Weiter zum Inhalt Skip to table of contents

„Da fehlt einfach was!“ Münchener Nachwuchsfilmer kämpfen gegen das Vergessen

©MovieJam Studios

Am Anfang stand die persönliche Betroffenheit, der Schock über die Nähe zu den Opfern des Attentats im Münchner Olympia-Einkaufszentrum. Im Rahmen eigener Recherchen fiel den Nachwuchsfilmern schnell auf: „Es gibt keine angemessenen Portraits der Opfer, immer nur ein bis drei Zeilen. Da fehlt einfach was!“. Das brachte die Schüler dazu, Skripte zu entwerfen, einen Film zu drehen, der sich ausschließlich den Opfern des Anschlags widmet.

Von Ibo Muthweiler

Es sind diese einschneidenden Ereignisse, in denen die Zeit kurz stehen zu bleiben scheint und die uns auch nach Jahren noch genau wissen lassen, was wir in jenen Momenten getan haben. So geht es auch dem Nachwuchsfilmteam um Alexander Spöri und Luca Zug. Am Abend des 22. Juli 2016 sitzen sie in einem Raum des Bayerischen Rundfunks, um ein Interview über ihr aktuelles Filmprojekt zu geben. Das Gespräch wird vom dauerhaften Surren und Brummen der Handys unterbrochen. Irgendwann gibt der Interviewer den Störgeräuschen nach. Nachdem er kurz innehält, schaut er von seinem Handy auf: „In München wird geschossen“.

Seitdem beschäftigen sich die sieben Gymnasiasten von MovieJam Studios intensiv mit dem Anschlag in München. An jenem Abend tötete der 18-Jährige Schüler David S., motiviert durch die Schriften des Rechtsterroristen Anders Breivik, im Olympia-Einkaufszentrum neun Menschen – alle mit Migrationshintergrund. Obwohl drei unabhängige wissenschaftliche Gutachten zu dem Schluss kamen, dass der Täter aus rassistischen Motiven gehandelt hat, stufen das bayerische Landeskriminalamt und die Staatsanwaltschaft die Tat als nicht politisch motiviert ein. Ein Irrtum, den das Bundesamt für Justiz mittlerweile korrigiert hat. Das zeigt, wie kontrovers die Debatte geführt wird, eine Debatte, die durch den Film der Schülergruppe um eine bis dato viel zu wenig beachtete Perspektive bereichert wird: In „UNVERGESSEN“ geht es nicht um den Täter, sondern ausschließlich um die Opfer des Anschlags.

Bereits im Rahmen eines Grundschulprojektes entdeckten die Nachwuchsfilmer das Medium Film für sich. Im Laufe der Zeit professionalisierte sich das Ganze: Der Keller eines Elternhauses wurde zum Filmstudio umfunktioniert. Durch Praktika wurde das notwendige Know-how erworben. Mittlerweile stehen die 16- bis 18-Jährigen erwachsenen Filmproduzent*innen in nichts mehr nach und beeindrucken durch kompetentes Auftreten und erfrischende Weitsicht in ihren Konzeptionen.

Dass die Schüler den Anschlag filmisch behandeln werden, war ihnen an jenem Abend des 22. Juli noch nicht klar. Am Anfang stand die persönliche Betroffenheit, der Schock über die Nähe zu den Opfern und ein Freundeskreis, der hinterfragt. Im Rahmen eigener Recherchen fiel ihnen schnell auf: „Man kann sich von Material überschwemmen lassen, aber es gibt keine angemessenen Portraits der Opfer, immer nur ein bis drei Zeilen. Da fehlt einfach was!“. Das brachte die Schüler dazu, die Kellerräume wieder mit Leben zu füllen, Skripte zu entwerfen.

In 50 Minuten lernen wir die Menschen kennen, die sich hinter den Namen in der Zeitung verbergen. Menschen, die Träume und Ziele hatten, Stärken und Schwächen. Der Film spiegelt den Schmerz der Angehörigen wider, macht ihn greifbar und lässt erahnen, welch schrecklicher Verlust entstanden ist. Er richtet sich auf eindrucksvolle Weise gegen das Vergessen. Gegen eine kalte, unpersönliche Beschäftigung mit Hintergründen, Tathergang und Täterprofil. Gegen ein Vergessen, das die Erinnerung an diejenigen außen vor lässt, die betroffen sind und waren.

„Unvergessen“ ist käuflich bei MovieJam Studios zu erwerben.

Weiterlesen

Tahera_Ameer_2022
Interview

Warum die Gesellschaft noch keinen sicheren Umgang mit Rassismus hat

Tahera Ameer im Interview: „Das gesellschaftliche Bewusstsein dafür, dass es Rassismus in Deutschland gibt, ist stark gestiegen. Das ist ein Schritt vorwärts, dazu hat die Amadeu Antonio Stiftung beigetragen. Bis praktische Maßnahmen umgesetzt werden, die Rassismus als strukturelles Problem bekämpfen, ist es noch ein weiter Weg. Wir brauchen Proviant und Ausdauer für einen Marathon, nicht für einen Sprint.“

Gruppenbild_algerische Vertragsarbeiter_Mohamed Kecheroud und Oral-History-Forschungsstelle der Universität Erfurt
Gefördertes Projekt

Nach 50 Jahren: Gedenken an rassistische Hetzjagd auf Vertragsarbeiter in Erfurt

Am 10. August 1975 jagten bis zu 300 DDR-Bürger*innen algerische Vertragsarbeiter durch die Erfurter Innenstadt und verletzten einige schwer. 50 Jahre später erinnerten Betroffene und Erfurter*innen an die Ereignisse. In der Öffentlichkeit spielt die Auseinandersetzung mit rassistischer Gewalt in der DDR weiterhin kaum eine Rolle. Die Auseinandersetzung mit rassistischer Gewalt findet auch Jahrzehnte später viel zu selten statt.

Bleib informiert!

Melde dich jetzt zum Newsletter an und verpasse keine unserer nächsten Publikationen!

Schön, dass du dich für unsere Publikation interessierst! In unserem monatlichen Newsletter erhältst du spannende Einblicke in den Alltag demokratischer Zivilgesellschaft und in unsere Arbeit.
Publikation bestellen Publikation lesen