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„Das Diskriminierungsverbot ist Verfassungsgrundsatz“ – Newsletter Juli 2020

In eigener Sache

Liebe Leserinnen und Leser,

dass Rassismus in Deutschland ein Problem ist, wird heute niemand ernsthaft bestreiten. Die Diskussion der vergangenen Wochen, ausgelöst durch den Mord an George Floyd in den USA, war und ist dringend nötig. Denn Veränderungen kommen nur zustande, wenn ein Problem nicht länger verleugnet werden kann und es genug Menschen gibt, die nachdrücklich und, wie man neudeutsch sagt, auch nachhaltig drängeln, dranbleiben und drauf bestehen, dass sich hier etwas verändert. Das Diskriminierungsverbot ist Verfassungsgrundsatz, nichts weniger als das. Dennoch stoßen diejenigen, die diesen Grundsatz einfordern und zwar nicht nur im privaten oder öffentlichen, sondern gerade auch im staatlichen Sektor, auf heftigen Widerstand. Einer der harmloseren Abwehrmechanismen gegen diejenigen, die Rassismus thematisieren und bekämpfen wollen ist, sie als allzu moralisch oder empfindlich abzuwerten. Gewiss hat Rassismus etwas mit Moral zu tun, mit Ethik, mit Haltungen – ja vielleicht sogar mit Empathie. Aber man kann auch auf solche Kriterien verzichten und eine ganz andere Rechnung aufmachen. Denn Empathie und Moral mögen dem Durchsetzen von Gesetzen helfen, ersetzen sie aber nicht. Schließlich appelliert ja auch niemand an die Moral von Dieben, das Stehlen doch bitte zu lassen, sondern fordert die Durchsetzung des Gesetzes.

Es ist doch so: in Deutschland leben ca. 81 Millionen Menschen. Etwa eine Million davon sind Schwarz, 21 Millionen haben einen sogenannten Migrationshintergrund. Insgesamt ist das dann wohl ein gutes Viertel der Bevölkerung in diesem Land. Diesen wesentlichen Teil der Mitmenschen eher mehr als weniger zu diskriminieren, ist längst keine Frage der Moral mehr. Hier geht es an die Substanz des Staatswesens und der Demokratie, nach der ja jeder Mensch gleichwertig sein sollte. Hier steht nicht mehr die Frage im Raum, ob der Mangel an Gleichbehandlung demokratische Standards verletzt, sondern vielmehr, wie das Gemeinwesen und der Staat das verkraften können. Hier sollte nicht nur, hier muss gehandelt werden. Hier sind nicht Empathie oder Moral gefragt, sondern ein grundsätzliches Umdenken. Etwa so grundsätzlich wie bei der Frage, ob Frauen auch Menschen sind, denen Gleichberechtigung zukommen müsste. Nun, auch die ist noch lange nicht, wo sie sein sollte und muss weiter erstritten werden. Der grundsätzliche Umgang mit nicht-weißen Deutschen oder Migrant*innendämmert aber noch irgendwo in den 1990ern in einem in der Gegenwart völlig unangebrachten Halbschlaf. Deutschland hat Jahre gebraucht, um die Antidiskriminierungs-Richtlinien der EU in nationales Recht umzusetzen und tat es dann auch noch halbherzig.

Ganz oben auf der Agenda der EU-Ratspräsidentschaft der Bundesrepublik sollte jetzt zumindest die Bekämpfung von Antisemitismus stehen. Da stand sie auch vor Corona. Wenn Deutschland aus seiner Geschichte nicht nur Lippenbekenntnisse ableitet, sollte es diesen Tagesordnungspunkt ernst nehmen. Und zwar nicht als Weltmeister der Geschichtsaufarbeitung mit großem Sündenstolz, sondern als eine Notwenigkeit im demokratischen Europa. Antisemitismus ist Mittelalter im neuen Kleid, das hat in Europa nichts zu suchen. Wenigstens die gemeinsame Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), was Antisemitismus ist, sollte am Ende von allen Mitgliedsstaaten angenommen worden sein. Antisemitismus zu bekämpfen und dies auch zum Kriterium für Förderungen oder Sanktionen zu machen, wäre angemessen. Es braucht zivilgesellschaftliche Meldestellen, Datenerhebungen, die vergleichbar sind und sehr viel Bemühungen, wenigsten die schlimmsten Klischees über Juden und Jüdinnen aus der Politik, den Schulbüchern und den Medien zu entfernen. Das und gute pädagogische Arbeit wären erste Schritte. Hier kann Deutschland zeigen, ob es wirklich aus seiner Geschichte gelernt und sie so verinnerlicht hat, dass es auch andere Mitglieder der EU zu überzeugen in der Lage ist. Denn das Mittelalter ist vorbei, der Halbschlaf zu Ende. Nur ohne Rassimus und ohne Antisemitismus kommt Deutschland und kommt Europa voran.

Ihre Anetta Kahane

Anetta Kahane. Foto: © Peter van Heesen

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