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Vom gewohnten und ungewohnten Umgang


Eine ehrliche und lebendige Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus war Ziel eines Modellprojektes, das die Stiftung von 2007 bis 2010 zusammen mit Partnerorganisationen in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt durchgeführt hat.

Im Mittelpunkt des Projekts „Lokale Geschichte sichtbar machen“ standen die lokale Geschichte des Nationalsozialismus und der nationalsozialistischen Verbrechen – und die unterschiedlichen Auseinandersetzungen mit der Geschichte in den zwei deutschen Nachkriegsstaaten. Die lokale Geschichte der Shoah heißt nicht, zum Beispiel, dass wir uns hier mit Menschen beschäftigten, die in Magdeburg andere Menschen effizient, systematisch und im industriellen Ausmaß ermordet haben. Nein, die Vernichtungsstätten waren oft woanders – wenn auch nicht so weit weg, wie wir es manchmal glauben, um nur die Euthanasie-Anstalt in Bernburg zu erwähnen. Aber hier in Magdeburg gab es Menschen, die in der Verwaltung, bei der Polizei und weiteren Sicherheitskräften gearbeitet haben, es gab Menschen, die weggeschaut haben, und viele Menschen, die von der Arisierung profitiert haben. Somit hatten alle ihren lokalen Anteil an den Massenmord an Jüdinnen und Juden.

Die hiesige Geschichte der Täter

Es gab auch Nachbarn und Nachbarinnen, die von anderen Magdeburgern und Magdeburgerinnen verraten, gesetzlich beraubt, entrechtet und deportiert wurden. Die hiesige Geschichte der Täterinnen und Täter, der Mitläuferinnen und Mitläufer und der Menschen, die zu Opfern gemacht wurden, ist ein wichtiger Teil des Projekts. Hinzu kommt ein weiterer, auch wesentlicher Aspekt: Im Modellprojekt wollten wir uns auch die Erinnerungskultur anschauen. Wir wollten herausfinden und darüber nachdenken, wie die Gesellschaft, die lokale Gesellschaft im Kontext der zwei Nachkriegsstaaten, mit dieser Geschichte umgegangen ist.

Der letzte Weg?

Mit „Erinnerungskultur“ meine ich alles, von den Schulbüchern und Lehrplänen über Stammtischweisheiten und familiären Erzählungen bis hin zu offiziellen Gedenktagen, Gedenkveranstaltungen und Ausstellungen. Erinnerungskultur ist nicht immer, aber manchmal schon, in Stein gemeißelt, wie in den folgenden zwei Beispielen aus meiner lokalen Erinnerungslandschaft in Berlin. In Moabit, im ehemaligen West Berlin, gibt es eine Gedenktafel aus dem Jahr 1960, die lautet:

An dieser Stätte stand eine Synagoge. Sie wurde in der Schreckensnacht des 9. November 1938 zerstört. Von hier aus mussten in den Jahren des Nationalsozialismus viele unserer jüdischen Mitbürger ihren letzten Weg antreten. Ihr Andenken ist unvergessen.

Ich könnte einiges zu diesem Text sagen, zum Beispiel, dass die Synagoge erst 1956 abgerissen wurde, aber auf eine Sache möchte ich besonders aufmerksam machen: „Von hier aus mussten viele unserer jüdischen Mitbürger ihren letzten Weg antreten.“ Da stellt sich die Frage: was ist dieser „letzte Weg“? Wieso mussten sie? Warum, wohin? Wer hat sie dazu gezwungen? Sehr auffällig finde ich, dass „viele unserer jüdischen Mitbürger“ es taten: sie traten ihren letzten Weg an. Weitere Subjekte gibt es in dieser Geschichte laut Tafel nicht.

Das Volk wartet?

Ein zweites Beispiel, diesmal in Marzahn, also im ehemaligen Ost Berlin. Ein Gedenkstein von 1986 trägt die Inschrift:

Von Mai 1936 bis zur Befreiung unseres Volkes durch die ruhmreiche Sowjetarmee litten in einem Zwangslager unweit dieser Stätte hunderte Angehörige der SINTI / Ehre den Opfern

In Moabit heißt es am Ende: Ihr Andenken ist unvergessen, hier Ehre den Opfern. Aber was erzählt dieser Stein? „Von Mai 1936 bis zur Befreiung unseres Volkes…“ das scheint hier die Hauptgeschichte zu sein: Ein Volk, das deutsche Volk, wartet auf Befreiung, und die Befreiung wird durch die Sowjetarmee, anscheinend im Alleingang, herbeigeführt. Der Satz suggeriert, die Sinti gehören nicht zu uns. Es heißt „hunderte Angehörige der Sinti litten“— derweil wartete das deutsche, also „unser“ Volk auf Befreiung durch die ruhmreiche Sowjetarmee. Dass das Volk nicht nur wartete, dass es Zuständige gab für das Leiden der Sinti in Marzahn oder dass die Jüdinnen und Juden aus Moabit nicht einfach so in den Tod gegangen sind, all das erzählen die Gedenktafel nicht, machen es nicht klar.

Verzerrungen, Auslassungen und Unaufrichtigkeiten

Das Projekt beschäftigte sich mit Erinnerungskultur, weil die Geschichte nicht 1945 einfach aufhört und weil die Erinnerungskultur sehr viel über den Stand der Auseinandersetzung aussagt. Das Projekt beschäftigte sich explizit mit den Erinnerungskulturen im Osten und im Westen, da diese Gegenüberstellung beispielhaft die unterschiedlichen Verzerrungen, Auslassungen und Unaufrichtigkeiten deutlich macht. Erinnerungskultur bedeutet Gewohnheiten, also gewohnte Sprachmuster, Denkmuster. Das Komische am Gewohnten merken wir oft erst dann, wenn wir mit anderen Ohren hören.

Die Idee, die Erinnerungskulturen zu vergleichen hatte nicht viel Enthusiasmus im Projekt hervorgerufen. Es gab eher eine Scheue, eine Unlust, eine Skepsis, – außerdem gäbe es schon um die Erinnerung lokal so viel zu tun, warum sollte man da noch einen Ost-West-Vergleich machen? Ist das nicht eh alles vergangen? Doch diese Gegenüberstellung nicht zu berücksichtigen würde bedeuten, eine wichtige Chance zu verschwenden. Die Chance, mit anderen Ohren zu hören. Denn die Gegenüberstellung macht deutlich, wie politisch gefärbt die Aussage, die gewohnte Sprache ist. Und die Gegenüberstellung mag in uns eine Aufmerksamkeit für grobe und subtile Unterschiede wecken. Wie zum Beispiel wenn es plötzlich auffällt, das heute noch bei einer Gedenkveranstaltung bedauert wird, dass 1945 die jüdische Bevölkerung nicht mehr da war… Ohne ein einziges Mal zu sagen, wie es dazu kam, wer dafür verantwortlich war. Oder wenn die Formulierung „Bombenterror“ als Bezeichnung für die Luftangriffe auf deutsche Städte plötzlich uns noch peinlicher erscheint, wenn die Bezeichnung heute benutzt wird, als sei sie „neutral“.
Die Förderung für das Modellprojekt läuft Ende 2010 aus, aber das Thema bleibt wichtig und in der Stiftung auf der Agenda.

Von Andrés Nader, Projektkoordinator
Aus der Eröffnungsrede bei der Abschlussveranstaltung am 30. November 2010 in Magdeburg. Das Modellprojekt „Antisemitismus in Ost und West: Lokale Geschichte sichtbar machen“ wurde finanziert im Rahmen des Programms „VIELFALT TUT GUT. Jugend für Vielfalt, Toleranz und Demokratie“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, durch die Ford Foundation und die Freudenberg Stiftung.

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