbe oder Stammbaum zu gucken – ohne beides zu vergessen.