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Anruf von der Grenze – Fluchtgeschichten von der Balkanroute

Hörer abnehmen und Fluchtgeschichten zuhören (Foto: privat/Amadeu Antonio Stiftung)

Das Projekt “Border Calls” gibt Einblick in die Fluchtgeschichten von zehn Menschen. Sie alle sind über die sogenannte Balkanroute in die EU gekommen. Ihre Geschichten sind nun hörbar, über Telefone, die an öffentlichen Orten in ganz Berlin hängen. Es sind Telefonate über Leid und Hoffnung, Schmerz und Mut – und eine EU, deren bankrotten Ideale schon lange der Vergangenheit angehören. 

von Lenard Luis Pfeuffer

Juni in Berlin. Im Kino Zukunft wird das Projekt “BorderCalls” vorgestellt. Überall hängen Telefone. Sie wirken etwas aus der Zeit gefallen. Auch erinnern sie ein bisschen an die Geräte der Telekom-Telefonzellen. Doch was hinter den Telefonen steckt, ist brandaktuell. Ein Projekt aus Berlin möchte auf das Thema Flucht aufmerksam machen. Hier ist also das eine Ende der Leitung. Doch wer ist auf der anderen Seite? Ein Freizeichen ertönt, sobald der Hörer abgenommen wird. Die Nummer 000 verbindet uns mit Tamana.

Telefonat mit Tamana

Dezember in Bosnien-Herzegowina. Tamana spricht auf Deutsch, mit nüchtern-nachdenklicher Stimme, von ihrer Odyssee nach und durch Europa. Über die sogenannte Balkanroute kam sie letztendlich in Deutschland an. Doch ihre Geschichte beginnt schon tausende Kilometer weiter östlich.

Tamana kommt aus einem kleinen Dorf aus Afghanistan. Als Mädchen darf sie keine Schule besuchen. Heimlich bringt ihre Nachbarin ihr Lesen und Schreiben bei. Englisch bringt Tamana sich selbst bei. 2016 flüchtet sie Mitte 20 schließlich mit ihrem Ehemann aus ihrer Heimat, aus Angst vor Krieg, Gewalt und den Taliban.

Über den Iran und die Türkei kommt sie in Griechenland an. Dort verbringt sie elf Monate, bis sie sich schließlich zu Fuß auf den Weg nach Mazedonien macht. Es ist ein langer, anstrengender Marsch, acht Tage ist sie unterwegs. Doch der Aufenthalt in Mazedonien ist um einiges kürzer als der beschwerliche Weg dorthin. Sie wird von der Polizei wieder zurück nach Griechenland deportiert. Also probiert sie es aufs Neue. Nach zehn Tagen kommt sie in Serbien an und verbringt zwei Wochen in einem Camp, bevor sie sich auf den Weg nach Bosnien-Herzegowina in das kleine Dorf Velika Kladuša an der bosnisch-kroatischen Grenze macht.

Der Winter in Bosnien-Herzegowina ist sehr kalt und sie möchte eigentlich gleich weiter nach Kroatien. Doch die kroatische Grenzpolizei macht ihr auf brutalste Weise einen Strich durch die Rechnung: Sie schlägt Tamana zusammen und nimmt ihr die Klamotten und das Handy weg. Ihr Fuß ist gebrochen, er wird schwarz, schwillt an. Sie muss Kroatien verlassen. Der Ort in Bosnien-Herzegowina, an dem sie ihren Schlafplatz hat, ist mehr als drei Stunden entfernt. Mit einem gebrochenen Bein macht sie sich auf den Weg zurück. Tamana muss nun den eisigen Winter, trotz Regen und Schnee, in einem Zelt verbringen. Ohne Heizung und ohne warme Kleidung verbringt sie viele Tage in der Kälte. Das Laufen wird für sie eine Art, sich warmzuhalten.

Nach acht Monaten in Bosnien-Herzegowina schafft sie es über die Grenze. Ganz anders als bisher ist der Weg von Kroatien nach Italien um einiges leichter. Sie kommt relativ schnell nach Mailand. Nun liegt noch die Alpenüberquerung vor ihr. Über einen verschneiten italienischen Pass kommt sie nach Frankreich. Es ist eine Tortur, doch Tamana ist sehr fit und schafft die Alpenüberquerung. So geht es nicht allen, die sich auf den Weg machen. Die Alpenüberquerung endet entweder lebend in Frankreich oder tot im Eis.

Über Frankreich kommt sie nach Belgien, wo sie nur einen Tag bleibt, bevor sie über einen Zwischenstopp in Köln endlich an ihrem Ziel ankommt. Dort lebt sie nun seit fast zwei Jahren. Neben einem Deutschkurs macht sie aktuell eine Ausbildung bei der Deutschen Bahn. Sie ist glücklich, auch wenn ihre Beziehung mit ihrer Familie zerbrochen ist: Tamana hat ihren Hijab abgelegt und ist auch sonst eine ganz andere Frau als die, die vor Jahren Afghanistan verlassen und sich auf den Weg nach Europa gemacht hat. Insgesamt war Tamana fünf Jahre unterwegs und wurde über 30 Mal an europäischen Grenzen abgewiesen.

Das Telefon hat auch einen Münzschlitz für Spenden. (Foto: privat/AAS)

Handwerk als Aktivismus

Pina und Lola haben den Verein “Blind-Spots” 2020 gegründet. Der Verein spezialisiert sich darauf, die provisorischen Unterkünfte von flüchtenden Menschen, sogenannte Squats, winterfest zu machen. Von Garagen über Bauruinen bis einfache Zelte, alles ist besser als die Flüchtendencamps. Das Zeltlager Lipa steht sinnbildlich für das Leid und das Elend, das allzu oft in diesen Lagern herrscht.

So kommen die beiden nach und nach in Kontakt mit vielen Menschen und vielen Schicksalen. Über Sprachnachrichten erfahren sie viel über das Leben der Flüchtenden, ihre Vergangenheit und den Entbehrungen, die sie auf sich nahmen auf der Suche nach einem besseren Leben. Sprachnachrichten als Medium gefallen den beiden. Keine Äußerlichkeiten, keine Gesichter, keine Hautfarbe. Die Menschen erzählen ihre Geschichte den Zuhörenden, frei von Vorurteilen. So kommen sie auf die Idee, Sprachnachrichten in eine Art Telefonanruf zu verwandeln. Die Hörer*innen wählen eine Nummer und am anderen Ende der Leitung ist eine Person mit Fluchtgeschichte, die selbst von ihrem Schicksal erzählt.

“Wir möchten auf die Situation aufmerksam machen. Darauf aufmerksam machen, was an den EU-Außengrenzen passiert. Tagtäglich werden Menschen “gepushbacked”, egal ob auf dem Mittelmeer oder zum Beispiel an der bosnisch-kroatischen Grenze”, sagt Lola.

Eine menschenrechtsgeleitete Asylpolitik?

Alle Menschen berichten von ihrer Flucht über die sogenannte Balkan-Route. Ein Weg, die in Vergessenheit geraten ist, seitdem die europäische Grenzpolitik die Route nahezu unpassierbar machte. Die Festung Europa zieht die Grenze schon viel früher, an den europäischen Außengrenzen. An der bulgarisch-türkischen Grenze bleiben die meisten Flüchtenden schon hängen.

Doch das ist nicht das Einzige, das sich seit 2015 und den Folgejahren geändert hat. Es sterben zwar immer noch tagtäglich Menschen auf der Flucht, vor allem im Mittelmeer (über 26.000 Tote sind es allein seit 2014), einen Aufschrei löst das aber schon lange nicht mehr aus. Vor einigen Jahren gingen noch die schrecklichen Bilder um die Welt – Bilder, wie das von Alan Kurdi, dem dreijährigen Jungen, der ertrunken an der türkischen Mittelmeerküste lag, lösten Entsetzen aus. Doch mittlerweile scheint die europäische Gesellschaft abgestumpfter. Die Menschen haben sich an das Leid an den Außengrenzen gewöhnt, auf makabere Weise gar mit ihm arrangiert. Ein Leid, dass es schon lange nicht mehr in die Nachrichten schafft, es sei denn “extrem events” passieren, wie vor einigen Wochen der Tod von mehr als 500 Menschen auf einem völlig überfüllten Flüchtlingsboot vor der griechischen Küste. Doch die Anpassung an das Leid führte nicht zu einem Umdenken oder einer Politikänderung. Im Gegenteil.

Mit der neuen GEAS-Reform wird das Asylrecht de facto abgeschafft. Die schon lange gängige Praxis der haftähnlichen Internierungslager wird legalisiert, das auf Abschottung und Pushbacks basierende europäische Grenzregime legitimiert.  Mit der Reform sollen die Asylanträge nun in Ländern wie Albanien, Tunesien oder der Türkei beantragt werden, nicht in der EU.

Zehn Menschen, zehn Schicksale – Liste der „Telefonanrufe“, die man über die Border Calls anwählen kann. (Foto: privat/Amadeu Antonio Stiftung)

Kontakt statt Backlash

Die Balkanroute ist nicht mehr die Hauptroute der Geflüchtetenbewegung gen Europa. Das liegt zum einen an der hohen Militarisierung an der europäischen Außengrenze, aber auch schlichtweg an den Preisen, die eine Flucht über den Landweg kostet. Das ist auch ein Grund, wieso die weitaus gefährlichere Mittelmeer-Route aktuell so oft genommen wird, denn sie ist im Vergleich zur Balkanroute einfach günstiger.

Auch wenn die Balkanroute heute nicht mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, büßen die Telefonate nicht an Brisanz oder Aktualität ein. Auch deswegen ist das Projekt so bemerkenswert. Weil es eindrücklich, und auf ganz neue Weise die Geschichte von Menschen darstellt, über die zwar immer viel gesprochen wird, die aber selten selbst zu Wort kommen. Die Telefonate machen Einzelschicksale sichtbar und sind auch ein Begegnungsraum zwischen komplett verschiedenen Lebensrealitäten. “Das Projekt ist ein kleines Gegengewicht zu der aktuellen Strategie, die Zivilgesellschaft von den Betroffenen abzuschneiden”, fasst Pina zusammen.

Selten war dieser Austausch wichtiger. In Deutschland, aber auch in ganz Europa, gibt es gerade einen Backlash, in dem rechtes Gedankengut  und der Hass auf flüchtende Menschen wieder salonfähig wird. Die Geschichten, die die Menschen erzählen, machen jedoch klar, dass keine*r freiwillig aus der eigenen Heimat flüchtet, dass niemand freiwillig die unmenschlichen Zustände auf der Flucht auf sich nimmt und dass jede*r ein Recht auf Asyl und körperliche Unversehrtheit besitzen muss.

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