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Kommentar

Autoritäre Bewegungen im Osten – Das Ergebnis Andauernder Abwehr

Mehr als 120 Menschen müssen sich über das Dach des Hauses retten. (Foto: Umbruch Bildarchiv)

Eine der ersten Studien zu Rechtsextremismus bei Jugendlichen in Ostdeutschland zeigte bereits in den 1990er Jahren, wie die Wissenschaftler sagen, signifikante Unterschiede zu vergleichbaren Studien über Städte im Westen. Die Frage, wieso im Osten autoritäre, rassistische und demokratiefeindliche Einstellungen so verbreitet sind, konnten die Wissenschaftler nicht beantworten. Sie maßen und erfragten, was ist, und nicht, weshalb es so ist. Die Zahlen und ihre Entwicklung sind wichtig. Sie geben über viele wichtige Details Aufschluss, doch braucht es manchmal zusätzlich zur Betrachtung durch ein Mikroskop auch einen Blick durch ein umgedrehtes Fernglas, das einen breiteren Gesamteindruck vermitteln kann, ganz besonders, wenn es um Ostdeutschland geht.

Der Kommentar von Anetta Kahane erschien ursprünglich im EFBI Digital Report #3 – Digitale Mobilisierung für den „Wutwinter“ in dem die Amadeu Antonio Stiftung in Kooperation mit dem Else-Frenkel-Brunswik-Institut (EFBI) an der Universität Leipzig rechtsextreme Strategien und Mobilisierungen in Sachsen monitoren und analysieren. Der aktuelle Bericht steht hier zum Donwload bereit.

Der Staat hat es geregelt

Ohne den historischen Kontext ist die Situation in Ostdeutschland schwer verständlich. In den Protestaktionen seit PEGIDA tauchen immer wieder die Themen „DDR“ und „Wende“ auf. Ob bei den Anti-Corona-Protesten oder bei denen gegen die Energiekrise, ob auf der Straße oder, wie hier analysiert, im Internet – überall beziehen sich die Menschen darauf. Meist geht es darum, einen neuen Umsturz wie 1989 herbeizuführen oder sich darauf zu beziehen – oder die heutige Demokratie wird als DDR 2.0 oder Stasi 2.0 diffamiert. Freiheit und Demokratie werden gefordert, doch gleichzeitig deren Abschaffung. Das entspricht auch einer ambivalenten Grundhaltung der rechten und Querfrontproteste der DDR gegenüber. Denn sie war autoritär, DDR-nationalistisch und frei von all den verhassten liberalen Errungenschaften wie Pressefreiheit, Migration oder wechselnden Mehrheiten. Allein der vermeintliche Kommunismus mit seiner Misswirtschaft und die fehlende Reisefreiheit hielten die Menschen davon ab, die DDR als eine Kleinbürgerdiktatur zu sehen, in der wesentliche Bedürfnisse durchaus befriedigt wurden. Und damit sind nicht allein die Lebensumstände gemeint wie garantierter Arbeitsplatz, kostenlose medizinische Versorgung, Kinderbetreuung etc., sondern eben auch die Bedürfnisse nach einem Leben, das frei ist von alltäglichen Widersprüchen und Eigenverantwortung. Der Staat hat es geregelt.

Dies entspricht der Sehnsucht nach dem Autoritären. Auch die DDR hatte populistische Züge – die Propaganda gegen Israel und den Westen, besonders gegen die USA, wirkt bis heute. Die DDR, ihre Politik und die Demagogie des Alltags waren darüber hinaus durchzogen von Verschwörungserzählungen aller Art. Verdächtigungen, dass hinter jeder Bewegung eigentlich etwas anderes steckt, gehörten zum Standardprogramm des Kalten Krieges und der Zeit danach. Was immer – auch im eigenen Land – geschah, konnte nach Belieben umgedeutet und zu einer Verschwörungserzählung gemacht werden. Davon lebte der Überwachungsapparat, einschließlich der Stasi. Doch dieses Misstrauen war auch unter den Menschen verbreitet. Es bildete die andere Seite jener Medaille von Gemeinschaft und gegenseitiger Hilfsbereitschaft. Auch hier waren Abweichungen nicht gern gesehen. Die Tausch- und Dienstleistungsgemeinschaft in der Mangelwirtschaft brachte auch ein eigenes, vom Staat vollkommen unabhängiges System von Konformitätsdruck und Interdependenz hervor, das auch Menschen ausschloss.

Antifaschismus als eine Art Schlussstrichpolitik

Die DDR, wenn auch dieser Teil ihres Erbes gesehen wird, hat sehr viel mit der Stimmung in Ostdeutschland heute zu tun. Es ist eben nicht allein die Schuld des „Westens“, dass die Ostdeutschen so unzufrieden sind. Und es sind keinesfalls nur ökonomische Gründe, die dies verursachen. Die Abwehr, sich mit der eigenen Geschichte, mit den eigenen Mustern zu befassen, gehört zum Komplex dieser Bewegungen dazu. Sie sind damit auch die Fortsetzung der Tatsache, dass die Aufarbeitung des Nationalsozialismus bis heute fast vollkommen ausgeblieben ist. Denn auch die DDR war nicht vom Himmel gefallen, auch sie war eine Nachfolgegesellschaft des Nationalsozialismus. Gewiss, die großen Kriegsverbrecher flohen in den Westen, doch es gab auch etliche in der DDR. Die Bevölkerung war insgesamt nicht weniger von der NS-Ideologie infiziert als die Deutschen im Westen. Und ebenso viele waren an Verbrechen beteiligt, haben davon profitiert oder sie gebilligt. Nur schätzungsweise 1 % der Bevölkerung hatte passiv oder aktiv Widerstand geleistet oder musste fliehen. Das sind ca. 170.000 Personen, von denen viele auch später in der DDR wichtige Positionen innehatten. Jedoch hatten die meisten Mitglieder der SED, Funktionärinnen und Funktionäre, Staatsbedienstete, Mitarbeitende in den Ministerien, also des Apparats, vorher keine Distanz zur NS-Ideologie. Auch die DDR wurde demnach mit Menschen aufgebaut, die antidemokratisch, rassistisch und vor allem antisemitisch sozialisiert worden waren. Die Erklärung, dass die neue Republik nun antifaschistisch wäre, änderte daran nichts.

Die NS-Vergangenheit des Ostens ist weitgehend unsichtbar

Da während der DDR darüber nicht offen gesprochen werden durfte und ein Interesse daran auch nicht vorhanden war, bildete der Antifaschismus eine Art Schlussstrichpolitik. Das bedeutet nicht, dass niemand antifaschistisch gesinnt gewesen wäre. Entsprechende Literatur traf in kulturell aufgeschlossenen Kreisen auf große Zustimmung. Doch ersetzen einige literarische Werke keine Politik des offenen Umgangs mit der Vergangenheit. Vielmehr wirkt der Hinweis darauf heute wie eine hilflose Abwehrreaktion gegenüber der Kritik an der DDR. Interessant ist es vielleicht an dieser Stelle anzumerken, dass auch im Westen der Antifaschismus offenbar ernst genommen wird. Denn wie sonst ist es zu erklären, dass hier jegliche Frage nach einer Aufarbeitung des NS fehlt? Die NS-Vergangenheit des Ostens ist in der Rezeption weitgehend unsichtbar.

Wenn also sowohl die DDR als auch der Nationalsozialismus als Quelle von Einstellungen, Sozialisation und Mustern unsichtbar bleiben, dann deutet dies auch auf eine umso stärkere Verdrängung und Abwehr hin, die sich dann in den Protesten Bahn brechen. Dass sie dabei voller Widersprüche sind, zeigen sie gerade jetzt, wenn es um Russland geht. Die Sowjetunion als Besatzung wurde in der DDR gehasst und gefürchtet. Russland als Projektionsort jedoch hatte von jeher eine enorme Anziehungskraft. Die sog. russische Seele, die Weite, das duldsame Volk und seine brutalen Herrscher faszinierten die Deutschen. Ihre Sehnsucht wandte sich gen Osten, sehr viel mehr als nach Westen. Deutschlands Drang nach Osten war auch immer ein Statement gegen die westliche Moderne – auch das ein Erbe vieler Generationen.

Wenn wir also heute auf die Diagramme und Zahlen der Entwicklung rechter Räume in den sozialen Netzwerken und der Straße schauen, ist es wichtig, sie nicht nur für sich allein zu betrachten. Der Kontext von Kon- tinuitäten, Sozialisation und Einstellungen macht plausibler, was in Ostdeutschland vorgeht. Es ist sehr wichtig, hier genauer hinzuschauen, um zu verstehen und vielleicht sogar für die künftige Arbeit neue Strategien zu entwickeln.

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