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„Um das zu fordern, braucht man kein ‚Gutmensch‘ zu sein“ – Newsletter September 2020

In eigener Sache

Liebe Leserinnen und Leser,

nach den großen Demos der Corona-Leugner in Berlin kommt eine Bestandsaufnahme. Wir sind froh, dass nun auch die Behörden langsam verstanden haben, wie sich die Misch-Szene entwickelt und welche Gefahren von ihr ausgehen. Das ist ein Anfang. Ihm sollten nun Antworten folgen. Wir leben in einer Zeit, die von manchen als polarisierend empfunden wird. Ich finde sie eher klärend. Denn jetzt klärt sich, wo die Menschen auf Vernunft setzen und wo auf Irrationalität, wo sie politische Komplexität zu verstehen bereit sind und wo Demokratie zerstört werden soll. Jetzt ist deutlich sichtbar, dass viele Menschen unsicher sind, aber auch, wo die Verschwörungsideologen bereits mit den Rechtsextremen eins geworden sind.

Es ist uns wichtig, hier einen Unterschied zu machen. Ebenso wichtig ist es aber, klar zu benennen, welche Gefahren drohen. Eins jedenfalls steht fest: die Bundesregierung muss hier reagieren und in ihren Institutionen wie auch in der Zivilgesellschaft bessere Bedingungen für den Umgang mit Verschwörungsideologien herstellen. Und noch eins, auch wenn es nervt: Verschwörungsideologien haben immer ein antisemitisches Betriebssystem und sehr viele sind auch offen antisemitisch. Das sei hier nochmal gesagt für alle, die glauben, Antisemitismus wäre nur für Juden ein Problem oder - noch schlimmer - hätte sich mit der Aufarbeitung der Shoa erledigt.

Diese Probleme und Forderungen für Deutschland sind gewiss sehr wichtig, doch irgendwie bleiben sie hohl, wenn wir auf die Lage der Geflüchteten schauen. In diesen Tagen zeigt sich uns ein erbärmliches Spiel mit Menschen. Die Diskussionen darüber, ob 150 minderjährige Flüchtlinge nach Deutschland kommen dürfen sind unwürdig. 150? Ernsthaft? Diese Zahl ist unwürdig. Die lange Debatte darüber ist unwürdig.

Viele Politiker argumentieren strategisch, geopolitisch, abschreckungstechnisch. Überall in Europa ist das so. Während viele lokale Bürgermeister*innen bereit sind, Geflüchtete aufzunehmen, regiert auf Bundesebene ein kalter Zynismus. Zum einen besteht er aus der alten Politik, bloß niemanden in das tolle Deutschland reinzulassen, der nicht von gleichem Blute ist. Über Jahrzehnte hält sich diese Haltung zäh. Zum anderen ist dieser Zynismus angstgesteuert. Die Politik fürchtet sich vor den Rechtsradikalen und Rechtsextremen. Obwohl inzwischen bekannt ist, wie deren Mechanismen funktionieren und wie man dem entgegentreten kann, obwohl gewusst wird, dass die meisten Menschen in Deutschland zu Hilfe und Solidarität bereit sind, ducken sich viele Politiker weg. Und manche von ihnen verleugnen ihr Mitgefühl, z.B. mit den obdachlosen Flüchtlingen in Moria. Was für eine Art Gruppenzwang soll das sein, der - unsere politischen Entscheider mit dem Zeigefinger auf andere weisend - die normalste Menschlichkeit verweigert?

Das Engagement gegen antisemitische Verschwörungsideologien, gegen Rechtsextremismus - übrigens natürlich auch aus türkischen oder arabischen Communitys - kann und soll nicht dagegen aufgerechnet werden. Beides muss geschehen, die Unterstützung von Geflüchteten, das Engagement für eine humanere Flüchtlingspolitik und die Arbeit gegen Demokratiefeinde in Deutschland. Beides gehört zusammen. Um das zu fordern, braucht man kein "Gutmensch" zu sein, sondern einfach nur vernünftig. Und ein guter Mensch.


Ihre Anetta Kahane

Anetta Kahane. Foto: © Peter van Heesen

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