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Gefördertes Projekt

Das Weltall in Bansin – Astronomie und Antisemitismus auf Usedom

Imposante Bäderarchitektur und die kaiserlichen Besuche, dafür ist Usedom bekannt. Weniger bekannt sind die Geschichten jüdischer Bewohner:innen der Insel oder der grassierende Bäderantisemitismus seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Ein Verein und engagierte Jugendliche helfen einer Nachfahrin, diese Geschichten wieder zu erzählen.

Von Charlotte Sauerland

Bansin ist ein kleiner Badeort auf Usedom. Schmucke Hotels und Pensionen aus der Zeit um die Jahrhundertwende zieren die Straßen rund um die Strandpromenade. Badeurlaub war in Mode zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In Bansin machte der Mittelstand Urlaub, ganz im Gegensatz zu Heringsdorf, wo auch Kaiser Wilhelm II. mehrmals zu Besuch war. Seit den 90ern werben die Küstenorte Heringsdorf, Bansin und Ahlbeck deswegen mit dem Namen „Kaiserbäder“ um Urlauber:innen.

Die Familie Archenhold

Robert Kreibig vom Verein Land und Leute e.V. beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit jüdischen Schicksalen in Mecklenburg-Vorpommern. 2020 kam er nach Bansin, um nach dem Haus des Astronomen Friedrich Archenhold Ausschau zu halten. „Ich habe erstaunt auf dem Briefkasten den Namen Archenhold entdeckt und neugierig geklingelt“, erzählt Robert Kreibig. Er fragte die Frau, die ihm öffnete, ob sie etwas mit dem Astronomen Archenhold zu tun hätte. Sie hat geantwortet: „Natürlich. Das ist mein Großvater.“

Alison Archenhold wohnt im ältesten Haus des Badeortes Bansin. Es liegt versteckt in der zweiten Reihe an der Seestraße, unweit vom touristischen Treiben. Sie ist die Enkelin des bekannten Astronomen und Gründers der Sternwarte in Berlin-Treptow Friedrich Simon Archenhold, der maßgeblich zur Popularität der Astronomie in der Berliner Bevölkerung beigetragen hat. Wegen seiner jüdischen Herkunft war er vielfältigen Anfeindungen durch die Nationalsozialist:innen ausgesetzt. Archenhold starb 1939. Seine Frau und eine Tochter wurden nach Theresienstadt deportiert und ermordet. Den beiden Söhnen gelang die Flucht nach England. Alison Archenhold wurde als Tochter von Fred Archenhold in England geboren und wuchs dort auf.

Das Haus in Bansin hatte die Familie Archenhold 35 Jahre lang als Sommerhaus bewohnt. Während der NS-Zeit hatte die Familie es verkauft, den Kaufpreis jedoch nie erhalten. In der DDR wurde Überlebenden und Angehörigen von Opfern der Judenverfolgung ihr ehemaliges Eigentum nicht zurückgegeben. Erst nach 1990 konnten Restitutionsanträge gestellt werden, weil die Rückerstattungsgesetze, die in der BRD galten, nun auch auf die ostdeutschen Bundesländer angewandt wurden.  Einen Teil des Landbesitzes erhielten die Erben zurück, für die meisten inzwischen bebauten Flächen bekamen sie als Entschädigung einen Bruchteil des Grundstückswertes. Auch die Archenholds wurden dementsprechend niedrig entschädigt. Das Sommerhaus ihres Großvaters hatte die Gemeinde als Wohnraum vermietet. Erst nach langwierigen Auseinandersetzungen und einer Eigenbedarfsklage konnte Alison Archenhold 2018 in das Sommerhaus ihres Großvaters einziehen.

Seit einem Jahr unterstützt der Verein Land und Leute e.V. Archenholds Enkelin dabei, auf die Lebensgeschichte ihres Großvaters und die Geschichte des Hauses in Bansin aufmerksam zu machen. Ein erster großer Schritt war die Eröffnung einer Ausstellung auf dem Gelände der Archenholds Mitte August. Dort stellt der Verein die Biografien von Familienangehörigen Archenholds vor und würdigt das Lebenswerk des Astronomen. Auch die Geschichte des Hauses in der Seestraße und Lebensgeschichten weiterer jüdischer Bewohner:innen von Usedom werden vorgestellt. Denn dieser Teil der Geschichte der Insel ist weit weniger bekannt bei heutigen Anwohner:innen als die Herkunft der Bäderarchitektur und die kaiserlichen Besuche zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

“Judenfreie Strände“ und antisemitische Postkarten: Der Bäderantisemitismus

Auf Usedom gab es eine kleine jüdische Gemeinde mit 140 Mitgliedern und einer Synagoge in Swinemünde (heute Świnoujście). Auch Jüdinnen und Juden verbrachten ihren Sommerurlaub auf Usedom. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren sie von antisemitischer Agitation in vielen Nord- und Ostseebädern betroffen. Diesbezüglich wird auch von „Bäderantisemitismus“ gesprochen. Manche Bäderverwaltungen warben mit judenfreien Badestränden, Postkarten, die vor antisemitischen Stereotypen strotzen, waren erhältlich. Der „Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ gab Listen mit den Namen antisemitisch eingestellter Hotels und ganzer Ferienorte heraus. Schon um 1900 waren dort ca. 30 Urlaubsorte gelistet. Auch Bansin gehörte dazu.

Gleichzeitig profitierten und warben die Badeorte auch um jüdische Urlauber:innen. Die Nationalsozialist:innen knüpften an das bestehende antisemitische Ressentiment nahtlos an. Die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben für Jüdinnen und Juden wurde immer mehr eingeschränkt. Das Betreten der Strände war Juden ab 1935 verboten. Eine kleine jüdische Pension in Ahlbeck bot Jüdinnen und Juden bis zum Betriebsverbot 1938 Bademöglichkeiten am Privatstrand. Jüdische Menschen waren von Berufsverboten und alltäglicher Diskriminierung betroffen. Viele wurden deportiert und ermordet, einige überlebten. Heute gibt es keine jüdische Gemeinde mehr auf Usedom.

Engagierte Jugendliche packen an

Ohne die engagierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus Polen, Israel und Deutschland, die das Ausstellungsgelände vorbereitet hatten, wäre die Ausstellung nicht möglich gewesen. Im Rahmen einer internationalen Jugendbegegnung sind 19 Jugendliche eine Woche lang vor Ort, entfernen Grünzeug und Müll und machen den Platz begehbar. Die jungen Leute und die Enkelin von Archenhold sind sich sofort sympathisch. „Alison ist eine wunderbare Person, so glücklich und sie hat so viel Energie“, erzählen Julia und Natalia aus Polen begeistert. Auch die Jugendliche Milena freut sich, Alison zu helfen, ihren Traum zu verwirklichen. Alison träumt davon, hinter ihrem Haus ein Museum entstehen zu lassen, in dem permanent an ihren Großvater und dessen Verdienste erinnert werden kann. Deswegen wollen die Jugendlichen für Alison am Ende des Workcamps das Lied „Dreamer“ von Ozzy Osborne aufführen, erzählt Michaela, eine deutsche Freiwillige.

Einige der deutschen jungen Engagierten sind schon länger mit dem Verein Land und Leute e.V. verbunden. Sie haben an deutsch-israelischen Jugendbegegnungen teilgenommen oder ihr FSJ bei dem Verein gemacht. Luca, der mittlerweile Englisch und Geschichte in Rostock studiert und Carl, der in Leipzig ein Archäologiestudium begonnen hat, sind nach dem FSJ in den Verein eingetreten. „Robert hat uns gefragt, ob wir im August zwei Wochen Zeit haben und da haben wir ihm zugesagt, dass wir alles andere absagen“, erzählt Luca vergnügt.

Antirassismus dringend nötig

Nachdenklicher werden Luca und Carl, als sie von Schmierereien erzählen, die sie auf dem Weg zur Jugendbegegnungsstätte in Kamminke, wo sie übernachten, an einer Unterführung entdeckt haben. „Fuck Merkel“ stand da, „AfD“ und eine „88“ – ein rechtsextremer Zahlencode für „Heil Hitler“. Usedom ist in der Tat eine AfD-Hochburg. Bei den Landtagswahlen im Jahr 2016 wurde die AfD im Wahlkreis, zu dem Usedom gehört, stärkste Kraft. Knapp ein Drittel der Wähler:innen gaben ihre Stimme der AfD. Der Greifswalder Juraprofessor Ralph Weber gewann das Direktmandat. Weber zählte sich zum mittlerweile formal aufgelösten völkischen „Flügel“ der AfD. Er machte unter anderem mit der rassistischen Aussage von sich reden, dass „‚Biodeutsche‘ mit zwei deutschen Eltern und vier deutschen Großeltern“ sich dafür einsetzen sollten, dass „unsere Heimat auch in 30 Jahren noch von […] einer deutschen Leitkultur geprägt und geformt wird.“

Bis 2011 war auch die NPD in Vorpommern und auf Usedom sehr stark. Noch 2011 konnte sie im Wahlkreis 11,3% der Zweitstimmen bei der Landtagswahl holen, 2016 immerhin noch 5,6%, ein Nährboden, an den die AfD nahtlos anknüpfen konnte. In Heringsdorf, Trassenheide, Peenemünde und anderen Orten erreichten AfD und NPD zusammen zwischen 35 und 50% der Zweitstimmen. „Antirassismus ist dringend nötig hier“, ist Luca überzeugt.

Interesse und Skepsis bei den Nachbar:innen

Bei der Ausstellungseröffnung erscheinen einige Interessierte aus Bansin und Umgebung. Zwei ältere Damen schauen sich die Biografien der Jüdinnen und Juden von Usedom an. „Guck mal, „sagt die eine zur anderen. „Ich wusste gar nicht, dass in diesem Haus Juden gelebt haben.“ Eine der beiden berichtet, dass eine jüdische Frau von einer ihr bekannten Familie versteckt worden war. „Nach dem Krieg hat sie nichts davon erzählt, wie es ihr ergangen ist“, berichtet sie. Auch ein Lokalhistoriker, der ein Buch über die Geschichte Bansins geschrieben hat, studiert neugierig die Ausstellungstafeln.

Eine Interessierte ist sehr berührt von der Geschichte von Alison Archenhold, von ihrer Familiengeschichte und der Hartnäckigkeit, an diesem Ort ein Museum errichten zu wollen. Im Gespräch mit dem Co-Projektleiter der Ausstellung macht sie spontan eine WhatsApp-Gruppe auf. In die Gruppe können Menschen eintreten, die Alison und ihr Museumsprojekt unterstützen wollen. „Welcome to the Universe“ heißt die Gruppe, in Erinnerung an die Zeitschrift „Das Weltall“ von Großvater Archenhold.

Eingeladen zur Ausstellungseröffnung waren auch die direkten Nachbar:innen von Alison. Einige von ihnen waren anfangs nicht so begeistert von Alisons Anwesenheit, unter anderem weil ein Teil des Geländes auf Alisons Grundstück vorher als Parkplatz und Durchgang zum naheliegenden Sportplatz genutzt worden war. In seiner Eröffnungsrede wünscht sich Robert Kreibig, dass die Ausstellung dazu beträgt, dass die Nachbar:innen beginnen, nicht übereinander, sondern miteinander zu reden. Zur Eröffnung erscheint keine:r von ihnen. Aber die Ausstellung bleibt ja noch ein paar Tage hängen – Zeit für Nachbar:innen und Anwohner:innen einen Blick auf die Ausstellungstafeln zu werfen und einen Teil der Bansiner Geschichte kennenzulernen.

Das Projekt wird von der Amadeu Antonio Stiftung gefördert.
Auf der Seite der Fördervereins der Sternwarte in Berlin wird in einem informativen Film die Geschichte Archenholds erzählt. Auch ein kleiner Film über das Workcamp und die Ausstellungseröffnung ist entstanden.

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Nickolas
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