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„Erinnern heißt verändern“

Über ein Modellprojekt der Amadeu Antonio Stiftung erhalten seit Mitte 2023 elf Initiativen von Betroffene und Angehörige von rechten, rassistischen und antisemitischen Anschlägen sowie das gesamte Netzwerk Unterstützung für eine selbstbestimmte Erinnerungskultur. Gefördert wird das Projekt „Selbstbestimmt vernetzen, erinnern und bilden“ durch die Beauftragte der Bundesregierung für Antirassismus.

Am 19. Oktober 2023, einem stürmischen Tag im herbstlichen Berlin, sitzen 40 Personen an einem großen Tisch im Bundeskanzleramt.

Reihum ergreifen die Versammelten das Wort und schnell wird klar: Für viele der Anwesenden ist es etwas Besonderes, heute hier zu sein – wenn auch mit gemischten Gefühlen. Izabela Tiberiade bringt es auf den Punkt: Der Zugang zu solchen Räumen blieb ihr bisher verwehrt – nicht nur als Angehörige einer Roma-Familie, sondern auch als Teil einer Familie, die 1992 in Rostock-Lichtenhagen angegriffen wurde.

Neben Izabela Tiberiade sitzen Mitglieder und Unterstützer*innen folgender Betroffeneninitiativen: Bildungsinitiative Ferhat Unvar (Hanau), Initiative 19. Februar Hanau, TEKİEZ (Halle), Hillel Deutschland, München erinnern, Bündnis Tag der Solidarität – kein Schlussstrich (Dortmund), Palanca (Eberswalde), Keupstraße ist überall (Köln), Archiv Rostock-Lichtenhagen, Solinger Initiative an das Gedenken an den Brandanschlag 1993 und Soligruppe B. Efe 09 (Kassel).  Zusammen mit der Amadeu Antonio Stiftung treffen sie sich mit Reem Alabali-Radovan, der Beauftragten der Bundesregierung für Antirassismus, die das Modellprojekt „Selbstbestimmt vernetzen, erinnern und bilden“ bei der Stiftung fördert.

Doch schnell wird klar, die Worte der geförderten Initiativen richten sich nicht nur an die Antirassismusbeauftragte, sie reichen weit über das Auftakttreffen und das Modellprojekt hinaus. Denn es geht an diesem Tag um strukturellen Rassismus und Antisemitismus, um rechtsextreme Kontinuitäten und Gewalt in Deutschland – und es geht um fehlende Anerkennung der Betroffenenperspektive.

Selbstbestimmt erinnern statt erinnert werden

Die am Tisch Versammelten sind Betroffene und Angehörige von rechten, rassistischen und antisemitischen Anschlägen. Sie wurden durch Verluste, Gewalterfahrungen oder das Überleben motiviert, gegen das Vergessen, für Aufklärung und für Konsequenzen zu kämpfen. Die Initiativen streiten nicht nur für ein selbstbestimmtes Erinnern an die Opfer der Anschläge aus der Betroffenenperspektive. Sie leisten zudem wichtige Bildungs- und Aufklärungsarbeit und unterstützen andere Betroffene. Schon seit Jahrzehnten – aber verstärkt nach den Anschlägen von Hanau –  haben die anwesenden Gruppen zusammen mit anderen Betroffeneninitiativen Kraft dafür im gegenseitigen Austausch gefunden und sich in einem bundesweiten Netzwerk zusammengefunden.

Trotz des Gefühls der Anerkennung durch die Einladung in das Bundeskanzleramt tragen viele der Eingeladenen auch Trauer und Wut in diesen Raum. Viele Jahre, teilweise Jahrzehnte, wurden sie allein gelassen: Sie haben weder Anerkennung, noch Sichtbarkeit oder Unterstützung von Seiten staatlicher Institutionen erhalten. Im Gegenteil, oft mussten Sie eine Täter-Opfer-Umkehr erleben und ihrer Perspektive wurde keine Beachtung geschenkt. Die erlebte Enttäuschung prägt viele der emotionalen Wortbeiträge. So berichtet İsmet Tekin aus Halle beispielsweise, wie er immer noch um den Gedenkort, die Aufklärung und die Bewältigung seines ganz persönlichen Alltags kämpfen muss. Was die Anwesenden berichten, zeigt ihre Stärke und Resilienz, aber auch, dass Ihre Arbeit ohne Unterstützung und Allies kaum möglich ist.

Starke Strukturen für sichtbares Erinnern

Genau an dieser Stelle möchte das Modellprojekt der Amadeu Antonio Stiftung ansetzen. Über das Projekt erhalten seit Mitte 2023 elf Initiativen sowie das gesamte Netzwerk Unterstützung: Mit Fördermitteln der Bundesbeauftragten für Antirassismus werden die Initiativen strukturell unterstützt und die selbstbestimmte Arbeit der Betroffenen und Hinterbliebenen nachhaltig gestärkt. Ihre Vernetzung sowie ihre Sichtbarkeit in regionalen und überregionalen Kontexten soll erhöht werden. Dafür werden bis Ende 2025 beispielsweise Personal-, Weiterbildungs-, Reise- und Mietkosten übernommen und – entlang der von den Initiativen selbst formulierten Bedarfe – Capacity Building betrieben.

Im Oktober 2023 kommt neben dem wichtigen Austausch – dem Raum für gegenseitiges Zuhören, Kritik und Wünsche – aus der Runde die Idee, im kommenden Jahr ein Forum zu gestalten, in welchen die Initiativen und Betroffenen sich mit Politiker*innen zu ihren Anliegen, Bedarfen und Forderungen austauschen können. Die Staatsministerin begrüßt diesen Vorschlag und signalisiert, dass sie diese Idee in ihre Agenda aufnehmen werde.

­Das Austauschgespräch findet wenige Tage nach dem Terrorangriff der Hamas und des Beginns der israelischen Bodenoffensive statt. Die Anwesenden zeigen sehr eindrücklich, wie Solidarität gelebt werden kann: Sie formulieren immer wieder, dass sie gerade in diesen Zeiten zusammenhalten.

Nach drei Stunden nähert sich das Treffen dem Ende, Said Etris Hashemi, Überlebender des Anschlags in Hanau, ergreift das Wort: Er berichtet, wie die aktuelle Situation ihn belastet. Wie er sich immer als Teil dieser Gesellschaft verstanden hat und nun aber befürchtet, das Vertrauen zu verlieren. So fürchtet er beispielsweise, sich auf Social Media öffentlich zur aktuellen Situation zu äußern; aus Angst, die Gegenwehr und erneute Gewalt Andersdenkender zu erfahren. Er teilt seine Erfahrungen, seine Gefühle und wie der Anschlag sein Leben und sein Sicherheitsgefühl radikal verändert haben. Danach herrscht Stille im Raum, die letzten Tränen werden getrocknet.

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