In der Nacht vom 17. November 1990 starb ein fünfjähriges Kind bei einem Brandanschlag auf ein Wohnhaus in der bayerischen Stadt Kempten. Gegen 2:45 Uhr drangen Unbekannte in das Wohnhaus ein, verschütteten und entzündeten eine brennbare Flüssigkeit vor zwei Wohnungen im zweiten und dritten Stock. Die sechsköpfige Familie S. lebte damals mit anderen Bewohner:innen türkischer Herkunft in dem dreistöckigen Haus am Rande der Kemptener Innenstadt. Die Familie wurde durch das Feuer geweckt. Die Hausbewohner:innen konnten sich größtenteils durch Sprünge aus den Fenstern retten – einige verletzten sich dabei schwer. Ein Familienmitglied versuchte noch vergeblich, seinen fünfjährigen Bruder zu retten. Das jüngste Mitglied der Familie S. wurde von der Feuerwehr aus dem noch brennenden Haus gebracht und starb kurze Zeit später im Krankenhaus an den Folgen einer Rauchvergiftung.
Trotz Bekennerschreiben ermittelte die Polizei im Wohnumfeld
Kurz nach dem Brand bekam die Allgäuer Zeitung ein Schreiben zugeschickt, in dem sich eine selbsternannte „Anti Kanaken Front Kempten“ zu dem Brand bekannte. In dem Schreiben, das mit Runen und Hakenkreuzen verziert war, hieß es: Der „von uns verübte, sehr erfolgreiche Anschlag auf das von Türken bewohnte Haus in der Füssener Straße war erst der Anfang.“ Und weiter: „Wir werden nicht ruhen, bis Kempten von allen undeutschen Kreaturen befreit ist.“
Die Polizei nahm nach dem Brandanschlag die Ermittlungen auf – jedoch nicht wegen Mordes oder Totschlag, sondern nur wegen Brandstiftung. Trotz des Bekennerschreibens wurde von den Behörden im Wohnumfeld der Betroffenen ermittelt, da sie von einem Streit unter Nachbar:innen ausgingen – ein ähnliches Verhalten wie bei den Ermittlungen zu den NSU-Morden. Wenige Häuser vom Tatort entfernt wohnte damals ein bekannter Neonazi – auch er wurde durch die Staatsanwaltschaft nicht überprüft. Die Ermittlungen führten zu keinem Ergebnis und wurden schließlich im August 1992 eingestellt.
Ermittlungen nach Recherchen wieder aufgenommen
Nachdem der Tagesspiegel und Zeit Online den Fall Anfang Oktober 2020 in ihrer Langzeitrecherche zu Todesopfern rechter Gewalt genannt und zu dem Bekennerschreiben recherchiert hatten, nahm die Generalstaatsanwaltschaft München die Ermittlungen wieder auf. Es wurde eine Sonderkommission gebildet, der Tatvorwurf lautet nun nicht mehr Brandstiftung, sondern Mord. Auch steht das Bekennerschreiben nun im Fokus der Ermittlungen. Die Polizei wendete sich mit einem Zeug:innenaufruf an die Öffentlichkeit.
Nur durch die Recherchen von Zeit Online, Tagesspiegel und der Initiative Allgäu rechtsaußen erfuhr die Familie S. 30 Jahre nach der Tat, dass ihr Sohn und Bruder womöglich Opfer eines rechtsextremen Anschlags geworden ist.
Bis die Ermittlungen weitere Erkenntnisse hervorbringen, wird der Mord in der Chronik der Todesopfer rechter Gewalt als Verdachtsfall geführt.