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Besetzt oder befreit? Schüler*innen erarbeiten Ausstellung zu den letzten Kriegstagen in Leipzig

Anlässlich des 80. Jahrestags des Ende des Zweiten Weltkriegs haben Schüler*innen des Leipziger Gerda Taro Gymnasiums eine Ausstellung zu den letzten Kriegstagen in der Stadt erarbeitet. Fotos: Markus Ulbricht; Vera Ohlendorf

Wie lässt sich die Zeit des Nationalsozialismus 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges an Jugendliche vermitteln? Ein Projekt des Gerda-Taro-Gymnasiums Leipzig verbindet selbstständige Lernformen und Stadtgeschichte.

Von Vera Ohlendorf

Am 18. April 1945 beginnt die Einnahme der Stadt Leipzig durch US-Infanterietruppen. Wehrmachtseinheiten und Volkssturm-Kämpfer verschanzen sich im Rathaus, im Hauptbahnhof, im Völkerschlachtdenkmal und an anderen Orten im Stadtgebiet. Letzte Kämpfe dauern bis zum 20. April 1945, es gibt zahlreiche Tote. Dann weht die US-Flagge über dem Neuen Rathaus. Zehn Tage zuvor hatte der letzte alliierte Bombenangriff auf Leipzig stattgefunden.

25 Schüler*innen der Klassenstufen zehn und elf des Gerda-Taro-Gymnasiums haben, gefördert von der Amadeu Antonio Stiftung, unter dem Titel „Nie wieder Krieg“ eine Ausstellung zu den letzten Kriegstagen in der Stadt erarbeitet. Der Name ihrer Schule verpflichtet: Gerda Taro war Kriegsfotografin und wurde während des Spanischen Bürgerkrieges 1937 bei der Arbeit tödlich verletzt. Ihr Freund Robert Capa dokumentierte die Kampfhandlungen in Leipzig in den letzten Kriegstagen 1945. Seine Fotos sind heute weltberühmt.

Überraschende Stadtgeschichte(n)

Über Monate hinweg haben die Schüler*innen eigenständig Quellen gesichtet, in Archiven, Büchern und online recherchiert. Plakate, eine Chronik, ein Comic, das Foto eines Soldaten in Lebensgröße, Videos und Zitate veranschaulichen Ereignisse, die vielen Leipziger*innen kaum bekannt sein dürften. „Der Wissensstand zur lokalen Geschichte rund um das Kriegsende ist in der Stadtgesellschaft eher gering“, sagt Markus Ulbricht, Geschichtslehrer und Initiator des Projektes. „Vom Nationalsozialismus und seinen Verbrechen haben natürlich alle gehört, über Allgemeinwissen geht es aber selten hinaus. Nicht wenige Menschen glauben, es sei die Sowjetische Armee gewesen, die Leipzig befreit hat.“ Tatsächlich übergab die US-Streitkräfte die Stadt gemäß den Vereinbarungen der Alliierten am 2. Juli 1945 an die Rote Armee.

Wenig bekannt ist auch der Massen-Suizid im Neuen Rathaus am 19. April 1945. Hier hatten sich 150 Volkssturm-Kämpfer verschanzt, wurden aber schnell durch US-Truppen besiegt. Als diese das Gebäude durchsuchten, fanden sie die Leichen des NSDAP-Kreisleiters und anderer NS-Größen, die des Oberbürgermeisters, des Stadtkämmerers sowie die ihrer Frauen und Kinder. Sie hatten sich kurz zuvor das Leben genommen.

Die Schülerinnen Marisa und Johanna haben dazu einen aufwändigen Comic gestaltet, der durch Original-Videoausschnitte ergänzt wird, die US-Soldaten beim Erkunden des Gebäudes zeigen. „Es war interessant zu erfahren, was damals in der eigenen Stadt passiert ist, auch mit den NS-Funktionären“, sagt Johanna. „Wir haben viel allgemein über Kriegstote gehört. Dass es auch Selbstmorde von Nazis gab, war uns nicht bewusst. Im Alltag vergessen wir leicht, dass jeder Ort in Leipzig auch mit dem Nationalsozialismus zu tun hat.“ Marisa ergänzt: „Das Bild vom mächtigen Nazi bekommt Risse, wenn man weiß, dass sich einige wegen der drohenden Konsequenzen umgebracht haben.“

Markus Ulbricht freut sich, dass die Schüler*innen engagiert gearbeitet haben, trotz voller Stundenpläne, vieler Klausuren und Hausaufgaben: „Es überrascht mich immer wieder, was für kreative Produkte entstehen, wenn man den Kids freie Hand lässt und sie sich wirklich reinknien“, beschreibt er. Die Ausstellung soll Wissenslücken schließen und die Erinnerung lebendig halten.

Mord an NS-Zwangsarbeitern

Im Zentrum steht auch die Erinnerung an die NS-Zwangsarbeit. Leipzig war vor und während des Zweiten Weltkrieges ein bedeutender Rüstungs- und Industriestandort. Bis 1945 wurden hier rund 75.000 Menschen, darunter viele Minderjährige, zur Arbeit in Fabriken, bei den Stadtwerken und Verkehrsbetrieben, in Privathaushalten oder in Handwerksbetrieben gezwungen. Etwa 700 Lager waren im gesamten Stadtgebiet verteilt. Im KZ-Außenlager Abtnaundorf waren bis kurz vor Kriegsende mehrere tausend Männer aus Polen, Frankreich, der Sowjetunion und anderen Ländern interniert, die Zwangsarbeit für die Erla-Maschinenwerke leisteten. Am 13. April 1945 löste die SS das Lager auf, die meisten Inhaftierten wurden auf Todesmärsche geschickt. Die SS sperrte rund 300 kranke Inhaftierte in eine Baracke und steckte diese in Brand. Mehr als 80 Männer starben. US-Soldaten, die nur wenige Stunden später einmarschierten, dokumentierten das Verbrechen, ein wichtiger Bestandteil der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse.

Janosch und Aaron haben gemeinsam mit weiteren Schüler*innen die Geschichte des Massakers für die Ausstellung recherchiert und aufbereitet. „Es ist gruselig, was hier in Leipzig passiert ist“, sagt Aaron. „Es ist wichtig, tiefer in die Geschichte einzusteigen und sich bewusst zu machen, was die NS-Zeit mit unserer Stadt zu tun ist. Man sollte wissen, wo man lebt und sich in Erinnerung rufen, was hier passiert ist.“

Besetzt oder befreit?

Die Schüler*innen haben sich intensiv mit der Frage beschäftigt, ob Leipzig 1945 befreit oder besetzt wurde. „Es war eine Befreiung!“, betont Marisa. „So wurde die Naziregierung beendet.“ Johanna ergänzt: „Viele Leute in Leipzig haben darauf sicher sehnlich gewartet, auch wenn es sicher noch viele Nazis in der Stadt gab. Meine Oma hat mir erzählt, dass damals viele weiße Fahnen in Leipzig aus den Fenstern hingen.“ Janosch sieht das ähnlich: „Es ist erschreckend und erstaunlich, was die Nazis getan haben. So wurde es beendet. Ich kann verstehen, wenn einige Menschen es in den ersten Monaten als Besatzung erlebt haben, aber rückblickend war es eindeutig eine Befreiung.“

Ihre Ausstellung werden die Schüler*innen noch um einen digitalen Teil, ein Zeitzeugeninterview und einen fiktiven Instagramkanal ergänzen.

Lehrer Markus Ulbricht wünscht sich trotz voller Lehr- und Stundenpläne zukünftig mehr Zeit für ähnliche Projekte zum selbstständigen Lernen, etwa zu weiteren Themen der NS-Vergangenheit, zu Rassismus und anderen Diskriminierungen. Ihm ist wichtig, dass sich die Schüler*innen auch mit den aktuellen Gefahren rechtsextremer Ideologien auseinandersetzen. Der Ausstellung stellt er deshalb diesen Text voran:

„In dem Wort ‚Befreiung‘ lauert die Gefahr, ein ganzes Volk als bloßes Opfer von Hitler zu sehen. Ja, wir sollten uns freuen über diesen 80. Jahrestag der Befreiung unserer Stadt. Mit unserem Gedenken […] feiern wir den Frieden, die Freiheit und das Leben. Mit dem Ausdruck ‚Besetzen‘ machen wir uns bewusst, dass weder Frieden, noch Freiheit, noch Leben selbstverständlich sind auf dieser Welt.“

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