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Kritische Stadtrundgänge halten Erinnerung in Witzenhausen wach

Eine Büste von Ernst Albert Fabarius im Innenhof der ehemaligen Deutschen Kolonialschule in Witzenhausen erinnert an dessen Vordenker und Gründungsdirektor. Foto: Stefan Flöper (CC BY-SA 4.0, eigene Bearbeitung)

Die einzige Kolonialschule Deutschlands, Keimzelle des Nationalsozialismus, straff organisierte Judenverfolgung: Witzenhausen ist geprägt durch einige dunkle Kapitel deutscher Geschichte. Kritische Stadtrundgänge halten Erinnerung wach und schaffen Raum für Debatte.

Von Josephine Köhne

Witzenhausen ist mit rund 15.000 Einwohner*innen eine idyllische Kleinstadt in Hessen, unweit von Kassel und Göttingen. Als kleinster Universitätsstandort Deutschlands und gleichzeitig Teil des größten und ältesten Anbaugebiets für Kirschen, liegt es eingebettet im romantischen Werratal. Von außen betrachtet könnte dort alles so schön sein. Aber im Stadtbild zeigt sich die dunkle Vergangenheit. Denn zur Stadt gehört auch das Gebäude der früheren einzigen Kolonialschule Deutschlands. Dort verband sich die antisemitische und menschenverachtende NS-Ideologie mit den kolonialen Machenschaften der Deutschen.

Ein Ort, geprägt von seiner Geschichte

Auf dem Gelände eines ehemaligen Klosters und der früheren Kolonialschule ist heutzutage der Fachbereich „Ökologische Agrarwissenschaften“ der Universität Kassel angesiedelt. Das weltweit anerkannte Zentrum für ökologischen Landbau zieht Studierende von überall nach Witzenhausen. Auch Simon von der Initiative „Gemeinsam für Witzenhausen“ hat die Stadt zum Wohnort seiner Wahl auserkoren. Unter anderem, weil er Witzenhausen als eine sehr politisierte Stadt schätzt. Denn in Witzenhausen trifft die Auseinandersetzung mit Kolonialismus und Antisemitismus aufeinander. Die Studierenden können genau wie andere Witzenhausener*innen die Vergangenheit der Stadt nicht ignorieren. Deshalb organisierten sie diesen Sommer lokalhistorische Stadtrundgänge zur geschichtlichen Aufarbeitung und Auseinandersetzung. Warum Stadtrundgänge? Die Stadt hat geschichtlich viel aufzuarbeiten und es ist alles fußläufig erreichbar, erzählt Simon. Die AG Bildung und Kultur der Initiative „Gemeinsam für Witzenhausen“ und die studentische Initiative „witzenhausen postkolonial“ veranstalteten in Zusammenarbeit die kritischen Stadtrundgänge zu den Themen „Jüdisches Leben in Witzenhausen“ und „Koloniale Geschichte“, mit Unterstützung durch die Amadeu Antonio Stiftung.

Die Deutsche Kolonialschule als „Keimzelle des Nationalsozialismus“

Zur Gründung der Deutschen Kolonialschule für Landwirtschaft, Handel und Gewerbe (kurz: DKS) im Jahr 1898 führte ein Mangel an ausgebildeten Siedlern in den Kolonien. Zu den deutschen Kolonien gehörten unter anderem afrikanische Staaten wie das heutige Namibia, Togo, Kamerun und Tansania. Doch auch nach dem Verlust der deutschen Kolonien 1919, wurde der Lehrplan ohne großartige Veränderungen bis 1944 weiter angeboten. Aus der Schule wurde ein Kolonialkundliches Institut. Der Fokus auf „Rassentheorie“ blieb weiterhin bestehen. Mit Beginn ihrer Gründung 1898 bis zu ihrer Schließung 1944 war die Schule dominiert von einem völkisch-rassistischen, nationalistischen und antisemitischen Denken. Von den Kolonialschülern initiiert, gründete sich 1928 die NSDAP-Ortsgruppe in Witzenhausen und die städtische SA. Durch den großen Zulauf von Schülern der DKS, entstand bald darauf sogar eine eigene SA-Gruppe an der Schule.

Und auch außerhalb der Schule verbreitete sich die nationalsozialistische Ideologie. Die antisemitisch getriebenen Novemberpogrome begannen in Witzenhausen bereits einen Tag früher als die reichsweiten Ausschreitungen, am 8. November 1938. Neben SA-Angehörigen beteiligten sich auch weitere Einwohner*innen an den Übergriffen auf die jüdischen Menschen und Einrichtungen der Stadt. Die einzige Synagoge im Ort wurde zuerst geplündert und einen Tag später niedergebrannt. Zuerst waren es vermögende jüdische Männer, die in diesen Tagen ins KZ Buchenwald verschleppt wurden. Alle weiteren jüdischen Bewohner*innen Witzenhausens wurden mit Beginn des Krieges nach und nach deportiert. Zur Zeit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 lebten in Witzenhausen noch etwa 120 Jüdinnen*Juden. 1943 wurde die Stadt von den NS-Behörden offiziell als „judenfrei“ deklariert. Mindestens 55 der deportierten Witzenhausener sind während der Shoah ermordet worden.

Mit dem Stadtrundgang zum „Jüdischen Leben in Witzenhausen“ sollte über das noch vor 100 Jahren bestehende jüdische Leben in Witzenhausen informiert und erinnert werden. Dafür besuchte der Rundgang mehrere Orte, die für die Jüdinnen und Juden damals von zentraler Bedeutung waren. Darunter Gebäude, die ehemals als Toraschulen dienten, ein Gedenkstein in Erinnerung an die frühere Synagoge und den jüdischen Friedhof von Witzenhausen. Ein weiterer besonderer Erinnerungsort auf dem Rundgang ist ein Apfelbaum, dessen Sorte ein jüdischer Witzenhausener während seiner Haft im KZ gezüchtet haben soll. Neben diesen Orten erinnern in der ganzen Stadt Plaketten an die jüdischen Familien, die damals in Witzenhausen lebten.

Ältere, traditionelle Stadtgesellschaft trifft auf engagierte Studierende

Der zweite Stadtrundgang fand in Zusammenarbeit mit der Initiative „witzenhausen postkolonial“ statt. Thematisch ging es um die Verbindungen Witzenhausens zu den kolonialen Machenschaften Deutschlands. Der Dreh- und Angelpunkt: die Kolonialschule. Noch heute ist eine Straße in Witzenhausen nach ihrem Gründer Ernst Albert Fabarius benannt. Allein die Tatsache, dass die Straße durch Nationalsozialisten so benannt wurde, könnte einem zu denken geben. Doch nicht nur die Straße erinnert großmütig an den „Kolonialpädagogen“. Auf dem alten Klostergelände, das ehemals zur DKS gehörte und seit 1956 zum Deutschen Institut für Tropische und Subtropische Landwirtschaft (DITSL), steht außerdem eine Büste des Mannes. Eine Informationstafel aus dem Jahr 2016, angebracht vom DITSL, beschreibt unkritisch seine Rolle als Gründer und erster Direktor der Kolonialschule. Die Einordnung seines rassistischen Wirkens geschah erst durch Initiative von Studierenden eines historischen Seminars im Jahr 2017 in Form einer ergänzenden Informationstafel. Auch während des Rundganges war die Büste im Zentrum konträrer Meinungen. Während Johanna von „witzenhausen postkolonial“ den Ort des Denkmals eher als kritisch betrachtet, gab es beim Rundgang auch Gegenstimmen. Einige Witzenhausener sehen in Fabarius einen Pionier, der mit der Gründung einer Schule auch Gutes getan habe. Wenn es nach Johanna geht, wird zu viel an Fabarius als „personifizierte Schule“ festgemacht. Er begründete zwar die Denkschrift zur Gründung der Schule und war bis zu seinem Tod der Direktor, doch hinter der Schule steckten weit mehr Menschen, wie auch bürgerliche Förderer, die den Aufbau der Schule durch Geld ermöglichten. Der Streitpunkt Büste bleibt weiterhin bestehen: Während die einen darauf plädieren, dass die Büste bleibt, gibt es andere Meinungen, die anstatt eines Denkmalortes das Exponat eher im Museum sehen. Denn es wäre wichtiger, die schulische Institution zu kontextualisieren als den Personenkult aufrechtzuerhalten, findet Johanna.

Im Nachklang der Stadtrundgänge wird ersichtlich, dass diese nicht nur zur Information, sondern auch als Raum für Austausch verschiedener Meinungen dienen. Im Kontext einer sehr politisierten Stadt bieten die Stadtrundgänge einen Ort für demokratischen Diskurs und Vielfalt. An Witzenhausen zeigt sich, wie die Bewohner*innen das Stadtbild aktiv mitgestalten. Für Simon sind die Stadtrundgänge Ausdruck eines selbstbestimmten Lebens und der Möglichkeit, auf den Ort, an dem man lebt, Einfluss nehmen zu können.

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