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Tatort Bobstadt: 33 Tage im Gerichtssaal mit dem Reichsbürger

Vor dem Oberlandesgericht Stuttgart wurde der „Reichsbürger“ Ingo K. aus Bobstadt am 15. November 2023 wegen versuchten Mordes zu einer Haftstrafe von 14 Jahren und sechs Monaten verurteilt. Als im April 2022 das SEK anrückte, um die Wohnung von Ingo K. wegen des Verdachts des unerlaubten Waffenbesitzes zu durchsuchen, begann der Mann um sich zu schießen und verletzte einen Beamten.

Timo Büchner besuchte alle 33 Prozesstage, um das Verfahren für Belltower.News zu dokumentieren. Nun ist die Broschüre „Tatort Bobstadt“ erschienen, die die Amadeu Antonio Stiftung gefördert hat. Im Interview spricht Büchner über seine Eindrücke vom Angeklagten und darüber, wie er die Atmosphäre in Stammheim erlebt hat.

Du hast alle 33 Prozesstage beobachtet. Warum?
Timo Büchner: Ich recherchiere seit einigen Jahren zur extremen Rechten in Baden-Württemberg. Insofern interessiere ich mich für die lokalen und regionalen Verbindungen des Milieus. Die Tat vom 20. April war brutal, sie hätte in einem regelrechten Massaker enden können. Für mich war klar, dass ich mich mit den Hintergründen beschäftigen muss. Denn es deutete sich an, dass im Prozess viel über die Verbindungen zur extremen Rechten bekannt werden würde. Und nach 33 Prozesstagen denke ich, die Annahme hat sich bestätigt. Viele Details wurden über Ingo K., seine politischen Aktivitäten und sein politisches Umfeld bekannt: über seine Ideologie und seine Beziehung zur Vermieterfamilie A. aus Bobstadt.

Am frühen Morgen des 20. April 2022 wollte die Polizei eine illegale Schusswaffe des „Reichsbürgers“ Ingo K. in Bobstadt einziehen. Als das SEK versuchte, einen Rollladen seiner Terrassentür mit einem Trennschleifer zu öffnen, fielen Schüsse. Nach mehr als 30 Prozesstagen ist das Oberlandesgericht Stuttgart überzeugt: K. hat auf Grundlage seiner „Reichsbürger“-Ideologie geschossen, um mehrere SEK-Beamte zu töten.

Hat sich der enorme Zeitaufwand gelohnt?
Ja, definitiv. Ich habe nicht nur vieles über Ingo K., sondern auch über die Arbeit der Exekutive und Judikative gelernt. Darüber, wie die Ermittlungen der Polizei und die Durchführung eines derart komplexen Prozesses funktioniert.

Wie läuft so ein Verfahren vor Ort praktisch ab?
Die Kontrollen, die am Eingang des Oberlandesgerichts durchgeführt werden, sind sehr streng. Man geht durch eine Schleuse und wird abgetastet. Die persönlichen Gegenstände, auch das Handy, werden eingeschlossen. Mit einem Presseausweis sind Stifte und Papier bzw. ein Laptop erlaubt. Im Sitzungssaal ist das Publikum mit einer Glasscheibe vom Rest des Saales abgetrennt. Eine weitere Scheibe trennt den Angeklagten von den Richter*innen, der Staatsanwaltschaft und den Verteidiger*innen ab. Seine Verteidigung konnte durch eine Art Luke mit Ingo K. sprechen. Während der Verhandlung selbst hatte der Angeklagte die Möglichkeit, über ein Mikro und ein Headset mit der Verteidigung zu sprechen.

Haben viele Journalist*innen den Prozess begleitet?
Vom medialen Interesse bin ich enttäuscht. Klar, am Prozessauftakt waren Medien vor Ort und haben berichtet. Aber bereits am zweiten Prozesstag, als Ingo K. über seine Biografie sprach, sank die Anwesenheit rapide. Die Kameras waren weg, es waren kaum Journalist*innen im Saal. Es gab im Laufe des Prozesses sehr viele Tage, an denen ich komplett alleine im Publikum saß. Das ist in Anbetracht der Brutalität und der Schwere des Falles ein Armutszeugnis. Die seltene Präsenz anderer Medien hat mich nicht entmutigt, sondern bestärkt. Gerade, weil das Interesse so gering war, fand ich die Dokumentation der einzelnen Prozesstage so wichtig.

Wie hast Du Ingo K. im Prozessverlauf erlebt?
Ich hatte den Eindruck, dass er stets, wenn er von zwei Polizisten in den Sitzungssaal geführt wurde, witzelte. Einige Male blickte er ins Publikum, grinste, nickte, winkte. Oft zuckte er mit den Wimpern, kraulte in seinem Bart. Ich hatte den Eindruck, Ingo K. ließ vieles kalt. Beispielsweise, als das Gericht den Videozusammenschnitt der SEK-Helmkameras zeigte oder die Bundesanwaltschaft eine lebenslängliche Haftstrafe forderte. Der Angeklagte blieb regungslos. Ich erinnere mich an zwei Prozessmomente, in denen deutlich wurde, wie schnell K. in den Konfrontationsmodus schalten konnte. Einmal musste der Vorsitzende Richter, einmal seine Verteidigerin, den Angeklagten bremsen. Das waren interessante Momente, weil sie von seinem übrigen Auftreten abwich. Denn meist bemühte er sich um Höflichkeit.

Welchen Eindruck hast Du von seiner Verteidigung gewonnen?
Ich war, ganz persönlich gesagt, erleichtert. Denn prinzipiell hätten die Verteidiger*innen die Möglichkeit gehabt, den Prozessverlauf zu behindern, zu stören, den Prozess zu strapazieren, in die Länge zu ziehen. Die Störungen blieben aus. Bis heute frage ich mich, ob die Verteidigung eine Strategie hatte und falls ja, was die war. In Anbetracht einzelner Nachfragen, die Sachverständigen und Zeug*innen gestellt wurden, und des Plädoyers der Verteidigung habe ich den Eindruck gewonnen: Es gab keine sinnige, stringente Strategie. Klar war stets: Die Lage ist erdrückend. Eine konsistente Strategie zu entwickeln, war schwer.

Wie hast Du den Strafsenat und die Bundesanwaltschaft wahrgenommen?
Sowohl der Senat als auch die Vertreter*innen der Bundesanwaltschaft traten äußerst konzentriert und überlegt auf. Der Senat war mit einem Vorsitzenden Richter und mehreren Richter*innen besetzt. Die Herausforderung war, neben der Bearbeitung des Falls, das juristische Prozedere zu beachten. Schließlich kann ein Verstoß gegen die Strafprozessordnung das Ende (bzw. den Neustart) des Prozesses bedeuten. Insofern war das penible Vorgehen des Senats durchaus spannend zu beobachten.

Der Vorsitzende Richter erklärt, die Anklagepunkte der Bundesanwaltschaft seien „weitestgehend bestätigt“. Er führt aus, man habe vier Taten, darunter zwei Fälle des versuchten Mordes, festgestellt. Der Tatkomplex sei ein „schwer fassbares, ungemein komplexes Geschehen“ und ein „in vielerlei Hinsicht außergewöhnlicher Fall“. Außergewöhnlich – wegen Ingo K.s Persönlichkeit und Radikalisierung sowie wegen der Dichte und Schwere der Taten. Der Vorsitzende Richter merkt an, „die Taten lassen einen noch immer erschaudern“, und sie zeigten, wohin Radikalisierung und Staatsablehnung führen können. Er spricht vom „blanken und grenzenlosen Hass“. Dann fügt er hinzu: „Es grenzt an ein Wunder“, dass nur zwei SEK-Beamte verletzt wurden. Schließlich habe Ingo K. einen „Kugelhagel mit mehr als 40 Schüssen“ abgegeben.

Was bleibt Dir vom Prozess besonders im Gedächtnis?
Vieles. Der Videozusammenschnitt der SEK-Helmkameras, die Aussage des verletzten SEK-Beamten, die anonymisiert in den Sitzungssaal übertragen wurde, die Aussagen der Familie A., die absurd und entlarvend waren, das Video der Erstvernehmung von Ingo K., die nur wenige Stunden nach seiner Festnahme stattgefunden hatte, die Audios der Telefonate von Ingo K. Ganz allgemein aber auch: Die Atmosphäre im Sitzungssaal, die Momente, als der Angeklagte herein- und herausgeführt wurde.

Warum hast Du die Broschüre „Tatort Bobstadt“, die nun erschienen ist, geschrieben?
Am Fall Ingo K. wird in erschreckender Weise deutlich, wie sich Menschen, beeinflusst von privaten und politischen Krisen, radikalisieren können. Der Vorsitzende Richter sagte im Urteil, die Radikalisierung sei langsam verlaufen. Recht hat er – aber auch nicht. Die Radikalisierung verlief, insgesamt betrachtet, langsam. Seine Ideologien gärten über Jahre hinweg. Aber die Radikalisierung verlief auch schnell, atemberaubend schnell. Nämlich in der letzten Phase. Zwischen dem Umzug nach Bobstadt und den Schüssen lagen nur wenige Monate. Wir müssen besser verstehen, wie ein Radikalisierungsprozess abläuft. Welche Phasen der Mensch durchläuft, wie die Phasen ihn verändern.

Die Broschüre „Tatort Bobstadt. Was am 20. April 2022 geschah“ (Recherche Nordwürttemberg), ein gefördertes Projekt der Amadeu Antonio Stiftung, kann als Print kostenlos bestellt (recherche-nordwuerttemberg@posteo.de) und als PDF abgerufen werden.

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