Weiter zum Inhalt Skip to table of contents

Es gibt nicht die eine Geschichte

© wendemigra.de


Hoffnung, Einheit und Freiheit – Die deutsche Wende war für viele Ost- und Westdeutsche ein mit neuen Gemeinschaftsgefühlen verknüpftes historisches Ereignis. Viele Menschen kamen bei den Montagsdemonstrationen auf den Straßen zusammen, Rufe wie „Wir sind ein Volk“ wurden laut. Aber wer gehörte zu diesem Volk dazu? Und wer nicht?

Von Carlotta Voß

Die kollektiven Erinnerungen an die DDR, an die Wende und an die Zeit nach der Wiedervereinigung lassen migrantische Perspektiven häufig vermissen. Das Projekt wendemigra.de stellt genau diese in den Fokus. In einem interaktiven Film sprechen sieben migrantische Zeitzeug*innen von ihren Erfahrungen in der DDR, den Veränderungen durch die Wende und ihrem Leben in der Nachwendezeit. Alle sieben sind in die DDR migriert, als Studierende, politische Geflüchtete oder Vertragsarbeiter*innen. Und alle sieben lernten ein System kennen, das sich in ihrem Beisein rasch veränderte und schließlich zerbrach. Sie erlebten Zeiten des Wandels, ergriffen Möglichkeiten, erlebten Enttäuschungen und Erfolge, Ängste und Hoffnungen.

Völkerfreundschaft und DDR Leben
Besonders ihre erste Zeit in der DDR war für die sieben Zeitzeug*innen von großer Hoffnung geprägt. Sie fühlten sich in der DDR willkommen, denn hier schrieb man Völkerfreundschaft groß. Huang Trute, die als junge Vietnamesin in die DDR emigrierte erinnert sich vor allem an Solidarität und Zusammenhalt. Begeistert beobachtete die ehemalige Vertragsarbeiterin, wie die Bürger*innen der DDR gegen den Vietnamkrieg auf die Straße gingen und sich gemeinsam positionierten. Auch Karamba Diaby, heute Bundestagsabgeordneter der SPD, hat viele positive Erinnerungen an sein Leben in der DDR: „Das waren die schönsten acht Jahre meines Lebens“, erzählt er in einer Filmsequenz. Damals kam er als Stipendiat ans Herder Institut in Leipzig, um dort gemeinsam mit 120 anderen Studierenden aus unterschiedlichen Ländern Deutsch zu lernen. Als studentischer Sprecher des Instituts lernte er im Wohnheim in der Straße des 18. Oktobers vieles, das ihn auf seine Zeit an der Universität vorbereiteten sollte.

Klickt man sich durch die Filmsequenzen, die sich um das DDR-Leben der Zeitzeug*innen von wendemigra.de drehen bemerkt man schnell: Sie berichten nicht nur von Hoffnung. Mona Ragy Enayat aus Ägypten, damals Kunststudentin in der DDR, erinnert sich auch an Ungerechtigkeiten und Enttäuschungen: Zimmerdurchsuchungen, gelesene und gekürzte Briefe aus der Heimat. Angesprochen oder hinterfragt werden konnten diese jedoch nicht. Auch Dr. Karamba Diaby erzählt: „Ich sollte zunächst nur auf eine Fachhochschule geschickt werden, obwohl ich der beste in meiner Gruppe war.“ Diaby fand das ungerecht, er wolle lieber an die Universität, beschwerte er sich. „Im Sozialismus gibt es keine Ungerechtigkeit“, entgegnete man ihm. Doch die rassistischen Kriterien, die dieser Entscheidung unterlagen, durften von ihm nicht als solche benannt werden.

Ruf nach Freiheit/Einheit
Die Zeit um die Wende erlebten Karamba Diaby und die anderen Zeitzeug*innen aus einer besonderen Perspektive, denn einerseits waren sie ein Teil der DDR Gesellschaft. Aber andererseits war diese Gesellschaft drauf und dran, sich drastisch zu verändern. Was genau vor sich ging, wussten die migrantischen Zeitzeug*innen nicht. „Die DDR Bürger*innen waren verunsichert, aber wir auch“, berichtet der SPD-Politiker. Die rapiden Veränderungen durch die Wiedervereinigung ließen viele Fragen offen: Würden Arbeits-, Studienplatz und Stipendien wegfallen? Würden die Aufenthaltspapiere mit dem Wegfall der DDR über Nacht ungültig werden? Die Frage nach Zugehörigkeit nahm immer mehr Raum ein: „Auf den Montagsdemos haben sie gesagt ‚Wir sind das Volk‘ – aber was ist denn mit uns? Sind wir auch das Volk?“

90er Jahre/2019
Nach der Wende erlebten die migrantischen Zeitzeug*innen einen traurigen Höhepunkt der rassistischen Anfeindungen. Die in der DDR so groß geschriebene Völkerfreundschaft war vergessen. Stattdessen kamen Verlustängste und Konkurrenzgefühle in der deutschen Bevölkerung hoch. Und auch Rassismus machte sich breit und wurde nun offen geäußert. „Vor 25 Jahren waren wir schlichtweg unerwünscht“, erinnert sich Huang Trute, „Jetzt hatten wir zwar ein Land, aber die Probleme waren nicht alle weg.“ Besonders zwischen 1990 und 1996 häuften sich rechtsextreme Anschläge und Übergriffe im wiedervereinigten Deutschland. Doch die migrantischen Zeitzeug*innen von wendemigra.de wollten nicht zusehen, wie ihre neue Heimat von Rechtsextremen verunsichert wurde. „Dieses Land ist zu schön, um es den Hetzern zu überlassen“, sagt Karamba Diaby in einem Filmabschnitt. Die 90er Jahre motivieren ihn bis heute sich politisch zu engagieren und gegen Rassismus und Rechtsextremismus aufzustehen. Auch Mona Ragy Enayat resümiert „Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit, man muss dafür kämpfen!“

Das Projekt Wendemigra.de ergänzt die kollektiven Erinnerungen an die Wende und trägt dazu bei, auch die Perspektiven mitzudenken, die sonst oft ungehört bleiben. Die Amadeu Antonio Stiftung fördert das Projekt, denn es zeigt: Es gibt nicht nur eine Geschichte, sondern viele. Und einige davon lassen sich bei wendemigra entdecken.

Weiterlesen

452200360-1280x720

AfD vor Gericht: Die Herzkammer des Rechtsextremismus

Das Oberverwaltungsgericht Münster soll entscheiden, ob die AfD vom Verfassungsschutz als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestuft werden darf. Währenddessen hat sich die AfD vom parlamentarischen Arm zur Herzkammer des Rechtsextremismus in Deutschland entwickelt. Wer die AfD bewerten will, muss auch ihre Vorfeld- und Unterstützungsstrukturen in den Blick nehmen.

DSC00395
Hier wirkt Ihre Spende

Engagierte aus Niedersachsen schützen Lokalpolitiker*innen vor Hass

Aktuelle Statistiken und Umfragen zeigen eine deutlich gesunkene Hemmschwelle zu Anfeindungen, Beleidigungen und Angriffen gegen Lokalpolitiker*innen. Auch im niedersächsischen Landkreis Gifhorn erleben Kommunalpolitiker*innen Anfeindungen. Engagierte, die solchen Hass schon selbst erlebt haben, machen sich stark für die Unterstützung von Betroffenen.

Mitmachen stärkt Demokratie

Engagieren Sie sich mit einer Spende oder Zustiftung!

Neben einer Menge Mut und langem Atem brauchen die Aktiven eine verlässliche Finanzierung ihrer Projekte. Mit Ihrer Spende unterstützen Sie die Arbeit der Stiftung für Demokratie und Gleichwertigkeit.