Der Ausgang der Landratswahl im ostthüringischen Saale-Orla-Kreis blieb bis zur Bekanntgabe des Ergebnisses der Stichwahl am Abend des 28. Januars 2024 spannend. Mit 52,4 % der Stimmen konnte sich der CDU-Kandidat Christian Herrgott nur knapp gegen den AfD-Kandidaten Uwe Thrum (47,6 %) durchsetzen. Thrums Verbindungen zur Neonazi- und Reichsbürgerszene waren im Vorfeld bekannt – und haben ihm offenbar kaum geschadet. Sein Wahlkampf war durch den Versuch geprägt, sich als ‚Anwalt der kleinen Leute in der Region‘ zu stilisieren, und durch eine populistische Generalabrechnung mit der Politik der Bundes- und Landesregierung; insbesondere in der Migrations- und Asylfrage. Bei einem Wahlkampfauftritt in Kleindembach am 26. Januar 2024 hatte sich der Landesvorsitzende der AfD Thüringen, Björn Höcke, noch einmal persönlich für Thrum eingesetzt – mit einer Rede, in der er seine bekannten völkisch-nationalistischen, geschichtsrevisionistischen und verschwörungsideologischen Positionen vortrug.
Durch den Zusammenhalt der Demokrat*innen in der Region konnte letztlich verhindert werden, dass Thrum zum Landrat gewählt wurde. Der Stichwahlsieg Christian Herrgotts ist mit einiger Plausibilität weitestgehend auf den Zustrom von Wechselwähler*innen von der SPD und der LINKEN zurückzuführen. Die 9.245 Stimmen, die Herrgott zum Sieg verhalfen, entsprechen bis auf eine geringe Abweichung der Summe der Wähler*innen der Kandidat*innen von SPD und LINKE im 1. Wahlgang am 14. Januar (9.052). Dies kann zumindest als Indiz dafür gelten, dass Herrgott nur wenige Nichtwähler*innen aus dem 1. Wahlgang mobilisieren konnte. Thrum hingegen schien etwas stärker von der um 3,1 Prozentpunkte gestiegenen Wahlbeteiligung profitieren zu können. Er gewann noch 1.753 Stimmen gegenüber dem 1. Wahlgang hinzu. Insgesamt betrug die Wahlbeteiligung in der Stichwahl 68,6 %. Dieser Wert ist für eine Landratswahl beachtlich hoch und spiegelt die Bedeutsamkeit wider, die die Wahlberechtigten im Landkreis der Wahl beigemessen haben. Im knappen Ergebnis und in den Stimmenzuwächsen für Thrum – trotz der derzeitigen regionalen und deutschlandweiten Proteste gegen die AfD – zeigen sich weiterhin die bedenkliche Stärke antidemokratischer Kräfte und die weit fortgeschrittene Erosion eines demokratischen Konsenses in der Gesellschaft.
Der Blick in die Wahlstatistik auf Gemeindeebene¹ offenbart:
- Nur in 4 kleinen Gemeinden hat Thrum gegenüber dem 1. Wahlgang Stimmen verloren – und zwar insgesamt nur 9 Stimmen; der jeweiligen Wahlbeteiligungsstatistik auf Gemeindeebene nach, vermutlich durch Abwanderung zu den Nichtwähler*innen. Seine besten Ergebnisse erzielte Thrum in den sehr kleinen Gemeinden Paska (75,0 %) und Göschitz (72,5 %) – und generell dort, wo die AfD bereits bei den Wahlen in den letzten Jahren hohe Stimmenanteile erzielte.
- Nicht nur in den Dörfern, sondern auch in den Klein- und Mittelstädten der Region hat die AfD sehr starken Rückhalt. Thrum siegte knapp in der Kreisstadt Schleiz (50,5 %) sowie in den Kleinstädten Gefell (52,2 %) und Ziegenrück (50,6 %), während in allen anderen Städten Herrgott gewann. In den größeren Städten Pößneck, Neustadt an der Orla und Triptis ist der Vorsprung zu Thrum entsprechend deutlich, in den kleineren Gemeinden mit Stadtrecht hingegen nur knapp. Eine Ausnahme ist Saalburg-Ebersdorf, wo Christian Herrgott 58,8 % der Stimmen gewann. Die besten Ergebnisse erzielte Herrgott in den kleinen, dörflichen Gemeinden Mittelpöllnitz (78,4 %) und Schmorda (78,2 %).
Insgesamt ist festzustellen: Christian Herrgott ist es nicht gelungen, Stimmen von Uwe Thrum „zurückzuholen“. Stattdessen profitierte er mit hoher Wahrscheinlichkeit von der strategischen Wahlentscheidung vieler demokratisch eingestellter Wähler*innen, die ungeachtet eigener Parteipräferenzen und politischer Überzeugungen in erster Linie eine Mehrheit für den AfD-Kandidaten abwenden wollten. Das zivilgesellschaftliche Bündnis „Dorfliebe für alle“ und die anderen demokratischen Parteien hatten im Vorfeld eine klare Wahlempfehlung für den CDU-Kandidaten ausgesprochen. Ähnlich wie bereits bei der Oberbürgermeisterwahl in Nordhausen im September 2023 waren letztlich vor allem die Entscheidung demokratischer Wechselwähler*innen dafür ausschlaggebend, dass der AfD das kommunale Spitzenamt verwehrt blieb. Die demokratische Zivilgesellschaft hat auch in der Landratswahl im Saale-Orla-Kreis wie in den bundesweiten Protesten gezeigt, dass sie entschlossen und fähig ist, die demokratischen Werte – gemeinsam und über politische Milieus hinweg – gegen die Politik der AfD zu verteidigen. Nun wird es von Bedeutung sein, dass der neue Landrat seinen Fokus auf die unterschiedlichen Interessen all seiner demokratischen Wähler*innenschaft legt.
In Hinblick auf die kommenden Wahlen lässt sich daraus schlussfolgern, dass alle demokratischen Kandidat*innen bereits im Wahlkampf eine bürger*innennahe, regional- bzw. kommunalpolitische Politik vertreten sollten, die von einem möglichst breiten Spektrum demokratisch eingestellter Wähler*innen Unterstützung erfährt. Des Weiteren empfiehlt sich – trotz der unbedingt notwendigen, klaren programmatischen Differenzen – auf solche Inhalte und Formen politischer Kommunikation zu achten, die Wähler*innen anderer demokratischer Kandidat*innen im Falle von Stichwahlen nicht abschrecken und demobilisieren. Die kontrovers diskutierte Strategie, AfD-Wähler*innen durch eine Übernahme von Positionen der AfD (bspw. in migrations-, asyl- und gesellschaftspolitischen Fragen) oder mittels der Adaption populistischer Rhetorik zu adressieren, ist hinderlich für das Erringen von Mehrheiten. Vielmehr erhöht diese Strategie die Polarisierung innerhalb des demokratischen Spektrums und trägt zu weiteren Diskursverschiebungen nach rechts bei. AfD-Sympathisant*innen bestärkt es zudem in ihrer Haltung, dass es sich bei der Programmatik und den Zielen der AfD lediglich um „stilistische“ Variationen handele, die sich innerhalb und nicht außerhalb des legitimen politischen Meinungsspektrums bewegen.
Die Stärkung antidemokratischer Kräfte in der Gesellschaft führt zu einer Zunahme und Intensivierung politischen Engagements – mit ambivalenten Folgen. Bei der Landratswahl 2018 im Saale-Orla-Kreis betrug die Wahlbeteiligung noch lediglich 33,2 %. 2024 hat sich die Wahlbeteiligung verdoppelt: Beim ersten Wahlgang am 14. Januar betrug sie bereits beachtliche 65,5 %. Dass sie in der Stichwahl – entgegen der Erwartungen aufgrund der Erfahrungen aus anderen Landratswahlen – nochmals um 3,1 % gestiegen ist, deutet darauf hin, dass die zivilgesellschaftliche Mobilisierung in der Region und die bundesweiten Demonstrationen gegen die AfD in den letzten Wochen Wirkung entfaltet und viele Menschen informiert und mobilisiert haben. Allerdings haben sie regional offenbar auch zu einer vorläufigen Stabilisierung des AfD-Wähler*innenpotenzials geführt, anstatt dessen Rückgang zu bewirken. Für die landes- und bundesweiten Protestaktivitäten gegen Rechtsextremismus und für Demokratie heißt das, dass nun zu Forderungen und Positionen fortzuschreiten wäre, die die Ursachen für die Erosion demokratischer Kultur fokussieren und die Folgen eines weiteren Erstarkens antidemokratischer Kräfte noch konkreter erklären. Solche Forderungen und Positionen müssen nicht einheitlich sein, sondern können sich je nach regionalen Besonderheiten, Engagement- bzw. Handlungsfeldern und politischen bzw. weltanschaulich-ideologischen Orientierungen voneinander unter-scheiden, ergänzen und zu einer vielfältigen demokratischen Debattenkultur beitragen.
Der von der AfD erhoffte Auftaktsieg zu Beginn des Wahljahres 2024 ist ausgeblieben – ausgerechnet in einem Landkreis, in dem ihre Chancen sehr günstig waren. Das kann als Schlappe für die Thüringer AfD gewertet werden, bietet aber keinerlei Anlass für Entwarnung aus Sicht der demokratischen Akteur*innen im Freistaat. Ein bemerkenswerter Seiteneffekt des Wahlausgangs vom letzten Sonntag ist, dass die vermutete Kandidatur Björn Höckes für das Direktmandat bei der Landtagswahl in einem Wahlkreis des Saale-Orla-Kreises voraussichtlich nicht zustande kommen wird. Fraglich ist nun, welchen Wahlkreis Höcke stattdessen anvisieren wird und ob die Niederlage beim Stimmungstest im Saale-Orla-Kreis zu weiteren Verwerfungen innerhalb der AfD führt.
Die AfD hat auf die Veröffentlichung der Correctiv-Recherchen am 10. Januar 2024 und die aufgeflammten Debatten über sie mit sichtbarer Nervosität reagiert. Die breiten demokratischen Protestaktivitäten gegen Rechtsextremismus im ganzen Land versucht die AfD derzeit besonders vehement kleinzureden und zu delegitimieren. Immer mehr Menschen wird bewusst, wie wichtig ein aktives Auftreten gegen Ideologien der Ungleichwertigkeit, Autoritarismus und Demokratiefeindlichkeit ist, und sie fordern zur kritischen Auseinandersetzung damit auf. Bisher allerdings bieten die demoskopischen Befunde auf Landes- und Bundesebene noch keine Hinweise, dass die AfD wesentlich an Rückhalt der Wähler*innen verliert. Somit bestehen enorme Herausforderungen im Vorfeld der Kommunal-, Europa- und Landtagswahlen in diesem Jahr – für alle demokratischen Akteur*innen, die die Machtübernahmefantasien der antidemokratischen, extremen und populistische Rechten durchkreuzen wollen und sich für stabile, sichere, demokratische Verhältnisse im Land starkmachen.
1 https://wahlen.thueringen.de/kommunalwahlen/kw_wahlergebnisse_LR.asp