Struktureller Antisemitismus wird oft nicht als Antisemitismus erkannt und daher oft nicht ernst genommen. Dabei gibt es gerade in manchen linken Weltbildern strukturelle Affinitäten zu antisemitischen Denkmustern. Dass es oft nur ein kleiner Schritt von der strukturellen Ähnlichkeit zum offenen Antisemitismus ist, zeigt das Beispiel DDR.
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Der Kampf gegen Antisemitismus ist auch ein Kampf um den Begriff. Auf das Benennen von Antisemitismus folgen regelmäßig Abwehr- und Bagatellisierungen. Immer wieder werden in der öffentlichen Debatte wissenschaftlich gestützte Bestimmungen von Antisemitismus angefochten und in Frage gestellt – insbesondere, wenn es um weniger explizite Ausprägungen geht. Entgegen der erdrückenden Beweislast der theoretischen und empirischen Antisemitismusforschung will man den Antisemitismusbegriff einengen und bestimmte Ausprägungen des Hasses auf Juden und Jüdinnen – z.B. den israelbezogenen – schönreden. Solche Strategien der Umdeutung, Bagatellisierung und Leugnung gehören, wie die Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel unlängst konstatierte, untrennbar zum gegenwärtigen Antisemitismus dazu. Motiv für solche Abwehrstrategien sind nicht zwingend eigene antisemitische Ressentiments– auch Unwissenheit, Naivität oder die Sympathie mit bestimmten ideologischen Weltbildern können eine Rolle spielen. Jedoch behindert ein falscher, verkürzter oder begrenzter Begriff von Antisemitismus, der gerade auch in Teilen des linken Spektrums verbreitet ist, auf fatale Weise seine nachhaltige und langfristige Bekämpfung.
Zu den häufig in Frage gestellten oder mit Skepsis begegneten Varianten gehört auch der strukturelle Antisemitismus. Ist es nicht übertrieben, eine bestimmte Denk- oder Argumentationsstruktur als antisemitisch zu bezeichnen – nämlich dann, wenn gar nicht von Juden und Jüdinnen die Rede ist? Entleert das nicht den Antisemitismusbegriff, fragen kritische Stimmen. Sie sehen vom „eigentlichen Kernproblem“ abgelenkt, das, je nach Standpunkt, wahlweise bei Rechtsextremen oder bei vermeintlich eingewanderten Islamist*innen liegt. Der strukturelle Antisemitismus ist aber – ähnlich wie der israelbezogene— auch in politisch weitaus weniger radikalen Milieus verbreitet, er kann etwa mit linken, globalismus- und kapitalismuskritischen, ökologischen, esoterischen und verschwörungsgläubigen Weltbildern einhergehen. Die Kritik strukturell antisemitischer Elemente solcher Weltbilder trifft daher viel stärker das Selbstverständnis breiter Teile der Gesellschaft und mobilisiert umso mehr Abwehrreflexe.
Das macht den strukturellen Antisemitismus jedoch nicht weniger gefährlich – im Gegenteil. Wie schnell sich aus einem strukturell antisemitischen Weltbild ganz manifester, offener Antisemitismus wird, zeigt ein Beispiel aus der deutschen Geschichte: die DDR.
Die Staatsideologie des Marxismus-Leninismus, die sowohl in der DDR, als auch in der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten dominierte, legitimierte eine Reihe von antisemitischen Repressionen, Verfolgungen und Ressentiments – und das, obwohl sich die „antifaschistische“ DDR vorgenommen hatte, den Antisemitismus „mit Stumpf und Stiel“ auszurotten. Der Grund für diesen scheinbaren Widerspruch liegt in der „strukturellen Affinität“ des Marxismus-Leninismus zu antisemitischen Denkmustern, die der Soziologe Thomas Haury Antisemitismus von links eindrücklich analysiert hat.
Den Marxismus-Leninismus kennzeichnete eine von Lenin und Stalin weiterentwickelte Lesart der Marxschen Analyse der kapitalistischen Ökonomie, die mit der ursprünglichen Theorie von Karl Marx jedoch kaum noch Gemeinsamkeiten hatte. Der Kapitalismus wurde darin als eine weltweite, bösartige Verschwörung einiger weniger „parasitärer Finanzkapitalisten“ interpretiert. Er sei auch die Wurzel des räuberischen Imperialismus, der sich andere Länder untertan mache. Dem gegenüber stünde, so die Logik des Marxismus-Leninismus, das gute, „werktätige Volk“.
Karl Marx‘ Kritik der politischen Ökonomie zielte eigentlich darauf, die Beziehungen zwischen Menschen im Kapitalismus als ein vom gesellschaftlichen Verhältnis der Warenwerte bestimmtes zu betrachten. „Kapitalisten“ und „Lohnarbeiter“ bestimmte Marx nicht als natürliche Kategorien, sondern als „Charaktermasken“, also als Personifikationen ökonomischer Verhältnisse. Der Marxismus-Leninismus jedoch tendierte im Gegensatz dazu, die kapitalistischen Produktions- und Reproduktionsverhältnisse, vor allem die Geld- und Finanzsphäre zu personalisieren. Das heißt: Konkreten Personen wurde die Schuld an der abstrakten und undurchschaubaren Herrschaft des Kapitals gegeben.
Damit sind einige zentrale Gemeinsamkeiten mit dem antisemitischen Weltbild benannt: Der Marxismus-Leninismus ist eine manichäische, personalisierende Weltdeutung mit verschwörungsideologischen Zügen. Das heißt: Die Ideologie des Marxismus-Leninismus versuchte, komplexe und unverstandene ökonomische Zusammenhänge dualistisch aufzulösen und dabei insbesondere zwischen einem angeblich guten, produktiven, „schaffenden“ Kapital und einem schlechten, mehrwertproduzierenden, „raffenden“ Kapital zu unterscheiden. Weltdeutungen wie diese sind paradigmatisch für die moderne antisemitische Denkstruktur, wie etwa Moishe Postone herausgearbeitet hat. Im modernen Antisemitismus werden Juden und Jüdinnen mit dem Kapitalismus identifiziert, für die Schaffung von Mehrwert und die Ausbeutung der Arbeiter*innen verantwortlich gemacht. Das hat auch historische Gründe: Da es Juden und Jüdinnen im christlichen Mittelalter in der Regel verboten war, Handwerk auszuüben und Christen wiederum kein Geld verleihen durften, mussten sich viele Juden und Jüdinnen zwangsläufig im Handel und der Zinswirtschaft betätigen.
Darüber hinaus hat der Marxismus-Leninismus, wie auch die antisemitische Weltanschauung, den Charakter einer umfassenden Welterklärung, die jedoch verschwörungsmythische Züge trägt. Beiden Ideologien ist gemein, dass sie hinter dem ökonomisch-politischen System anonyme, konspirative Mächte vermuten, die einerseits potentiell unfassbar sind und andererseits an konkrete personifizierte Feindbilder – an Banker*innen, Börsenspekulant*innen oder eben Monopolkapitalist*innen – gebunden werden müssen.
Zusätzlich zu diesen Strukturähnlichkeiten wurde der Marxismus-Leninismus in der jungen DDR durch einen überschwänglichen Nationalismus ergänzt. Problematisch war vor allem die Bezugnahme der SED auf das „deutsche Volk“, das, so Thomas Haury, als ein quasinatürliches ethnisches Kollektiv gedacht und an die Stelle des Proletariats gesetzt wurde. Der Gegenspieler jenes „ehrlichen“, „werktätigen Volkes“ war in der Diktion des marxistisch-leninistischen Antiimperialismus der weltweite Imperialismus.
Allerdings blieb es nicht allein bei der strukturellen Ähnlichkeit zwischen Marxismus-Leninismus und Antisemitismus. Schon Begrifflichkeiten und Vorstellungen wie die „globale Klasse der Finanzkapitalisten“, welche die „Völker unterjoche“, ähnelten nicht nur tradierten antisemitischen Stereotypen, sondern wurden auch tatsächlich mit antisemitischen Vorstellungen belegt: die imperialistische Klasse, so die von der Sowjetunion übernommene Diktion der SED, sei ein anationales, kosmopolitisch-wurzelloses und parasitäres, also unproduktives Anti-Volk. Mit eben solchen antisemitischen Metaphern der „Bodenferne“ und der Unproduktivität waren Juden und Jüdinnen seit Beginn der Moderne assoziiert worden.
Aber das Feindbild der international agierenden, zersetzenden „Finanzhyänen“ wurde auch auf „Zionisten“ ausgeweitet: Denn der nationaljüdische Zionismus galt im antiimperialistischen Weltbild als eine Form des aggressiv-chauvinistischen Imperialismus. „Die zionistische Bewegung“, so erklärte der führende SED-Funktionär Erich Ament im Jahr 1953, „hat nichts gemein mit Zielen der Humanität und wahrhafter Menschlichkeit. Sie wird beherrscht, gelenkt und befehligt vom US-Imperialismus, dient ausschließlich seinen Interessen und den Interessen der jüdischen Kapitalisten“. Das alte Stereotyp des zersetzenden Juden wurde so im zionistischen Agenten wiedergeboren.
Auf diese Weise konnten manifeste antisemitische Ressentiments über den Umweg des Antizionismus auch ganz explizit geäußert werden – ohne sich auf die ethnisch-rassistische Kategorie des Juden, wie sie der völkische Antisemitismus propagierte, zu beziehen. In der historischen Realität wurden alle Juden und Jüdinnen, ungeachtet ihrer Stellung zum Zionismus, unter Generalverdacht gestellt, Zionist*innen zu sein. Die Voraussetzung für diesen umstandslosen „Einbau“ des antisemitischen Antizionismus in den Marxismus-Leninismus bildete ihre Strukturähnlichkeit.
Während die antizionistischen Motive in der Sowjetunion an tradierte antisemitische Ressentiments aus dem russischen Zarenreich anknüpfen konnten, fielen diese in weiten Teilen der DDR-Gesellschaft auf einen deutschen Boden, der noch durchtränkt war von den antisemitischen Ressentiments des Nationalsozialismus. Obwohl der Antisemitismus kein dezidiertes Element der realsozialistischen Weltanschauung war, obwohl der Antizionismus zum Teil auch aus strategischen Gründen im Kalten Krieg forciert wurde, und obwohl die Geschichte der Juden und Jüdinnen in der DDR eine wesentlich komplexere ist, als die Geschichte von Repression und Antisemitismus erzählen könnte: Aufgrund eben jener strukturellen Affinität des marxistisch-leninistischen Weltbilds zur antisemitischen Denkstruktur war es selbst in einem sich „antifaschistisch“ verstehenden Staat möglich, dass Juden und Jüdinnen in den 1950er Jahren einer Reihe von Repressionen, Amtsenthebungs- und Berufsverbotsverfahren, Verhaftungen und Strafverfolgungsprozessen ausgesetzt waren.
Dieser „kleine Schritt“ vom strukturellen Antisemitismus zu mehr oder weniger offen antisemitischen Repressionen ist der Grund, weshalb struktureller Antisemitismus nicht unterschätzt werden darf. Leider sind sowohl Formen der personalisierenden Kapitalismus-„Kritik“ als auch Elemente eines manichäischen Antiimperialismus noch heute in vielen linken Bewegungen zu finden und bilden hier und da sogar deren Grundmotiv. Man findet sie nicht nur im orthodoxen linken Spektrum, sondern auch in globalisierungskritischen und ökologischen Kreisen, bis hin zu Teilen der postkolonialen Theorie, in der der „Westen“ und alles, was mit ihm verbunden ist, auf manichäische Weise als das imperialistische Böse schlechthin markiert und abgewertet wird. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird im Rahmen solcher Weltdeutungen, die antisemitischen Denkstrukturen ähneln, ganz automatisch auch ein Antizionismus gepflegt, da der jüdische Staat Israel dem imperialistischen Westen zugeschlagen wird. Schon ist aus der Strukturähnlichkeit ein Ressentiment geworden. Es verwundert nicht, dass solche antisemitismus-affinen antiimperialistischen Denkmuster inzwischen auch unter rechtspopulistischen und –extremen Akteur*innen verbreitet sind, wie Samuel Salzborn aufgezeigt hat. Ein ideologie- und antisemitismuskritischer Blick, auch auf vermeintlich „gesellschaftskritische“ Weltanschauungen aller Art, ist wichtig, um deren blinde Flecken für strukturell antisemitische Argumentationen zu enttarnen.