Vier Jahre nach dem rassistischen Mordversuch an B. Efe macht eine Initiative in Kassel darauf aufmerksam, wie Staat und Behörden schon wieder versagen.
2020 wurde der Taxifahrer B. Efe in seinem Auto von einem Fahrgast fast ermordet. Das Motiv: Rassismus. Vier Jahre später kämpft er immer noch um Anerkennung und finanzielle Entschädigung. Doch in der NSU-Stadt Kassel haben die Behörden offenbar nichts aus der Vergangenheit gelernt. Ein Gespräch mit der Soligruppe B. Efe 09 über die Verzweiflung des Betroffenen, das Motiv Rassismus und rechte Gewalt.
Belltower.News: B. Efe hat einen rassistischen Mordversuch überlebt. Was ist damals passiert?
In der Nacht vom 20. auf den 21. Juni 2020 war Efe als Minicar-Fahrer in Kassel unterwegs. Es war die erste Nacht während der Corona-Zeit, in der es wieder erlaubt war, feiern zu gehen. Beim Club22 auf der Friedrich-Ebert-Straße stieg der Täter in Efes Auto. Er nannte kein konkretes Ziel, sondern gab Efe nur kurze Anweisungen wie „Bieg hier ab,“ „jetzt rechts,“ und „jetzt links.“ In der Kasseler Nordstadt, an der Ecke Fraunhoferstraße/Knutzenstraße, wollte der Täter, dass Efe anhält. Als Efe daraufhin die Fahrtkosten einforderte, beleidigte der Täter ihn rassistisch mit den Worten „Scheiß Ausländer, nur Geldfresser“ und stach ihm anschließend mit einem Messer in den Hals, wobei er nur knapp die Halsschlagader verfehlte. Nach der Tat flüchtete der Täter in Richtung Fiedlerstraße. Efe überlebte den rassistischen Mordversuch, weil er sich selbst in das nahegelegene Krankenhaus fahren konnte. Aber Efe hat nicht nur einen rassistischen Mordversuch überlebt, sondern er überlebt seit dem Tag für Tag: Denn das was der versuchte Mordversuch ausgelöst hat, prägt sein komplettes Leben.
Wie haben die Behörden reagiert?
Obwohl Efe von Anfang an klar war, dass es sich um einen rassistisch motivierten Angriff handelte und dies auch so kommunizierte, benannten weder die Polizei noch die Lokalzeitung HNA dies in ihren ersten Stellungnahmen und Berichten. Das Ignorieren der Stimmen von Überlebenden und Angehörigen rechter Gewalt durch staatliche und polizeiliche Stellen hat eine lange Tradition. Dies zeigte sich auch beim NSU, wo zunächst im familiären Umfeld der Betroffenen ermittelt wurde und die Hinweise auf ein rechtes Tatmotiv ignoriert wurden. Dieses Problem verdeutlicht auch das Zitat von Mehmet Demircan: „Ich kenne meine Feinde.“ Er war der Organisator der Demonstration „Kein 10. Opfer“ nach dem neunten NSU-Mord 2006 in Kassel. Verschiedene Personen und Organisationen kritisierten die Nicht-Benennung von Rassismus als Tatmotiv. Erst in einer dritten Pressemitteilung der Polizei – zehn Tage nach dem Angriff – wurde von einem „möglicherweise fremdenfeindlichen Tatmotiv“ gesprochen, obwohl Efe von Anfang an bei der Polizei von einem rassistischen Mordversuch berichtet hatte.
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Wie ist die Situation vier Jahre später?
Bis heute ist der Täter nicht gefunden worden, obwohl sowohl Videoaufnahmen als auch eine Personenbeschreibung vorliegen. Die polizeilichen Ermittlungen wurden eingestellt, da sich kein konkreter Verdacht erhärten ließ. Auch vier Jahre später fehlt vom Täter jede Spur. Dass der Täter immer noch frei herumläuft, belastet Efe enorm, und er fragt sich immer wieder: „Warum kann man den Täter nicht finden?“ Durch seinen Anwalt, Rasmus Kahlen, haben wir erfahren, dass die Polizei nicht in der rechten Szene ermittelt hat. Efe musste viel zu oft sagen, dass er rassistisch beleidigt wurde, bis ihm geglaubt wurde. Wir fragen uns: Welche Konsequenzen werden daraus gezogen? Wie ernsthaft sucht die Polizei nach dem Täter? Warum suchen sie nicht in der rechten Szene?
Haben die Behörden in der Zeit irgendwie geholfen?
Efe kämpft seit Jahren um finanzielle Entschädigung. Leider ist der Kampf um finanzielles Überleben für viele Betroffene von rechten, rassistischen und antisemitischen Gewalttaten Normalität.
Viele Betroffene rechten Terrors kennen den ständigen Kampf mit dem Opferentschädigungsgesetz (OEG), welches nicht zu finanzieller Entlastung führt, sondern langfristig zermürbt. Vier Jahre nach der Tat hat Efe bis heute aufgrund einer zu niedrigen Einstufung des Schweregrads kein Geld durch das OEG erhalten. Er klagt dagegen, doch wann und ob das erfolgreich sein wird, bleibt unklar. In Hessen gibt es den sogenannten Hessischen Opferfonds, der 2021 maßgeblich durch Druck der Initiative 19. Februar eingerichtet wurde und Betroffene von schweren Gewaltverbrechen in Hessen rückwirkend seit 2019 entschädigen soll. In den Debatten im Landtag zur Einführung des Fonds wurde immer wieder auf die rechten Morde in Hanau 2020 und Kassel 2019 verwiesen. Das Ziel der Regierung war es, ein Zeichen der Solidarität und Nächstenliebe gegenüber Mitgliedern der Gesellschaft zu setzen, die einen schweren Schicksalsschlag erlitten haben.
Aber bei Efe ist das nicht gewollt?
Zwei Mal wurde sein Antrag abgelehnt mit der Begründung, sein Fall sei nicht von „landesweiter Bedeutung“. Wir fragen uns ernsthaft: Wie genau legt die Kommission das fest? Soll jede betroffene Person rechter Gewalt sofort dazu bereit sein, Öffentlichkeitsarbeit zu machen, um diese Entschädigungsleistung erhalten zu können? Für uns ist jeder rassistische, antisemitische und rechte Mordversuch in Hessen von landesweiter Bedeutung. Für Efe ist die Entscheidung unerträglich: Nach der Ablehnung sagte er: „Wäre ich gestorben, hätte wenigstens meine Familie Geld bekommen. Was soll ich machen? Soll ich mir ein Bein abschneiden?“. Wir sehen, dass die staatlichen Entschädigungsstrukturen nicht funktionieren. Staatliche Institutionen schmücken sich medial mit Unterstützungszusagen, während sie Betroffene wie Efe in der Praxis allein lassen oder mit zusätzlichen bürokratischen Hürden belasten. Sie verstärken damit die emotionale Belastung und die finanziellen Abhängigkeiten, zum Beispiel vom sozialen Umfeld, weiter. Efe sagt: „Immer kämpfe ich für finanzielle Entschädigung und am Ende werde ich doch enttäuscht.“
Wie geht es Efe heute?
Früher mochte Efe das Taxifahren sehr. Er fuhr hauptsächlich nachts und teilte sich das Auto mit einem Kollegen, der tagsüber unterwegs war. Efe hatte viele Stammkunden, die ihn immer wieder anriefen, egal ob er im Dienst war oder nicht. Vor dem rassistischen Mordversuch sagte er einmal zu einer Journalistin: „Ich liebe Autofahren. Gebt mir einen Kaffee und ich bringe euch nonstop bis nach Italien oder Holland.“ Doch der rassistische Mordversuch hat sein Leben grundlegend verändert. Die Folgen für ihn und sein Umfeld sind bis heute immens. Obwohl die Tat fast vier Jahre zurückliegt, prägt sie weiterhin seinen Alltag. In einem Interview beschrieb Efe die Konsequenzen so: „Seit der Tat bin ich ein trauriger Mensch geworden. Ich kann nicht mehr richtig schlafen. Ich habe kein Vertrauen mehr in die Menschen. So gern würde ich ohne Angst in die Stadt gehen, aber ich muss mich immer umdrehen. Die Angst ist ständig in meinem Kopf. Der Täter hat mein Leben kaputt gemacht. Früher war ich ein glücklicher Mensch. Seit drei Jahren bin ich ein anderer Mensch.“
Seit der Tat kann Efe aufgrund seines psychischen Zustands nicht mehr arbeiten und kämpft seitdem um sein finanzielles Überleben, das fremdbestimmt und geprägt durch eine Abhängigkeit von staatlichen Strukturen ist. Efe hat keine Kraft mehr, was auch der Grund ist, warum er dieses Jahr keine Pressearbeit machen wird. Er ist wütend und frustriert über die fehlende Anerkennung, die mangelnde Entschädigung und den nicht gefassten Täter. Diese Wut und Frustration sollen dieses Jahr an seinem Jahrestag zum Ausdruck gebracht werden. Sein Zitat, das unseren Aufruf leitet, bringt es auf den Punkt: „Worauf warte ich und wofür?“. Vier Jahre später kommen wir zu dem Fazit: Kein Verlass auf Staat und Polizei. Kein Verlass auf die Polizei, die lange Rassismus als Tatmotiv nicht anerkannt hat und die nicht innerhalb rechter Strukturen nach dem Täter gesucht hat. Die Polizei bringt keine Sicherheit! Kein Verlass auf den Staat, der finanzielle Entschädigung erschwert und rechten Terror nicht erfassen kann.
In Kassel hat der NSU Halit Yozgat ermordet. Was hat die Stadt daraus gelernt?
Die Gewalt, die Efe erfahren hat, ist, wie du auch schon aufgezeigt hast, kein Einzelfall in Kassel. Halit Yozgat wurde hier ermordet, Walter Lübcke ebenfalls und Ahmed I. überlebte 2016 einen rassistischen Mordversuch, mutmaßlich vom selben Täter begangen. Die Liste rechter Gewalt in Kassel ließe sich noch weiter fortführen. Aus unserer Perspektive hat die Stadt kaum etwas daraus gelernt.
Im Falle von Efe ist die fehlende Solidarität seitens der Stadt besonders auffällig. Der damalige Oberbürgermeister Christian Geselle hat sich bis heute nicht zu dem rassistischen Mordversuch geäußert, geschweige denn Solidarität gezeigt oder Efe ein Gespräch angeboten. Zumindest hat sich dies durch den neuen Oberbürgermeister geändert. Auch im Prozess mit der Errichtung einer Gedenktafel stoßen wir immer wieder an neue Hürden. Die Stadt hat vor kurzem verkündet, dass Efe kein Geld von der Stadt Kassel bekommen wird. Das ist problematisch, denn wenn die finanzielle Entschädigung auf Bundes- und Landesebene scheitern, sollte wenigstens über einen kommunalen Soforthilfefonds nachgedacht werden. Dafür interessiert sich aber aktuell in Kassel nur DIE LINKE, die aktuell diese Idee weiterverfolgt.
Wird der Mordversuch von der Stadt aufgearbeitet?
Nein, es gab nie ein ehrliches Unterstützungsangebot oder eine Aufarbeitung dessen, was Efe erleben musste. Jegliches Erinnern und jegliche Öffentlichkeitsarbeit musste Efe mithilfe der Soligruppe selbst erkämpfen. Ein großer Wunsch von ihm ist es, eine Gedenktafel am Startort der Taxifahrt am 21. Juni 2020 aufzustellen, die an die Tat und sein Überleben erinnert. Wir erhoffen uns von dieser Gedenktafel eine stärkere Sichtbarkeit für den rassistischen Mordversuch an B. Efe sowie eine öffentliche Markierung des Ortes.
Es ist uns wichtig, dass die Tafel auch auf andere rechte, rassistische und antisemitische Taten in Kassel und darüber hinaus verweist. Insbesondere auf der Friedrich-Ebert-Straße, wo auch der Beginn der Tat markiert ist, kam es in den vergangenen Jahren immer wieder zu rechten Angriffen. Ebenso kann die Tafel als Informationspunkt dienen, bei dem sich Betroffene von rechter Gewalt informieren und mögliche Kontaktadressen vorfinden. Derzeit organisieren wir diese Tafel neben unserer politischen Arbeit, was sehr zeitaufwendig ist, zum Beispiel durch das Telefonieren mit Ämtern wegen der Anträge und die Schaffung von Finanzierungsmöglichkeiten für die Tafel. Wir sehen hier klar die Stadt in der Verantwortung, ein solches Projekt zu unterstützen und zu beschleunigen, wenn sie sich glaubhaft gegen rechte Gewalt positionieren will. Gerade jetzt sehen wir weder finanzielle noch strukturelle Unterstützung. Ein würdevoller Umgang der Stadt Kassel mit einem Überlebenden rechter Gewalt sieht für uns anders aus. Wir fühlen uns in diesem Prozess alleine gelassen.
Wie ist die Soligruppe entstanden?
Die Soligruppe ist Anfang 2023 aus Efes Wunsch entstanden, den rassistischen Mordversuch an ihm öffentlich noch weiter sichtbar zu machen und für Gerechtigkeit zu kämpfen. Dies war ein neuer Schritt in der gemeinsamen Arbeit, die kurz nach dem Mordversuch begann, getragen durch andere solidarische Initiativen und Menschen. Ein Auslöser für die Gründung der Soligruppe B. Efe 09 war ein Treffen des Solidaritätsnetzwerkes von Angehörigen, Betroffenen und Überlebenden rechter, rassistischer und antisemitischer Morde und Gewalt aus ganz Deutschland. Dort lernte Efe zahlreiche andere Überlebende und Angehörige kennen, vernetzte sich und sammelte Kraft, um weiter für Gerechtigkeit zu kämpfen. Auf der Rückfahrt entwickelte sich dann der Name: Zentral war es, dass der Name von Efe dort stehen sollte. Für die Soligruppe haben wir uns entschieden, weil wir miteinander für individuelle Unterstützung für Efe kämpfen und dabei aber immer den alltäglichen rechten Terror mitbekämpfen. 09 ist das Autokennzeichen aus Efes Geburtsort, Aydın. Seit diesem Treffen sind wir Teil dieser wichtigen bundesweiten Vernetzung.
Was sind eure Forderungen?
Unsere Forderungen sind klar definiert: Aufklärung, Entschädigung und ein selbstbestimmtes Gedenken. Seit dem Mordversuch fordern wir konsequent Aufklärung. Es ist entscheidend, dass der Täter gefunden wird. Die Polizei muss die Ermittlungen wieder aufnehmen und intensiver in der rechten Szene ermitteln. Das dient nicht nur Efes Sicherheit, sondern auch der Sicherheit aller potenziell von rechter Gewalt Betroffenen.Wir setzen uns für ein würdiges und selbstbestimmtes Erinnern ein, das Efes Bedürfnisse und Wünsche in den Mittelpunkt stellt, ohne seine Stimme zu übertönen oder zu instrumentalisieren. Seine Geschichte und Perspektive sollen als Mahnung für die Gegenwart und Zukunft dienen. Deshalb möchten wir die Gedenktafel errichten lassen. Der Mordversuch an Efe ist ein trauriger Bestandteil in der Serie rechter Gewaltexzesse in Kassel und darf niemals vergessen werden. Es ist wichtig, dass die Stadt Kassel sich daran erinnert, dass das Leben eines Menschen mitten in der Stadt aufgrund rassistischer Motive zerstört wurde. Das sollte sowohl Teil eines würdigen und anerkennenden Umgangs mit dem Überlebenden Efe sein als auch verdeutlichen, welche große Gefahr Rassismus, Antisemitismus und rechter Terror in unserer Gesellschaft darstellen und wie wichtig es ist, konsequent dagegen einzutreten. Wir fordern eine angemessene und nachhaltige Entschädigung für Efe. Die bestehenden staatlichen Entschädigungsstrukturen funktionieren nicht. Deshalb setzen wir uns für die Einrichtung eines kommunalen Soforthilfefonds für Betroffene rechter Gewalt ein, der unbürokratisch und schnell funktioniert. Eine angemessene finanzielle Entschädigung muss Teil einer würdigen Erinnerungspolitik sein, die die Stadt Kassel Efe bis heute schuldet.
Die Soligruppe B. Efe 09 wird im Rahmen des Modellprojekts „Selbstbestimmt vernetzen, erinnern und bilden“ der Amadeu Antonio Stiftung gefördert. Das Modellprojekt richtet sich an Gedenkinitiativen von Überlebenden und Hinterbliebenen rechtsextremer, rassistischer, antisemitischer und antiziganistischer Anschläge nach 1945.
Es soll im Förderzeitraum von 2023 bis 2025 die Bemühungen der Gruppen um die Anerkennung der Taten, die Missstände während des Aufklärungsprozesses sowie das gesamtgesellschaftliche Problem von rechtsextremer Gewalt, Rassismus, Antisemitismus und struktureller Diskriminierung unterstützen. Das Modellprojekt wird durch den Etat der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration sowie der Beauftragten der Bundesregierung für Antirassismus finanziert.