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Aufarbeiten und Erinnern an den NSU – Erfahrungen von Betroffenen im Mittelpunkt

Vor der jungen Gemeinde Stadtmitte in Jena erinnert eine Stele an alle Opfer des NSU. © JenaKultur / Anne Müller

Vor zehn Jahren enttarnte sich der sogenannte Nationalsozialistische Untergrund selbst. Die Neonazis ermordeten zehn Menschen, begingen 43 Mordversuche, drei Bombenanschläge und zahlreiche Raubüberfälle. Viele zivilgesellschaftliche Initiativen machen deutlich, dass die Aufarbeitung der Verbrechen noch nicht beendet ist und fordern ein würdiges Gedenken an die Opfer ein. Einige dieser Initiativen unterstützt die Amadeu Antonio Stiftung mit einer Förderung. Einen Teil ihrer Arbeit, ihrer Kämpfe und Erfolge stellen wir hier vor.

Von Charlotte Sauerland

Das Kerntrio des NSU wuchs in Jena auf. Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe waren hier Teil neonazistischer Gruppen, begingen Straftaten und verfolgten Migrant:innen. Im Stadtteil Winzerla, in dem die Neonazis gelebt hatten, erinnert heute der Name eines Platzes an Enver Şimşek: Der Blumenhändler wurde im Jahr 2000 in Nürnberg als erstes Opfer vom NSU ermordet. Vor der jungen Gemeinde Stadtmitte steht zudem eine Stele, die an alle Opfer des NSU erinnert. Diese öffentlich sichtbaren Orte des Gedenkens wurden über lange Jahre von einer engagierten Zivilgesellschaft in Jena eingefordert oder selbst gestaltet. „Die Zivilgesellschaft hat gerührt und getrommelt“, erzählt Jonas Zipf, der Leiter von JenaKultur, der sich für eine Aufarbeitung der Geschichte des NSU in Jena einsetzt. Die Stadtpolitik hingegen habe sich lange zurückgehalten. „Seit dem Öffentlichwerden des NSU gab es hauptsächlich Abwehrreaktionen. Die Stadt war danach mehr damit beschäftigt, nicht öffentlich als rechts abgestempelt zu werden, als damit, wie es zu den Verbrechen des NSU kommen konnte“, bemerkt er kritisch.

Langsam ändert sich das. Im Jahr der Selbstenttarnung des NSU kommen Stadtpolitik, Zivilgesellschaft, Sozialarbeit und Wissenschaft zusammen, um eine stadtgeschichtliche Auseinandersetzung zum NSU in Jena zu führen. JenaKultur organisiert die Reihe künstlerischer und politischer Veranstaltungen gemeinsam mit der Friedrich-Schiller-Universität und dem Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft. Das Programm spiegelt die ganze Komplexität des NSU-Komplexes wieder: Neben historischen Exkursen, die Tradition und Kontinuität rechten Terrors aufzeigen, werden auch die Ergebnisse des NSU-Prozesses kritisch unter die Lupe genommen. Die Geschichten und Perspektiven ostdeutscher Menschen mit Rassismuserfahrungen sind ein zentraler Baustein der Veranstaltungsreihe. So werden zum Beispiel die Situation von ehemaligen Vertragsarbeiter:innen und Geflüchteten in den 1990ern und die Umbruchserfahrungen der Wendezeit aus nicht-weißer Perspektive diskutiert.

Erfahrungen und Widerstand von Betroffenen im Mittelpunkt

Viel zu lange wurde nur über die Täter:innen des NSU geredet, finden auch die Engagierten der Werdauer Initiative gegen Rassismus. Werdau liegt 15 km entfernt von Zwickau, wo das NSU-Kerntrio bis zuletzt untergetaucht war. „Im Zwickauer Land steht der NSU-Komplex wie ein Elefant im Raum. Wir fanden es wichtig, dass das thematisiert wird,“ beschreibt die junge Aktivistin Angelika Kim. In der Werdauer Initiative gegen Rassismus engagieren sich vor allem junge Leute. Viele von ihnen haben selbst Erfahrungen mit Rassismus gemacht. Ihre Eltern sind als vietnamesische sogenannte Vertragsarbeiter:innen oder als Spätaussiedler:innen nach Ostdeutschland gekommen. Mit Filmvorführungen und Diskussionen wollen die jungen Engagierten die Schüler:innen der Werdauer Schulen für strukturellen Rassismus und für die Perspektiven von Betroffenen von Rassismus sensibilisieren. Im Film „Der Zweite Anschlag“ stehen Betroffene im Mittelpunkt, die ihre Angehörigen durch die Anschläge der Terrorzelle verloren haben, sowie andere Menschen, die rassistische Gewalt erlebt haben.

Auch das mehrjährige Projekt „Offener Prozess“ des Vereins ASA-FF e.V. aus Chemnitz gibt vor allem Stimmen von Betroffenen Raum. In der gleichnamigen Wanderausstellung werden die Erfahrungen ehemaliger Vertragsarbeiter:innen in ostdeutschen Städten, die Lebensgeschichten und Persönlichkeiten der NSU-Opfer und die Kämpfe um die Aufarbeitung rassistischer Morde in den Blick genommen. Viele Angehörige der NSU-Opfer und andere Betroffene rassistischer Gewalt wehren sich gegen Rassismus und setzen sich aktiv für ein würdiges Gedenken ein. Dies zeigt eindrucksvoll ein filmischer Beitrag, der auf eine große Leinwand projiziert wird. Gezeigt wird die Demonstration im Jahr 2006, als Angehörige sich zusammentaten und mit der Forderung „Kein 10. Opfer“ die Verzweiflung angesichts ihrer familiären Verluste und ihre Empörung über den fehlenden Ermittlungserfolg in der Mordserie Ausdruck verliehen. Der Verdacht vieler Angehöriger, dass Neonazis hinter den Verbrechen steckten, wurde über Jahre von Behörden und Öffentlichkeit ignoriert. Auch die Bemühungen von Angehörigen und Unterstützer:innen, in Kassel eine Straße nach dem ermordeten Halit Yozgat zu benennen, werden in der Ausstellung mit einem Beitrag dokumentiert.

Wo wird erinnert? Und wie lange hält das Erinnern an?

Der NSU-Komplex heißt nicht umsonst so. „Viele Lehrer:innen oder Sozialarbeiter:innen scheuen sich, den NSU-Komplex in ihrer Bildungsarbeit zu thematisieren. Sie denken, dass sie über jedes Detail Bescheid wissen müssen“, berichtet ein Mitglied von der Bildungsinitiative Lernen aus dem NSU-Komplex (BiLaN). „Aber es geht vielmehr darum, die Zusammenhänge zu verstehen und die Geschichten der Betroffenen zu erzählen.“ Unter anderem in Workshops für Multiplikator:innen informieren die Aktivist:innen über die Biografien der Opfer, geben einen Überblick über Gedenkinitiativen und diskutieren, wie eine Zusammenarbeit mit Betroffenen aussehen kann. Sie wollen mit ihren Workshops ermutigen, selbst Bildungsarbeit zum NSU anzubieten und die Thematik in ihre jeweiligen Arbeitsbereiche zu tragen.

Auch Jonas Zipf aus Jena beschäftigt die Frage, wie es gelingen kann, die Verbrechen des NSU und die Geschichten der Opfer noch mehr in der Erinnerung einer breiten Öffentlichkeit zu verankern „Es ist schwierig in die breite Mitte der Stadt zu stoßen, über die hinaus, die eh schon interessiert sind“, schildert er. „Wir haben jetzt ein Fenster der Aufmerksamkeit aufgestoßen. Und es ist uns gelungen viele Akteure an einen Tisch zu bringen,“ erzählt Jonas Zipf. „Die Frage ist, wie nachhaltig das ist.“ Ansätze und Potenzial gibt es genug: Dieses Jahr soll beschlossen werden, dass auch eine Straßenbahnhaltestelle nach Enver Şimşek benannt wird. Der nächste Botho-Graef-Kunstpreis, der wichtigste Preis der Stadt zur Gestaltung des öffentlichen Raums durch Kunstwerke und Memorials, wird sich dem NSU widmen. „Auch, wenn der von Ayse Gülec kuratierte Wettbewerb zur Umsetzung im nächsten Jahr erst noch bevorsteht, bin ich nach der Veranstaltungsreihe in diesem Jahr zuversichtlich, dass uns auch in den nächsten Jahren in Sachen NSU-Aufarbeitung noch mehr gelingen kann. KEIN SCHLUSSSTRICH! eben“, erklärt Jonas Zipf.

Nicht lockerlassen, heißt es also für die Zivilgesellschaft. Es gibt noch viel zu tun.

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