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Interview

„Für einige war es eine Herausforderung, sich auf eine Reise nach Israel einzulassen“

Eine Gruppe Jugendliche von der Berliner Rütli-Schule reist 2019 nach Israel und in die Palästinensischen Gebiete. Dort besuchen sie Sehenswürdigkeiten, treffen verschiedene Menschen und versuchen die Geschichte und Konflikte in der Region besser zu verstehen. Nach ihrer Rückkehr ist der Comic „Mehr als 2 Seiten“ entstanden, der von der Zeit erzählt und von der Amadeu Antonio Stiftung gefördert wurde. Die Hauptfiguren sind die Schülerinnen Heba und Narges, die persönlich, einfühlsam und neugierig von ihren Erlebnissen, ihren Gedanken und Fragen auf der Reise berichten. Mit dem Comic ist gelungen, die Geschichte der Region mit der der Schüler*innen und ihrer Reise zu verbinden und dabei zu zeigen: Es gibt mehr als zwei Seiten. Wir haben mit Lehrer Mehmet Can, der Pädagogin Jamina Diel und dem Grafikdesigner und Illustrator Mathis Eckelmann über den Comic und seine Entstehung gesprochen.

Wie ist die Idee zu der Reise nach Israel und in die Palästinensischen Gebiete entstanden?

Mehmet Can: Auf dem Rütli Campus setzen wir uns sehr intensiv mit den Themen Israel, Palästina und dem Konflikt auseinander. Die Idee, mal so eine Reise zu machen, lag auf der Hand. Es gab auch ein unglaubliches Interesse vonseiten der Schülerinnen und Schüler, sich zu beteiligen. Und deshalb haben wir die Reise dann angeboten. Im selben Jahr fand noch eine weitere Reise statt, die Kollegen im Rahmen eines zweijährigen Projektkurses “Naher Osten” angeboten haben.

Wie haben die Schüler*innen auf das Angebot reagiert?

Mehmet Can: Die Reaktionen waren überwältigend. Es gab viel mehr Bewerbungen als Plätze. Da waren auch vereinzelte skeptische Stimmen und wir wissen auch, wie emotional das Thema sein kann. Für einige war es eine Herausforderung, sich auf den Gedanken einzulassen, in ein Land zu reisen, dass sie tendenziell eher negativ beurteilen. Aber wir haben da das Gespräch mit den Schülern und Schülerinnen gesucht und auch diese waren dann meist überzeugt.

Was war auf der Reise besonders berührend für die Schüler*innen? 

Jamina Diel: Das waren ganz unterschiedliche Momente. Eine Schülerin beispielsweise hat noch oft vom atemberaubenden Künster*innenviertel in Yafo geschwärmt. Jemand anderes musste während der Reise in ein Krankenhaus und war positiv überrascht, dort von einer Ärztin mit Kopftuch behandelt zu werden. Für eine Schülerin aus Damaskus war es unter anderem der Besuch in einer israelisch-jüdischen High School, in der sie Schüler*innen mit unterschiedlichen Migrationsbiografien kennenlernte. Eine anwesende Mutter stammte evenfalls aus Syrien.  Der Besuch des Felsendoms und der Al-Aksa Moschee war für viele muslimische Schüler*innen ein Highlight. Und alle Jugendlichen waren zutiefst betroffen von einem Gespräch mit einem israelischen und einem palästinensischen Vater, die beide ihre Töchter im Konflikt verloren haben. Die Momente waren so zahlreich, dass nicht ansatzweise alle es in den Comic schafften.

Hat sich ihre Perspektive auf den Nahostkonflikt verändert und wenn ja, wie?

Jamina Diel: Durch die Erfahrungen der Reise haben die Schüler*innen ein vielfältiges und lebendiges Bild von der Region gewonnen und ganz unterschiedliche Perspektiven kennengelernt. Das verändert natürlich auch die Wahrnehmung des Konflikts. In einer Gesellschaft, in der es immer wieder zu einseitigen und vereinfachenden Darstellungen in Bezug auf den Konflikt kommt, ist es wichtig, diese aufgrund der Erfahrungen der Schüler*innen nun einfacher gemeinsam entlarven zu können. Für nachhaltige Bildung und Ambiguitätstoleranz bedarf es jedoch weiterer Projekte und Auseinandersetzungen mit dem Thema, wie z. B. durch den Comic.

Wie ist dann aus der Reise der Comic geworden?

Mathis Eckelmann: Das war eine sehr spontane Idee, die ich am Anfang auch gar nicht so ernst gemeint habe. Mehmet hat die Idee aber sofort begeistert aufgenommen.

Mehmet Can: Warum mir die Idee gleich so gut gefallen hat, ist, weil der Comic noch mal eine ganz andere Gelegenheit bot, die Reise und die gewonnen Eindrücke aufzuarbeiten und sich mit interessierten Schülerinnen und Schülern weiterführend mit dem Nahostkonflikt, aber auch dem Alltag der Menschen in der Region zu beschäftigen.

Warum eigentlich ein Comic?

Mehmet Can: Also ein Grund war ganz klar, unsere Reise zu verarbeiten und dann am Ende ein konkretes Produkt zu haben, das für uns festhält, wie wir die Reise erlebt haben. Aber darüber hinaus auch eine allgemeine Geschichte zu erzählen, die aufklärt über Israel, seine Geschichte, aber auch den Alltag vor Ort mit all den Herausforderungen, die die Menschen dort haben. Und vor allem auch bezogen auf den Titel: Mehr als 2 Seiten“, den stereotypisierenden, unterkomplexen Sichtweisen auf den Konflikt entgegenzuwirken und die Vielfalt der Positionen auch innerhalb der israelischen und palästinensischen Gesellschaft zu zeigen.

Mathis Eckelmann: Der Anspruch war, über die Form des Comics einen niedrigschwelligen, spannenden Zugang zu bieten, auch für jüngere Schülerinnen und Schüler. Das Thema ist ja schon sehr komplex und wir haben versucht, es so aufzuarbeiten, dass es auch für Jüngere verständlich und ansprechend ist. Der Plan ist auch, mit Bildern bestehende Bilder zu irritieren. In Bezug auf den Nahostkonflikt haben viele Menschen, Schüler*innen aber auch Lehrer*innen, diese ikonischen Bilder im Kopf, in denen ein klares Gut/Böse Schema vorherrscht. Comics haben das Potenzial, sie zu durchbrechen. Durch die offene Erzählstruktur und auch weil sie so scheinbar vereinfacht und damit aber eben auch witzig sein können. Die Überlegung war, dass es dieser Zugang auch den Lehrkräften einfacher macht, sich dem Thema anzunähern und im Zweifelsfall auch ihre eigenen Bilder zu hinterfragen.

 

Wie lief der Prozess bei der Erstellung des Comics?

Mathis Eckelmann: Wir hatten alle keine wirkliche professionelle Erfahrung damit, längere Geschichten zu schreiben und haben uns dann also erstmal eher amateurhaft daran gemacht. Es ging zuerst darum, ein Skript zu erstellen, dass dann in Bilder übersetzt wird. Wir haben dann mit Susann Reck zusammengearbeitet, die ein Coaching für Comic-Autor*innen anbietet. Das hat uns sehr geholfen.

Wie seid ihr genau vorgegangen und inwieweit waren die Schüler*innen da eingebunden?

Jamina Diel: Ganz zu Beginn haben wir alle Schüler*innen eingeladen, die mit auf der Reise waren, und ihnen von unserer Idee berichtet. Gemeinsam haben wir dann in mehreren Workshops die Reise noch einmal Revue passieren lassen und Eindrücke gesammelt, sortiert und zusammengefasst, was für die Schüler*innen die tatsächlich prägendsten Situationen waren. Darauf aufbauend haben die Schüler*innen einen ersten Beispieldialog geschrieben. Mit drei sehr interessierten Schüler*innen haben wir uns dann noch öfter getroffen, um aus den vielfältigen Erfahrungen eine Story zu entwickeln, welche wir dann ausformuliert, gezeichnet und mit Informationen und Anregungen zum Nachdenken ergänzt haben. Dabei hat uns unser Reiseleiter in Israel, Uriel Kashi, sehr geholfen.

Was war euch dabei besonders wichtig?

Mehmet Can: Wir wollten natürlich eine praktische Handreichung und eine gute Geschichte erzählen, aber auch speziell die Perspektive der Schülerinnen und Schüler und ihren Erfahrungen Raum geben. Da war dann die Frage: Wie werden die Ängste und Vorbehalte der Beteiligten wahrgenommen, wenn wir davon erzählen? Reproduzieren wir damit vielleicht sogar problematische Vorstellungen zum Beispiel über Geflüchtete? Das ist etwas, worüber wir uns sehr lange Gedanken gemacht haben, damit unsere Schülerinnen und Schüler, die unglaublich motiviert und engagiert sind, nicht unter ein komisches Narrativ subsumiert werden.

Jetzt sind schon fast zwei Jahre seit der Reise vergangen. Was ist geblieben?

Mehmet Can: Nach der Reise ging es weiter. Neben dem Comic gab es noch andere Aktionen und Projekte. Wir wurden zum Beispiel mit den Schülerinnen und Schülern vom israelischen Botschafter eingeladen, haben uns mit einem Holocaustüberlebenden getroffen und bekamen Besuch von israelischen Jugendlichen. Es war uns wichtig, dass es nicht nur ein einmaliges Projekt bleibt, sondern fest in den Schulalltag eingebunden wird und es eine Selbstverständlichkeit gibt, weiterhin zu dem Konflikt zu arbeiten. Da bin ich auch dankbar für die Bereitschaft meines Kollegiums und der Schulleitung, die intensive Auseinandersetzung mit Antisemitismus, Rassismus und den Beziehungen zwischen Israel und Palästina zu unterstützen und voranzutreiben.

Mathis Eckelmann: Letztendlich ist es auch eine Honorierung für die Schüler und Schülerinnen, die bei der Reise dabei waren. Ich habe gemerkt, dass der Comic für sie noch mal eine wichtige Anerkennung war. Für den Mut, den sie aufgebracht haben, um dabei zu sein.

Der Comic „Mehr als zwei Seiten“ kann kostenlos heruntergeladen werden oder gegen Portokosten und gerne auch eine Spende von hier bezogen werden:

https://mehrals2seiten.de/

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