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Erinnern an die NS-”Euthanasie”: “Diese Aufführung hat echt was bewegt!”

© Peryton Film Gießen

Historiker*innen schätzen, dass zwischen 200.000 und 300.000 Menschen mit Behinderung von den Nazis ermordet wurden. Die Oberlahnregion stellte mit einem Krankenhaus für Zwangssterilisation in Weilburg, einer Hungeranstalt in Weilmünster und der T4-Mordanstalt in Hadamar ein Zentrum des NS-Krankenmordes dar. Um Schüler*innen und Erwachsenen die „Euthanasie“ der Nationalsozialisten näher zu bringen, veranstaltete der Verein „Weilburg erinnert e.V.“ drei von der Amadeu Antonio Stiftung geförderte Aufführungen des Theaterstücks „Ännes letzte Reise“. Das Stück ist eine dokumentarische Fiktion, in der der reale Fall von Anna Lehnkering, genannt Änne, den Ausgangspunkt bildet. Änne war von 1936 bis 1940 Patientin in der Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau und wurde am 7. März 1940 in Grafeneck ermordet. Aufgeführt wurde das Stück von der Theatergruppe „Mini-Art e.V.“

Wir haben ein Interview mit Markus Huth von Weilburg erinnert e.V. und Crischa Ohler von Mini-Art e.V. geführt.

Von Vinzenz Waldmüller

Wie kam es zur Idee, zu diesem Thema ein Theaterstück für Schulen und die Öffentlichkeit aufzuführen?

Markus Huth: „Wir arbeiten seit 2017 mit der Theatergruppe Mini-Art zusammen. Damals  zeigten wir in Weilburg die Ausstellung „Erfasst, verfolgt, vernichtet – Kranke und behinderte Menschen im Nationalsozialismus“. Aus dieser Ausstellung heraus ist auch der Verein Weilburg erinnert gegründet worden. Wir setzen uns seitdem in jedem Jahr mit dem NS-Krankenmord auseinander und arbeiten dazu auch von Beginn an mit dem Theater zusammen.“

Crischa Ohler: „Wir haben unser Theater seit 25 Jahren auf dem Gelände einer psychiatrischen Klinik. Als wir damals überlegt haben, uns dort niederzulassen, war uns klar, dass wir auf dem Gelände einer Psychiatrie am Rand der Gesellschaft stehen. Theater sollte genau da seinen Ort haben, um wirklich auch die Themen aufzugreifen, die schwierig sind. Als wir ankamen, haben wir uns sofort gefragt: Was ist hier in den Jahren zwischen ‘33 und ‘45 passiert? Und niemand wollte uns eigentlich Auskunft geben. Wir wussten, wir müssen etwas dazu machen.“

Warum beschäftigt sich das Stück mit dem Leben von Anna Lehnkering?

Crischa Ohler: “Wir wollten zu dem Ort, an dem wir arbeiteten, ein konkretes Stück machen. Wir hatten das große Glück, dass es über Anna Lehnkering ein Buch gab, „Annas Spuren. Ein Opfer der NS-„Euthanasie“. Ihre Nichte Sigrid Falkenstein hatte ganz viel Material gesammelt. Für uns war das enorm hilfreich. Über Änne, die 1915 geboren wurde, wird berichtet, dass sie etwas langsamer war als die anderen Kinder. Dazu kam, dass sie beim Spielen einen Unfall hatte, sie stürzte in einen Strauch und verlor auf einer Seite das Augenlicht. Ihre Einschränkungen waren nicht gravierend, aber das macht den Wahnsinn der NS-Rassenideologie umso deutlicher. Von den NS-Rassenhygienikern erhält sie die Diagnose „schwachsinnig”. Daher wird sie für fünf Jahre in einer Anstalt untergebracht, in der sie zunehmend als aufsässig und renitent beschrieben wird. Zuvor war sie immer sanft und liebevoll, doch dort begann sie sich zu wehren. Das war wahrscheinlich ein Grund, warum Änne eine der Ersten wird, die im Rahmen der Aktion „T4“ in einer Gaskammer in der Tötungsanstalt Grafeneck ermordet wird.”

Wo lagen die Herausforderungen bei so einer Inszenierung?

Crischa Ohler: “Eine solche Inszenierung ist nie einfach. Gerade, wenn man versteht, wie die Mechanismen damals funktionierten, Menschen kleinzukriegen. Der Mechanismus, dass sich das Opfer als wertlos fühlt, das ist das Entscheidende daran: Die Gesellschaft fällte Urteile, wer dazugehören darf und wer nicht. Für uns als Schauspielende ist die Schwierigkeit, uns in die Rollen hineinzuversetzen. Dabei ist nicht nur die Rolle eines Opfers der NS-Ideologie zu spielen, unfassbar schwierig. Gerade auch zu versuchen, wie ein Täter zu denken, aus der Ich-Position so zu sprechen, ist mindestens genauso schwierig.”

Wie war die Resonanz bei den drei Aufführungen?

Markus Huth: “Natürlich gehen viele Leute lieber in eine Komödie, das ist ein schweres Stück. Damit muss man sich auseinandersetzen wollen. Dennoch waren alle drei Aufführungen, auch die öffentliche, gut verkauft. Besonders die Schulen freuen sich immer, wenn Mini-Art wieder mit einem Theaterstück zu den NS-Krankenmorden bei uns zu Gast ist. Was uns besonders gefreut hat, ist, dass sowohl Krankenpflegeschulen, als auch Schulen aus Weilmünster und Hadamar teilgenommen haben. Dort befand sich zur NS-Zeit eine große Hungeranstalt, beziehungsweise eine Tötungsanstalt der T4-Aktion. Für uns sind solche Aufführungen fester Bestandteil unseres Programms, weil wir der Meinung sind, dass diese Art der Wissensvermittlung gerade jungen Menschen noch einmal einen ganz anderen Zugang bieten kann. Ein Theater kann vieles greifbarer gestalten. Was uns immer besonders freut: Viele Lehrer*innen kommen nach so einer Aufführung zu uns und sagen: Diese Aufführung hat bei unseren Schüler*innen echt was bewegt. Sie wollen danach noch mehr über die Situation erfahren.”

Kannst du uns etwas über die Ziele des Vereins erzählen und woher ihr die Kraft für euer Engagement schöpft?

Markus Huth: “Wir haben nächstes Jahr unser fünfjähriges Bestehen. Wir wollen in erster Linie auf vielfältige Weise Bildungsangebote für junge Menschen und Erwachsene schaffen. Von Theatervorstellungen über Ausstellungen bis zu Podiumsdiskussionen veranstalten wir alles. So wollen wir unseren Beitrag zur Demokratiestärkung leisten.

Gerade weil wir hier noch große Lücken sehen, wollen wir weitermachen. Es fehlen Gedenkstätten, aber auch Forschung, zu vielen Bereichen des NS-Krankenmordes bei uns in der Region. Gerade deswegen finden wir dieses Thema für uns und die Region weiterhin so wichtig.

Immer weiterzumachen ist nicht einfach. Uns werden viele Steine in den Weg gelegt. Zum Beispiel wollten wir Stolpersteine in Weilburg verlegen lassen, sogar Spenden waren dafür schon gesammelt. Doch das Stadtparlament hat unseren Vorschlag abgelehnt und das mit einer zweifelhaften Begründung: Man wolle nicht auf dem Andenken der Opfer herumtreten. Was uns aber immer wieder die Kraft gibt, weiterzumachen, ist die Dankbarkeit der Personen aus der Region, die nach Veranstaltungen zu uns kommen und sagen, wie wichtig sie unsere Arbeit finden.”

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