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Interview

„Es bleibt eine Gratwanderung“

Copyright: ELKB

Dr. Matthias Pöhlmann ist Beauftragter für Sekten- und Weltanschauungsfragen der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Mit der Amadeu Antonio Stiftung sprach er darüber, welche Gemeinsamkeiten es zwischen Sekten und Verschwörungsideologien gibt, warum sie so attraktiv wirken und was im Umgang mit Anhänger*innen hilft.

Herr Pöhlmann, was macht eine Sekte aus?

Herkömmlich sind das Gemeinschaften, die sich von anderen mit vermeintlich elitärem Wissen und einem Absolutheitsanspruch abgrenzen: Das Heil liegt nur innerhalb der eigenen Gruppe, während die Außenwelt als böse und gefährlich dargestellt wird. Meistens steht an der Spitze ein charismatischer Führer, der weiß, was gut für einen ist. Bei dem Begriff Sekte muss man allerdings vorsichtig sein, denn er ist stark vorverurteilend.

Oft wird gesagt, Sektenangehörige würden einer »Gehirnwäsche« unterzogen. Stimmt das?

Diesen Begriff versuche ich zu vermeiden, denn wer sich solchen Gemeinschaften anschließt, tut das freiwillig. Wir sprechen eher von einem Schlüssel-Schloss-Prinzip: Das Angebot muss genau zu meinem aktuellen Lebensthema passen. Jemand der sich für die Zeugen Jehovas interessiert, sucht Sicherheit, während es für Anhänger einer Psychoorganisation wie Scientology eher um Methodengläubigkeit geht. Ich denke, jede und jeder ist letztendlich in besonderen Lebenssituationen für solche Angebote empfänglich.

Funktionieren Sekten und verschwörungsideologische Gemeinschaften ähnlich?

Das Selbstempfinden der Menschen ist ähnlich. Vielleicht fehlt in Verschwörungskreisen der einzelne
Guru oder spirituelle Anführer. Stattdessen schafft man sich sein Arsenal an unterschiedlichen Gewährsleuten. Mit dem gleichen Resultat: Man fühlt sich einer erleuchteten Elite zugehörig. In beiden Bewegungen geht es zudem darum, die Welt erklärbar und übersichtlicher zu machen. Man möchte im sinnlosen Sinn finden – auch in Zufällen.

Gibt es unter den sektenartigen Gemeinschaften Gruppierungen, die besonders stark mit Verschwörungsideologien verbunden sind?

Ein Einfallstor für den Verschwörungsglauben sehe ich in der sogenannten Esoterikszene. Die moderne Esoterik erhebt Anspruch auf ein höheres Wissen, das nur sensiblen und erleuchteten Menschen zugänglich ist. Es heißt, man könne den Institutionen nicht mehr vertrauen, weil die fremdgesteuert seien. Stattdessen müsse man noch stärker in sein Inneres hineingehen. In der Corona-Krise wird gesagt, das Virus sei ein Durchgangstor zur spirituellen Erleuchtung. Manche entwickeln Zahlencodes, mit denen man sich gegen Covid-19 schützen könne – man müsse sie nur auf einen Zettel schreiben und überall hinpinnen.

Das klingt abenteuerlich! Und wissenschaftsfeindlich…

Wissenschaftsfeindlichkeit spielt sicherlich eine große Rolle. Die moderne Esoterik ist besonders anfällig, weil sie zum Alltag der Menschen gehört und gleichzeitig ein spezielles Sensorium für gesamtgesellschaftliche Krisenlagen und Verunsicherungen entwickelt hat. Da findet eine Politisierung statt.

Was meinen Sie damit?

Die Esoterikszene bedient das Aufleben des Rechtsextremismus: Es werden Misstrauen und
Hass gegen die Politik und staatliche Institutionen gesät und gesagt, dass die überwunden werden müssen. In diese Lücke dringen dann zum Teil rechtsextremistische Aktivitäten vor. Das ist gefährlich, weil Esoterik in unserer Gesellschaft stark verbreitet ist. Man schätzt, dass im Jahr etwa 20-25 Milliarden Euro allein in dieser Szene umgesetzt werden.

Sie beraten Angehörige von Sektenanhänger*innen. Was lässt sich auf den Umgang mit Verschwörungsideolog*innen übertragen? Wie kann man deren Weltbild ins Wanken bringen?

Das ist wirklich schwierig. Absolut überzeugte Verschwörungsgläubige wird man mit sachlichen Gegenargumenten sicherlich nicht dazu bringen, ihr Weltbild aufzugeben. Es gibt aber auch Fälle von Menschen, die nur der einen oder anderen Verschwörungstheorie anhängen. Ich versuche mit den Ratsuchenden die Genese des Interesses herauszuarbeiten: Welche biografischen Themen gibt es? Häufig spielen Zukunftsangst und berufliche Sorgen eine Rolle. Es ist wichtig, empathisch mit den Verschwörungsgläubigen zu sein. Und ich würde unbedingt dazu raten, den Kontakt nicht abbrechen zu lassen.

Trotz zum Teil menschenfeindlicher Aussagen?

Rote Linien müssen benannt werden, das ist klar. Bekehrungsmanöver sollte man sich verbitten. Es bleibt eine Gratwanderung – den Betreffenden ernst zu nehmen, zu signalisieren, dass man ihn mag, und sich gleichzeitig zu positionieren. Ich würde empfehlen, sich unbedingt an Beratungsstellen zu wenden. Und: Achten Sie auf sich selbst. Man kann sich bei seiner tätigen Hilfe auch völlig verausgaben, aber damit ist niemandem geholfen.

Mit rationalen Argumenten kommt man also gar nicht weit?

Doch, in manchen Fällen schon. Es ist ganz wichtig, in der Erwachsenenbildung und auch in den Medien aufzuzeigen, wie Verschwörungsideologien funktionieren und welche Macht sie über den einzelnen entwickeln können. Mit Faktenchecks kann man Leuten, die noch nicht so tief drinstecken, ein kritisches Instrumentarium an die Hand geben.

Aber?

Aufklärung tut Not, doch sie ist kein Patentrezept, weil das Leben oft komplizierter ist. Letztendlich ist die Frage der Menschen: Was trägt mein Leben? Was gibt mir Sinn und Halt? Dann kann man als Angehöriger fragen: Sind denn diese Botschaften, die da vermittelt werden, wirklich tragfähige Antworten – oder erreichen sie nicht eines, nämlich den Hass in die Gesellschaft zu tragen, zu spalten? Wenn man sich darauf einigen kann, besteht Hoffnung.

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