An einem sonnigen Wochenende im April kam es zu einer Premiere im Nord-Berliner Stadtteil Heiligensee: Am Zeltlagerplatz fand zum ersten Mal ein säkular-jüdisches Kinderferienlager statt. Organisiert wurde die Kinderferienfreizeit vom Berliner Ortsverein von Hashomer Hatzair Deutschland e.V., ein Verein, der sich vor knapp zehn Jahren in Deutschland wiedergegründet hat. Wir haben das Zeltlager besucht und uns im Gespräch mit der Vorsitzenden Nitzan Menagem darüber unterhalten, warum dieses einzigartige Angebot für jüdische und nicht-jüdische Menschen so wichtig ist. Die Amadeu Antonio Stiftung unterstützte das Projekt mit einer Förderung.
Eine integrative Kinder- und Jugendfreizeit
Feiertagszeit bedeutet auch Ferienzeit und was passt da besser als ein gelungenes Zeltlager für Kinder und Jugendliche? Deswegen fand vom 8. bis zum 10. April ein Pessach-Machane statt, ein Pfadfinderlager, um den jüdischen Feiertag Pessach in der Natur feiern. Zum Abschluss des Wochenendes fand ein feierlicher Empfang statt, bei dem das Pessach-Fest zusammen mit Community und Partner:innen gefeiert wurde. Veranstaltet wurde das Pessach-Machane (Plural Machanot) in diesem Fall durch die Berliner Ortsgruppe von Hashomer Hatzair Deutschland e.V., einer internationalen, säkular-jüdischen Jugendbewegung. Neben dem Zeltlager im Freien gehörten gemeinsame Spiele und themenbezogene Kreativ- und Bildungsworkshops zum Programm, zum Beispiel zum Thema Feminismus.
Was ist nun an dem Angebot von Hashomer Hatzair so besonders? An dem Wochenende konnten jüdische (und nichtjüdische) Kinder und Jugendliche teilnehmen, ein nahezu einzigartiges Angebot und gleichzeitig so wichtig für die Identitätsbildung, beispielsweise patrilinearer Jüdinnen:Juden, die traditionellerweise nicht auf Machanot der jüdischen Gemeinden in Deutschland mitfahren können, weil laut jüdischem Gesetz (Halacha) nur Kinder einer jüdischen Mutter als jüdisch gelten. Die Organisation steht ganz im Zeichen, Kindern und Jugendlichen zu vermitteln, Fragen zu stellen, einen gesunden kritischen Umgang zu lernen und das Gemeinschaftswohl stets im Auge zu behalten. Die Vorsitzende des Vereins Nitzan Menagem erklärt uns, dass dem Verein die Prinzipien eines humanistischen Judentums zugrunde liegen: „Unsere Gemeinschaft bei Hashomer Hatzair setzt sich aus einem gemeinsamen Gefühl der Zugehörigkeit und einem geteilten Schicksal zusammen. Viele sind hier willkommen. Und im Laufe der Jahre haben wir gemerkt, dass nichtreligiöse Jüdinnen:Juden in Berlin regelrecht auf der Suche nach einem Anlaufpunkt wie Hashomer Hatzair sind.“
Wir haben ein paar Eindrücke vom Zeltlagerplatz Heiligensee gesammelt: Ein perfekter Ort für Jugendliche um, – ganz nach dem Grundsatz von Hashomer Hatzair – selbst Aktivitäten planen und durchführen zu können. Ihr Motto: „Sei stark und mutig! Gegen Faschismus und jede Ungerechtigkeit in unserer Gesellschaft“. Die Vorstandsvorsitzende selbst beschreibt das Feriencamp folgendermaßen: „Unser Pessach-Machane war für mich persönlich eines der absoluten Highlights unserer Arbeit für Hashomer Hatzair Deutschland. Sich darüber bewusst zu werden, dass hier zum ersten Mal seit den 1930er Jahren eine Ferienfreizeit unseres Vereins stattfindet, hat mir wirklich Gänsehaut bereitet. Die Kinder waren glücklich, die Jugendlichen zufrieden mit ihrer Arbeit – dann ging es mir als Leiterin mindestens genauso gut. Ein voller Erfolg, der Hoffnung macht!“
Jüdisches Empowerment in progressiven Kreisen: Endlich!
Gerade dieses Empowerment unterschiedlicher jüdischer Identitäten hat es gebraucht. Laut Nitzan Menagem leben in Berlin bspw. viele internationale Familien mit einem Bezug zu jüdischem Leben, den sie jedoch teilweise nicht in den Gemeinden ausleben können. „Viele Israelis – nicht-religiöse, aber auch binationale Paare bspw. – wollen ihren Kindern progressive jüdische Werte vermitteln, abseits von Verboten“, erklärt sie uns.
Damit es langfristig gelingt, jüdisches Leben auch in nicht-konfessionellen Kreisen zu stärken und festigen braucht Hashomer Hatzair auch die Unterstützung von anderen progressiven Akteur:innen. Die Jugendorganisation der SJD – Die Falken bspw. befürwortete und unterstützte die Wiedergründung des Vereins nachdrücklich. Jüdisches Leben spielt sich in Deutschland oft in eher konservativen oder religiös-geprägten Umfeldern ab. Dass Humanismus oder Progressivität und Judentum sehr gut zusammenpassen und viele Gemeinsamkeiten haben, beweist Hashomer Hatzair mittlerweile auch in Berlin: Solidarität zum Beispiel ist ein jüdischer Grundsatz, der sich in anderen progressiven Konzepten wiederfindet oder auch die jüdische Idee von immer wieder neuem Lernen: ein progressiver Weiterentwicklungsgedanke, der sich eben auch bei Organisationen wie der SJD – Die Falken widerspiegelt.
Starke jüdische Identitäten für eine Gesellschaft der Vielen
Dass vor der Shoah säkulares Judentum fester Teil jüdischen Lebens in Deutschland gewesen ist, wird durch die Erforschung der Geschichte des Vereins Hashomer Hatzair Deutschland deutlich. Mehr zu unserem Geschichtsprojekt findet ihr auch auf unseren Social-Media-Kanälen (Link). Dass Jüdinnen:Juden in Deutschland ihr Judentum auch als Lebenseinstellung und nicht (nur) als Konfession ausleben können müssen, wird zwar durch die wichtige Arbeits des Vereins zu Tage getragen, doch letztendlich ist es auch eine Aufgabe der deutschen Mehrheitsgesellschaft, dies erst möglich zu machen: Wir müssen diverse Biografien respektieren und als solche gesellschaftlich teilhaben lassen sowie intersektionale Identitäten unterstützen, indem wir ihren Beitrag wahrnehmen und würdigen.
Die Förderung des Pessach-Machanes durch die Amadeu Antonio Stiftung zielt daher nicht allein darauf, die Organisation Hashomer Hatzair Deutschland e.V. zu unterstützen, sie zielt gleichzeitig darauf, jüdisches Leben in Deutschland sichtbarer zu machen, unterschiedlichen Biografien einen Raum zu bieten und diesen Biografien die Möglichkeit zu geben, zur Gesellschaft beizutragen. Denn letztendlich muss unsere Gesellschaft auf Basis integrativer und diverser Konzepte solidarischer gestaltet werden. Oder in den Worten Nitzan Menagems: „Ich wünsche uns für die Zukunft, dass wir noch mehr solidarische, Safer Spaces schaffen können!“