Rassismus gehört in Deutschland leider zum neuen Jahr wie ein Kater und das Vorsätze-Machen.
zuerst erschienen auf belltower.news
Nach zwei Jahren mit coronabedingten Einschränkungen konnte Deutschland den Jahreswechsel endlich wieder gebührend feiern – so freuten sich zumindest viele. In Leipzig wurde ein 17-Jähriger durch nicht zugelassenes Feuerwerk so schwer verletzt, dass er noch in der Nacht starb. In Sachsen-Anhalt wurde ein 42-jähriger Mann, der auf der Straße Feuerwerk abbrennen wollte, von einem 61-Jährigen Autofahrer angefahren und getötet. Der Fahrer hatte 1,86 Promille. Im thüringischen Landkreis Gotha verlor ein Mann durch die „Detonation einer Kugel- oder Rohrbombe“ beide Unterarme, wie die Polizei berichtet. In Schleiz, ebenfalls Thüringen, verlor ein 21-Jähriger durch eine Kugelbombe eine Hand. In Jülich verlor ein 27-Jähriger zwei Finger, im baden-württembergischen Hohberg-Hofweier wurde ein 38-Jähriger so schwer durch einen Feuerwerkskörper im Gesicht verletzt, dass er per Hubschrauber in eine Spezialklinik gebracht werden musste. In Nordrhein-Westfalen wurden ein 40-jähriger Mann und seine 8-jährige Tochter beim Zünden von Silvesterraketen schwer verletzt. In unterschiedlichen Orten und Städten gerieten Balkone, Wohnungen, geparkte Autos oder Müllcontainer in Brand. In Balve (NRW) starb eine Frau bei einem Wohnungsbrand.
Im rechtsalternativen Diskurs sind abgerissene Körperteile, verletzte Kinder und andere Bölleropfer aber nicht der Rede wert. Hier dreht sich alles um Rassismus. Denn in Berlin berichten Polizei und Feuerwehr über Angriffe – allerdings, ohne Details über Angreifende zu veröffentlichen. In 38 Fällen seien Feuerwehrleute angegriffen worden, 15 wurden dabei verletzt, genauso wie 18 Polizist*innen. Während nun Innenministerin Nancy Faeser (SPD) harte Strafen für „Chaoten und Gewalttäter“ fordert, hat die Rechtsaußen-Bubble schon eine andere Gefahr ausgemacht: Schuld ist nur die Migration.
Schon zu Beginn des neuen Jahres nutzen also Rassist*innen ein gesellschaftlich problematisches Ereignis, um das Fehlverhalten rassistisch aufzuladen – ohne Ermittlungen abzuwarten, mit kaum mehr Fakten als ein paar Video-Ausschnitten, die oft nicht einmal Schlüsse auf die Täter zulassen – also vor allem aufgrund eigener Vorurteile.
Ganz vorn dabei in der Debatte ist Julian Reichelt. Der Ex-Bild-Chef mit eigenem YouTube-Kanal kündigt für den Abend des 2. Januar eine Doku mit dem Titel „Die Gesetzlosen“ an. Der YouTuber hatte in der Silvesternacht zunächst ein Video mit Raketen am Nachthimmel gepostet und mit den Worten kommentiert: „Now you tell those damn Greens it’s the sound of freedom“ („Nun erzählt den verdammten Grünen, dass das die Geräusche der Freiheit sind“). Aber zahlreiche Kommentare unter seinem Post wiesen in eine ganz andere Stoßrichtung des Hasses, und dies führte offenbar zu einer Neubewertung der Situation. Wenige Stunden später ist Julian Reichelt sicher: „Wir brauchen keine Debatte über Feuerwerk, sondern über Migration und Verachtung für unseren Staat.“
Reichelt stellt einen vermeintlichen Zusammenhang zur Silvesternacht 2015/2016 in Köln her. Damals kam es zu Angaben über mehrere sexuelle Übergriffen auf der Domplatte, von denen nur sehr wenige aufgeklärt wurden. Doch die Vorfälle heizten eine ohnehin schon enthemmte Debatte um Geflüchtete und Rassismus weiter auf. Diesmal waren keine Frauen involviert, aber der Grund dafür ist laut Reichelt die Konsequenz aus der Silvesternacht in Köln: Dass „Frauen sich nicht mehr auf die Straße trauen“.
Offener zeigt Alice Weidel (AfD) ihre Gesinnung. Sie twittert den Screenshot eines Artikels aus der Welt in dem es heißt „In Berlin haben Menschen in der Silvesternacht mit Pyrotechnik auf Fahrzeuge, Gebäude und Passanten geschossen“. Laut Weidel kann es sich dabei keinesfalls um Deutsche gehandelt haben – jedenfalls nicht im Sinne der AfD. Die AfD-Chefin ist sicher, dass die Täter*innen migrantisch gewesen sind: „Ab diesem Jahr werden all die ‚Menschen‘ eingebürgert. Dann können die Medien ohne schlechtes Gewissen schreiben, dass ‚Deutsche‘ Einsatzkräfte attackierten.“
Stephan Brandner, stellvertretender AfD-Vorsitzender und Bundestagsabgeordneter aus Thüringen, hatte einen Tag vor Silvester noch stolz den eigenen Böllervorrat präsentiert.
Nach dem Jahreswechsel macht er sich aber keine Gedanken über abgerissene Gliedmaßen in seinem Bundesland, sondern lieber Andeutungen, die seine Fans sehr gut verstehen: „Vor einigen Jahren“ habe es Vorfälle wie in Berlin nicht gegeben. „Aufzuklären ist auch, Personen welchen Hintergrunds hier massive Straftaten begangen haben“, so Brandner.
Seine Fans wissen Bescheid. Unter den Twitter- und Facebookposts des Abgeordneten tobt der – leicht konfuse – Mob. Von „Pack“ ist die Rede und „Passdeutschen“, die randaliert hätten (gemeint sind Menschen mit deutschem Pass und Migrationsgeschichte, die in der biologistischen Weltsicht rechtsaußen keine „echten“ Deutschen sein könnten). Die Medien würden die wahren Täter verschweigen. Die werden nämlich laut Brandners Facebookfans nur genannt, wenn es sich um Deutsche handeln würde. Andere Kommentator*innen driften noch ein bisschen weiter ab. Einige haben sogar Verständnis für die Übergriffe, denn die träfen ja die Polizei, die bei den Maßnahmenprotesten „alte Menschen mit Schlagstöcken bearbeitet, zu Boden gerissen (…) oder einfach weg gezerrt“ hätte.
Einige scheinen die Angriffe in Berlin sogar gutzuheißen, „nachdem 2 Jahre lang alle Menschen von den Politikern und Schwachmaten von Experten schikaniert wurden“ (sic!). Wieder andere sind der ganz großen Verschwörung auf der Spur: Die Angriffe in Berlin wurden von den Grünen inszeniert, um bessere Argumente für ein Böllerverbot zu haben.
Der Welt-Kolumnist „Don Alphonso“, der mit bürgerlichem Namen Rainer Meyer heißt, hat sich währenddessen offenbar komplett von der Rechtsstaatlichkeit verabschiedet. Er kommentiert den Ausschnitt aus einer RTL-Doku, in der ein Mann mit einer Pistole in die Luft schießt, nur mit dem einen Wort „Abschieben“. Differenzierung oder Einordnung? Fehlanzeige.
Anabel Schunke, eine Kommentatorin, die keine Probleme damit hat, sich auch mit dem rechten Rand gemein zu machen, weiß ebenfalls ohne Ermittlungen ganz genau Bescheid: „Es sind mehrheitlich junge Männer mit musl. Migrationshintergrund, die dieses Land verachten. Fertig.“
Von der „Freiheit“, die über CDU, FDP bis hin zur AfD Thema Nummer eins war, als es noch um ein mögliches Böllerverbot ging, ist jetzt jedenfalls nicht mehr viel zu hören. Offenbar handelt es sich dabei lediglich um die „Freiheit“, sich selbst schwerste Verletzungen zuzufügen oder sich so unpassend und übergriffig wie möglich zu verhalten, und die gilt ausschließlich für „Deutsche“.
Wie funktionierte die Debatte besser?
- Gerade bei emotionalisierten Themen: Ermittlungen abwarten, bevor Anschuldigungen veröffentlicht werden.
- Keine Pauschalverdächtigungen über vermutete Herkunft, Religion, Motivation der Täter.
- Gewalt nicht ethnisieren, also ausschließlich einer Gruppe von Menschen zuschreiben.
- Lösungen suchen, statt Rassismus zu befeuern.
- Straftäter ermitteln und bestrafen.