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Podcast

Podcast #13 – 10 Jahre Selbstenttarnung des ‚NSU‘

Die Selbstenttarnung des Kerntrios des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ im November 2011 war eine gesellschaftliche Zäsur: Sie offenbarte, dass Rechtsextreme vor den Augen der Sicherheitsbehörden über Jahre hinweg ungestraft Morde und Verbrechen verüben konnten. Und dass viele Betroffene kein Mitgefühl und Unterstützung erhalten hatten, sondern im Gegenteil Opfer wurden von rassistischen Stereotypisierungen, falschen Verdächtigungen und zum Teil jahrelanger Drangsalierung und fehlender Anerkennung durch Ermittlungsbehörden und Justiz.

Es gab einen öffentlichen Aufschrei und Untersuchungsausschüsse im Bundestag und Landesparlamenten wurden eingerichtet, die grundlegende Änderungen im Umgang Rechtsextremismus und seinen Betroffenen forderten.

Aber was hat sich seitdem wirklich verändert? Rechte Gewalt und Terror gehört weiter zum Alltag in Deutschland, ob 2016 in München, 2019 in Halle, 2020 in Hanau oder an vielen anderen Orten und noch immer müssen Betroffene der Taten um Anerkennung und angemessene Unterstützung kämpfen.

In der 13. Folge des de:hate-Podcasts berichten Mehmet O. (Überlebender des ‚NSU‘), Armin Kurtović (Vater des in Hanau ermordeten Hamza Kurtović) und Christina Feist (Überlebende des rechtsterroristischen Anschlags in Halle) von ihren Erfahrungen. Wir sprachen außerdem mit Anja Reuss (Mitarbeiterin des Antiziganismusbeauftragten der Bundesregierung), Ikram Errahmouni-Rimi (Korrektur: Juristin und Expertin für eine diskriminierungssensible Arbeitskultur), Jenny Fleischer (Rechtsanwältin), Daniel Geschke (Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft Jena) und Sarah Haupenthal (Amadeu Antonio Stiftung).

De:hate-Podcast Folge 13

“10 Jahre Selbstenttarnung ‚NSU‘ – Sicherheitskräfte und rechte Gewalt

Skript:

Sarah Haupenthal: Es ist deshalb wichtig, die Selbstenttarnung zu thematisieren, weil diese Selbstenttarnung dazu geführt hat, dass ein Versagen der Gesellschaft und der Ermittlungsbehörden deutlich wurde.

Daniel Geschke: Und letztendlich betrifft dieser Vertrauensverlust also sogar das demokratische System an sich und die Demokratie.

Anja Reuss: Also die Polizei ist ein bisschen eine Blackbox und man hat wenig Wissen darüber, was da drinnen überhaupt passiert.

Jenny Fleischer: Das Wiedergutmachungs-Bedürfnis der Verletzten ist nicht zu unterschätzen und muss seitens des Staates genauso respektiert werden.

Am 04. November 2011 werden die beiden NSU-Terroristen Uwe Böhnhart und Uwe Mundlos nach einem missglückten Banküberfall im thüringischen Eisenach tot in ihrem Wohnmobil aufgefunden. Vier Tage später stellt sich Beate Zschäpe in Jena der Polizei. Es ist das Ende einer elfjährigen Mord- und Verbrechensserie von einer Gruppe, die sich selbst „Nationalsozialistischer Untergrund (NSU)“ nennt, mit zehn Toten und zahlreichen weiteren Geschädigten und Verletzten.

In diesem November 2011 wird offensichtlich, was zahllosen Angehörigen der Mordopfer und anderen Betroffenen rassistischer Gewalt schon lange vorher klar war: Die Mordserie ist ein Akt rechten Terrors und rassistisch motiviert. Und – noch etwas Anderes wird in aller deutlichster Form sichtbar: Keine der zahlreichen polizeilichen Ermittlungen in den verschiedenen Mordfällen verortet die Täter im extrem rechten Milieu. Stattdessen: Anschuldigungen an die Angehörigen der Mordopfer, Unterstellung von Drogenhandel oder dubiosen Geschäften.

Mehmet O.: Und dann wurde ich halt von den ganzen Ermittlungen, ganzen Aussagen von der Polizei beschuldigt, ob Schutzgeld verlangt wurde, ob ich im Drogenmilieu bin, ob ich Prostitution habe oder… es war eine stinknormale, ganznormale Pilsbar.

So erzählt es Memet O. Nachdem er – gerade achtzehn geworden – in Nürnberg eine Pilsbar eröffnet hatte, wurde er im Juni 1999 zu einem der ersten Opfer des ‚NSU‘. Beim so genannten „Taschenlampen-Anschlag“ explodiert eine selbstgebastelte Bombe in seinen Händen. Dass diese Bombe vom ‚NSU‘ dort platziert wurde, kam nur raus, weil einer der Angeklagten im ‚NSU‘-Prozess, Carsten S., den Anschlag in seinem Geständnis erwähnte. Das war vierzehn Jahre später.

Mehmet O.: Nach 14 Jahren waren zwei Beamten bei mir vor der Tür und wo ich die Tür aufgemacht habe, hab ich gesagt: Was ist jetzt wieder? Was habe ich jetzt wieder gemacht? Ja, Sie sind nicht der Beschuldigte, sondern ein Opfer. Kriminalpolizei München will mit ihnen einen Termin haben.

Auf dem Polizeirevier werden Memet O. stundenlang Akten zu extrem rechten Tätern vorgelegt. Warum bleibt auch da unklar. Erst durch einen Journalisten des Bayrischen Rundfunks wird ihm 2018 klar, dass es der ‚NSU‘ war, der ihn umbringen wollte.

Mehmet O.: Ich finde es schade, dass ich von einem Journalisten erfahren musste, dass ich ein ‚NSU‘-Opfer bin, nicht vom Staat, nicht von der Polizei, sondern von einem Journalisten.

Was Mehmet O. aus seiner Erfahrung mit der Polizei erzählt, zieht sich wie ein roter Faden durch die Aufarbeitung der ‚NSU‘-Terrorserie. Wie bei den anderen Ermittlungen zu den Taten des ‚NSU‘ stehen die Opfer, ihre Angehörigen oder ihr direktes Umfeld im Fokus der Ermittler, als Beschuldigte und Verdächtigte. Wie bei den zehn Morden des ‚NSU‘ ist auch im Fall des Anschlags auf Mehmet O. klar: Hätte Carsten S. während des Prozesses den Anschlag nicht beschrieben, wäre der Hintergrund im Dunkeln geblieben. Nicht die sorgfältige Arbeit der Polizeibehörden führt zur Aufklärung, nicht die akribische Suche von Staatsanwaltschaften, welche möglichen anderen Fälle eine Verbindung zur rassistischen Terrorserie haben – nein. Es sind die Täter selbst, die die Hintergründe, Motivationen und Verbindungen der Taten offenlegen.

‚NSU‘-Selbstenttarnung als gesellschaftliche Zäsur

Sarah Haupenthal: Es ist deshalb wichtig, die Selbstenttarnung zu thematisieren, weil diese Selbstenttarnung dazu geführt hat, dass ein Versagen der Gesellschaft und der Ermittlungsbehörden deutlich wurde.

Das sagt Sarah Haupenthal von der Amadeu Antonio Stiftung. Es ist eine der wichtigsten Erkenntnisse aus der Terrorserie des ‚NSU‘, dass deutsche Sicherheitsbehörden in Fällen von rechtem Terror offensichtlich nicht effektiv ermitteln.

Sarah Haupenthal: Die wichtigste Konsequenz war, dass deutlich wurde, dass Betroffene, die häufig im Rahmen der Ermittlungen als potenzielle Täter*innen wahrgenommen wurden, obwohl sie eigentlich die richtigen Hinweise schon gegeben haben, in die richtige Richtung, dass diese Betroffenen so fundamental unrechtmäßig behandelt wurden, dass dadurch ganz viele Defizite in der grundlegenden Arbeit von Ermittlungsbehörden und Justiz deutlich wurden.

Was Angehörigen und Betroffenen von Rassismus schon vorher klar war, wird durch die Selbstenttarnung öffentlich sicht- und diskutierbar.

Daniel Geschke: Und dieses Sichtbarwerden war natürlich ein Schock. Also vorher war es ein Schock für die direkt Betroffenen, dass da keine Aufklärung ist. Aber nachdem das dann herauskam, war das sozusagen für ganz viele Menschen wirklich schockierend zu sehen, dass hier so schlampig gearbeitet wird und so viel vertuscht wird und so viele Akten vernichtet werden und so weiter.

Daniel Geschke ist Psychologe und wissenschaftlicher Referent am Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) in Jena. Er erforscht Hasskriminalität und ihre Auswirkungen auf Betroffene.

Daniel Geschke: Und die Folge dessen war, dass das Vertrauen in diese Behörden, was vielleicht vorher schon nicht besonders hoch war, dadurch noch viel mehr gelitten hat. Das also viele Menschen diesen Behörden jetzt noch weniger vertrauen, als dass vorher der Fall war.

Was haben wir aus den Erfahrungen mit dem ‚NSU‘ gelernt?

Die Selbstenttarnung des ‚NSU‘ ist nun etwas mehr als zehn Jahre her. Seither wurde an vielen Orten nach Ursachen für das Versagen der Sicherheitsbehörden angesichts von rechtem Terror gesucht. Zeit einen genauen Blick auf die Entwicklungen zu werfen, die seither genommen wurden: Welche Auswirkungen haben rassistische, antiziganistische und andere menschenverachtende Einstellungen und diskriminierende Handlungspraxen innerhalb der Polizei auf davon betroffene Menschen? Welche Maßnahmen wurden in Polizeibehörden umgesetzt und wie sinnvoll sind sie für Opfer von Hasskriminalität? Und: Wie wird das Thema Hasskriminalität und rechte Gewalt vor deutschen Gerichten verhandelt?

Als am 09. Oktober 2019 die Synagoge in Halle an der Saale von einem extrem rechten Attentäter angegriffen wird, ist Christina Feist dort um Jom Kippur zu feiern. Sie überlebt den Anschlag. Nach ihrer anschließenden Begegnung mit Polizist*innen bei der Evakuierung gefragt, erzählt sie Folgendes:

Christina Feist: Er hat mich dann recht patzig gefragt, ob ich einen Personalausweis dabeihabe, ich habe gesagt: Nein, es ist Jom Kippur und da trage ich nicht. Und die erste Antwort darauf war: Das ist aber komisch. Total abfällig. Und meine, zum Glück, erste Reaktion darauf war: Das ist nicht komisch, das ist Judentum.

Anschließend im Krankenhaus hat Christina Feist wieder Kontakt mit einem Beamten.

Christina Feist: Und am Ende dieses Gesprächs habe ich ihn noch mal gefragt, weil ich im Laufe dieses Tages alle erdenklich möglichen Versionen gehört hatte davon, was passiert ist: Täter gefasst, Täter nicht gefasst, mehrere Täter, Täter auf dem Weg nach Frankfurt, man weiß es nicht. Ich hatte alles gehört. Und ich habe ihn gefragt: Hören Sie mal, ist es vorbei? Und ich werde nie vergessen, wie er dasitzt, mich süffisant anlächelt und sagt: Ja, da müssen Sie die Kollegen fragen, die den Mann gefasst haben, und sich offensichtlich überhaupt nicht dafür interessiert, mir auch nur irgendein Sicherheitsgefühl zurückzugeben, sondern ganz im Gegenteil diesen Moment nutzt, um seine Macht über mich zu demonstrieren.

Armin Kurtović hat seinen Sohn 2020 beim rechtsterroristischen Anschlag in Hanau verloren. Hamza Kurtović wurde am 19. Februar 2020 in der Arena Bar in Hanau erschossen. Auf seine Erfahrung mit der Polizei nach dem Anschlag angesprochen, erzählt Armin Kurtović von rassistischen und antiziganistischen Entgleisungen.

Armin Kurtović: Ich sitze bei der Polizei und warte. Ich bin nicht bekannt. Mein Sohn war dunkelblond und blauäugig, Schwede. Und der Polizist beschreibt ihn orientalisch-südländisch. Aufgrund seines Namens. Zum Vater von Vili sagt ein Polizist am Tatort: Ich hätte nicht gedacht, dass ein Z[…] Zivilcourage hat. Und der andere lacht.

Vili, also Vili Viorel Păun war Rom und aus Rumänien nach Deutschland gekommen. Er versuchte den Täter mit seinem Auto zu stoppen und wurde dabei erschossen. Nach dem Anschlag vernetzen sich die Angehörigen und tauschen sich über ihre Erfahrungen mit der Polizei aus.

Armin Kurtović: Ich bin in Deutschland geboren, ich bin deutscher Staatsbürger. Meine Kinder sind hier geboren. Warum schickt man mir den Ausländerbeirat, bin ich Deutscher zweiter Klasse? Wieso schickt man mir einen Migrations-Beauftragten, der mir erzählt was ich darf und was ich nicht darf. Und einen Dolmetscher schicken die mir. Ist mein Deutsch so schlecht?

Die Sekundäre Viktimisierung von Betroffenen

Das war 2020, also fast zehn Jahre nach dem Sichtbar-Werden des NSU. Wieder sind Angehörige von Opfern eines rechtsterroristischen Anschlags mit Rassismus, Antisemitismus und Antiziganismus in Polizeibehörden konfrontiert. Was genau in diesem Moment passiert wird in der Forschung unter dem Begriff „Viktimisierung“, also „Opfer-Werdung“ verhandelt.

Daniel Geschke: In der Forschung zur Viktimisierung, also zur Opfer-Werdung von Menschen, werden theoretisch verschiedene Phasen unterschieden. Da gibt es also die erste Phase, die primäre Viktimisierung, das ist die eigentliche Tat. Zum Beispiel ein körperlicher Angriff auf einen Menschen, der aus rassistischen Motiven verprügelt wird. Und unterschieden davon wird dann die sekundäre Viktimisierung, also die zweite Phase und das passiert dann später.

Diese zweite Phase der Opfer-Werdung wird dann ausgelöst, wenn das Umfeld, lokale Autoritäten oder die Presse die Betroffenen für die vorangegangene Tat mitverantwortlich machen.

Daniel Geschke: Du warst doch selber schuld. Wenn du dann nachts in diesem Park läufst, musst du dich nicht wundern, wenn du angegriffen wirst. Oder wenn diesen Menschen nicht geglaubt wird, wenn man also sagt: Stimmt das wirklich, was du da behauptest? Wir haben hier ganz viele deutsche Zeugenaussagen, die deiner Aussage widersprechen. Solche Erfahrungen können dann bei den Betroffenen eine erneute Viktimisierung hervorrufen.

Auch staatliche Institutionen wie Polizei oder Justizbehörden können eine solche sekundäre Viktimisierung auslösen.

Daniel Geschke: Ermittlungs- und Justizbehörden können eine erneute Schädigung der Betroffenen hervorrufen, wenn sie sie selber rassistisch beleidigen oder abwerten oder auch antisemitisch.

Die Folgen einer solchen sekundären Viktimisierung können Traumata sein, so wie Mehmet O. es für sich in den Jahren nach dem Taschenlampenanschlag beschreibt. Oder, wie Armin Kurtović es deutlich macht: der Zweifel daran, dass deutsche Sicherheitsbehörden tatsächlich ein Interesse daran haben, migrantisierte Menschen vor Hassgewalt zu schützen.

Sarah Haupenthal: Also warum sollte jemand, die oder der gewohnt ist, von der Polizei durch anlasslose Kontrollen als Feind markiert zu werden oder von Plätzen und Bahnen aus Bahnhöfen verwiesen zu werden, oder zum Beispiel jemand, die oder der aus den Medien von den sich häufenden Nachrichten über rechtsextreme Äußerungen von Polizist*innen gehört hat, oder jemand, der sich zum Beispiel einfach eingeschüchtert fühlt durch den Männlichkeitshabitus von vielen Polizeibeamten, warum sollten sich diese Personen ausgerechnet in einer Notsituation an die Polizei wenden?

Ja – warum? Die Erfahrungen im Kontakt mit deutschen Polizist*innen und Justizbehörden sind dabei prägend für das Verhältnis zu Rechtsstaatlichkeit generell.

Daniel Geschke: Und da geht es einerseits um die direkt involvierten Behörden, also die Polizei und dann auch die Gerichte, der Verfassungsschutz, insbesondere auch, also diese ganzen ermittelnden Behörden. Und letztendlich betrifft dieser Vertrauensverlust sogar das demokratische System an sich und die Demokratie Vertrauensverlust.

Erfahrungen mit Polizei

Der Kontakt mit Polizeibehörden ist ein wichtiger Faktor in der Gestaltung unseres Verhältnisses zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Polizist*innen üben das staatliche Gewaltmonopol aus. D.h., sie dürfen als einzige demokratisch-legitimiert Gewalt anwenden oder Menschen in ihrer Bewegungsfreiheit einschränken. Mit ihren knapp 350.000 Beamt*innen bilden die Behörden ein komplexes bundesweites Netz, das in Bundes-, bzw. Landespolizei unterteilt ist.

Sarah Haupenthal: Aber natürlich kann zum Beispiel Rassismus von einer Behörde oder auch von Gerichten nur dann effektiv verfolgt werden, wenn es innerhalb der Strukturen auch eine Auseinandersetzung mit den Themen gibt und ausreichend Wissen über das Wirken von Rassismus und anderen Ideologien der Ungleichwertigkeit.

Mit anderen Worten: Wer mit der Verfolgung von Hasskriminalität beauftragt ist, muss sich auch mit der Verbreitung von Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in den eigenen Reihen beschäftigen. Wenn eine Behörde es nicht schafft, Rassismus oder Homofeindlichkeit in ihren eigenen Reihen zu erkennen und einen grundlegenden Umgang damit zu haben, ist das ein starker Anzeiger für eine mangelhafte Kompetenz in dem Thema. Dabei ist unklar, wie verbreitet diese Einstellungen sind: Zahlen über die tatsächliche Verbreitung von Abwertungsideologien bei den Beamt*innen fehlen.

Anja Reuss: Also die Polizei ist ein bisschen eine Blackbox und man hat wenig Wissen darüber, was da drinnen überhaupt passiert.

Das sagt Anja Reuss. Sie arbeitet als wissenschaftliche Referentin beim Zentralrat der Sinti und Roma *iin Berlin und erforscht u.a. die Stigmatisierung von Sinti und Roma durch Polzist:nnen in Deutschland nach 1945. Eine der Erkenntnisse ihrer Forschung ist:

Anja Reuss: Dass die Verfolgung durch die Polizei nach ´45 eigentlich nicht abgerissen ist, sondern sich kontinuierlich weiter fortgesetzt hat und die Kriminalisierung von Sinti und Roma tatsächlich bis heute sehr manifest ist innerhalb der Polizeistrukturen, aber auch innerhalb der Gesellschaft. Das stellen wir fest an Fällen wie dem von Michèle Kiesewetters Ermittlungen, aber auch in den umfassenden Datensammlungen der Polizei zu Sinti und Roma.

Michèle Kiesewetter ist das letzte bekannte Mordopfer des ‚NSU‘. Die Polizistin wurde im April 2007 auf der Theresienwiese in Heilbronn erschossen, ihr Kollege lebensgefährlich verletzt. Die Spurensicherung entdeckte am Tatort eine weibliche DNA, die bundesweit an vielen weiteren Tatorten nachgewiesen wurde. Ins Zentrum der Ermittlungen rückte schnell ein Gruppe Sinti und Roma, die sich zur Zeit des Mordes in der Nähe aufgehalten hatten.

Anja Reuss: Zwei Jahre später hat sich dann ergeben, dass diese DNA-Spur von einer Verunreinigung der Wattestäbchen, die die Forensik benutzt, stammte und die DNA zu einer Person gehörte, die in der Fabrik arbeitet, wo die Wattestäbchen abgepackt werden. Aber in diesen zwei Jahren hat man wahnsinnig viel Ressourcen da reingesteckt. Also ich glaube, es waren über 60 Prozent der Ermittlungsaktivitäten insgesamt, die sich gegen Sinti und Roma oder einzelne Angehörige der Minderheit gerichtet haben.

Die Ermittlungsakten im Fall Kiesewetter zeugen dabei von den antiziganistischen Einstellungen der Beamt*innen: „Ein typischer Vertreter seiner Ethnie“ sei ein befragter Rom gewesen oder dass „die Lüge ein wesentlicher Bestandteil seiner Sozialisation darstelle“.

Anja Reuss: Die antiziganistischen Einstellungen der Polizei haben sich kontinuierlich auch nach ´45 weiter fortgesetzt. Es gab kaum Brüche da drin, sondern eher Transformationsprozesse. Und der Fall Kiesewetter ist natürlich ein besonderer, weil er dem NSU zugerechnet werden konnte, aber die Kriminalisierung von Sinti und Roma taucht auch in anderen Kontexten auf und ist persistent über Jahrzehnte.

Sarah Haupenthal: Die andere Seite ist, dass es gleichzeitig natürlich auch rassistisch geprägte Wissensbestände überhaupt gibt, die historisch gewachsen sind und selbstverständlich und unhinterfragt als Grundlage für die Kriminalitätsbekämpfung dienen.

Die Wirksamkeit von Abwertungsideologien innerhalb von Polizeibehörden lassen sich also auch durch ihre Geschichte zurückverfolgen.

Anja Reuss: Das führt auch dazu, dass das Verhältnis zwischen Minderheit und staatlichen Behörden wie der Polizei massivst gestört ist, weil die Polizei Sinti und Roma halt nicht als Opfer, sondern als Täter versteht und die Polizei auch eine gewisse Deutungshoheit darüber hat, wie Minderheiten in der Gesamtgesellschaft wahrgenommen werden.

…und das führt auf Seiten der Minderheit kontinuierlich zu Abwertungserfahrungen.

Anja Reuss: [Das ist die Palette an Reaktionen, was Polizei auslöst und was auch transgenerationell immer weitergegeben wird:] Also in den Familien von Sinti und Roma ist Polizei ein ganz rotes Tuch und es wird die Erfahrungen der Eltern, der Großeltern mit Polizei und staatlichen Organen weitergegeben und manifestiert sich in allen Generationen.

Auseinandersetzung der Institutionen mit sich selbst

Die Erfahrungen der Betroffenen des ‚NSU‘ zeigen beispielhaft: Rechtsextreme, rassistische und andere menschenverachtende Taten können nur dann verfolgt und verhindert werden, wenn es in den zuständigen Institutionen sowohl das entsprechende Wissen als auch die Strukturen zum Umgang in den eigenen Reihen gibt. Und warum ist das so schwierig?

Ikram Errahmouni-Rimi: Weil es, wie in vielen anderen behördlichen Strukturen auch, überwiegend noch das Verständnis gibt, dass Rassismus gleichzusetzen ist mit Rechtsextremismus und dass er beabsichtigt sein muss, um vorzukommen. Und das ist natürlich eine Perspektive, die Selbstreflexion sehr schwierig macht und die auch eigene Routinen und Praxen, die ja auch an den Verfahren von ‚NSU‘ zum Beispiel die Strafverfolgungsarbeit maßgeblich behindert hat, da müsste eben noch was passieren.

Ikram Errahmouni-Rimi ist Referentin für Vielfalt und Antidiskriminierung bei der Polizei Bremen [Korrektur: Juristin und Expertin für diskriminierungssensible Arbeitskultur]. Sie sieht Polizeibehörden in der Pflicht, Wissen über strukturelle Diskriminierung von außen in die Polizei zu holen. Gerade weil es zwischen Bürger*innen und Polizist*innen eine asymmetrische Machtverteilung gibt.

Ikram Errahmouni-Rimi: Das eine ist eine Profession und das andere sind Bürgerinnen und Bürger. Und an Menschen mit einer bestimmten Profession muss man andere Maßstäbe halten können. Und das bedeutet aus meiner Sicht, Polizeien und auch andere Organisationen, die in Grundrechte eingreifen können, müssen sich mehr Wissen aneignen, müssen Lebensrealitäten anerkennen, müssen um sie erfahren und brauchen auch Expert*innenwissen.

Sarah Haupenthal: Polizei ist kein Querschnitt der Gesellschaft. Die Polizei setzt sich aus überwiegend männlichen Menschen aus einer bestimmten sozialen Schicht zusammen und genau dem muss eben auch Rechnung getragen werden, weil diese Menschen mit bestimmten Sozialisierungen, mit bestimmten Wissensbeständen etc. ausgestattet sind. Und das muss reflektiert werden.

Die Frage, aus welcher sozialen Schicht Polizist*innen kommen, wo sie aufgewachsen sind und welche Erfahrungen sie deshalb innerhalb der Gesellschaft machen, prägt die Wertungen, die Polizist*innen von den Ereignissen machen, zu denen sie ermitteln.

Sarah Haupenthal: Also es wird von Beamt*innen nach Bekanntem gesucht und es gehört offensichtlich nicht zu ihrem Wissensstand, wie solche Taten funktionieren.

…und das wiederum begünstigt dann Prozesse der Viktimisierung von Betroffenen während Ermittlungen zu Hassverbrechen.

Sarah Haupenthal: Das fängt am Tatort an. Da ist zum Beispiel die Frage: Wenn Polizeibeamt*innen zum Tatort kommen, wem wird eigentlich zugehört? Wer wird zuerst angesprochen? Wer wird ernst genommen? Wer wird als glaubwürdige Person eingeordnet? Wer nicht?

Ikram Errahmouni-Rimi: Und da müssen sich Organisationen mit auseinandersetzen, wie sie dieses Wissen einfach in die Organisationen bekommen, wie sie die Sensibilität in die Organisation bekommen. Und wie sie das eben übertragen auf Arbeitsroutinen und Praktiken, die Polizeien durchführen, zum Beispiel Vernehmungen, zum Beispiel Ermittlungsrichtungen und -strategien. Das sind alles Sachen, dafür braucht es Wissen, das aus meiner Sicht von außen reinkommen muss.

Die Rolle des Gerichts und die Stellung der Betroffenen im Gerichtsprozess

Auch vor deutschen Gerichten wird das Thema Hasskriminalität verhandelt. Der Gerichtsprozess zur ‚NSU‘-Terrorserie war mit 438 Prozesstagen der größte seit der Wiedervereinigung und ging 2018 in München nach fünf Jahren mit dem Schuldspruch der Angeklagten zu Ende. Das Versagen der Sicherheitsbehörden angesichts von rechtem Terror wurde während des Prozesses thematisiert.

Jenny Fleischer: Das ist auch durch ‚NSU‘ klargeworden und an die Öffentlichkeit gelangt durch die gute Dokumentation des Prozesses und das große Medieninteresse, dass eben erhebliches staatliches Versagen vorgelegen hat von den Ermittlungsbehörden bei der Strafverfolgung.

So sieht es Jenny Fleischer. Sie ist Rechtsanwältin in Berlin und vertritt u.a. Betroffene von Hasskriminalität vor Gericht. Abseits der „großen“ Rechtsterror-Prozesse wie dem ‚NSU‘-Prozess oder den Prozess gegen den Attentäter von Halle vor dem Oberlandesgericht Naumburg, wird Hasskriminalität oft in Strafprozessen vor den Landes- und Amtsgerichten verhandelt. Welche Erfahrungen machen Betroffene von Hasskriminalität in den Gerichtssälen?

Sarah Haupenthal: In Gerichtsverfahren, muss man sagen, es ist prinzipiell schon so, also unabhängig von welcher Art von Kriminalität es ist, dass Betroffene eher eine Nebenrolle spielen.

Jenny Fleischer: Das Wiedergutmachungsbedürfnis der Verletzten ist nicht zu unterschätzen und muss seitens des Staates genauso respektiert werden und ebenso hoher Geltung zugesprochen werden wie der wichtigen Unschuldsvermutung des Angeklagten. Da hapert es in der Justiz noch die wichtigen Opfer-Perspektiven zu erkennen.

Denn der Fokus der Gerichtsverfahren ist täterzentriert. Kommt es zu einem tätlichen Übergriff, also: wenn Menschen auf der Straße aus menschenverachtenden Gründen angegriffen werden, zählt vor Gericht oft nur die Schwere der Tat für das Strafmaß, nicht das Motiv. Aber genau das ist für die Opfer der Taten bedeutsam.

Sarah Haupenthal: Häufig wird dabei auch nicht darauf eingegangen, warum eigentlich die Person, die betroffen ist, angegriffen wurde und gerade für die Person, die betroffen ist es wichtig, dass zum Beispiel gesagt wird: Das Motiv ist Rassismus und es hat nichts damit zu tun, was ich getan habe, sondern es ist Rassismus.

Dabei gibt es verschiedene Momente, in denen ein politisches Motiv vom Gericht als solches benannt werden könnte.

Jenny Fleischer: Das politische Ausmaß der Taten kann im Rahmen der Anklageschrift durch die Staatsanwaltschaft eine Rolle spielen. Die Staatsanwaltschaft verfasst die Anklage basierend auf den polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen. Und wenn das Motiv dort erkannt wird als Motiv rechter Gewalt, wird es in die Anklageschrift mit aufgenommen.

Aber auch wenn das Motiv von den Ermittler*innen der Polizei oder der Staatsanwaltschaft nicht erkannt oder erfasst wurde, gibt es Möglichkeiten die Motivation des Täters sichtbar zu machen.

Jenny Fleischer: Wenn die Staatsanwaltschaft nicht willens ist, das Motiv zu sehen oder es in den Ermittlungen nicht erkannt hat, dann besteht noch vor Gericht die Möglichkeit, bei der im Rahmen der Beweisaufnahme durch Zeugenvernehmung oder anderen Beweismitteln das Motiv erkennbar zu machen.

Dabei kann auch die Nebenklage mitwirken. Ab einer bestimmten Schwere der Straftat können sich Betroffene und Opfer als Nebenkläger*innen der Staatsanwaltschaft anschließen. Sie können dann eigene Beweisanträge stellen oder Zeug*innen befragen.

Jenny Fleischer: Traditionell ist es so, dass das Gericht nach wie vor dem Angeklagten mehr Bedeutung zumisst und die Verletzten im Gerichtssaal in Form der Nebenklage eher als störend empfinden, da ihnen auch ein Fragerecht zusteht und damit dauert der Prozess noch länger. Es wird oftmals eher als störend empfunden. Da muss noch weitere Sensibilisierung geschaffen werden, dass eben die Opferrechte ein sehr wichtiger Teil des Strafverfahrens sind.

Es bleibt nach wie vor oft unklar, ob ein Akt rechter Gewalt vorgelegen hat. Und das obwohl eine der Reaktionen auf die Selbstenttarnung des ‚NSU‘ die Berücksichtigung einer rassistischen Motivlage bei der Festlegung der Höhe der Strafe vorgibt.

Jenny Fleischer: In direkter Reaktion auf die Selbstenttarnung des NSU wurde der Paragraph 46, Absatz 2 des Strafgesetzbuches geändert. Nun hat das Gericht bei der Strafzumessung die rassistischen Motive des Täters oder der Täterin zu beachten. Allerdings steht dies im Ermessen des Gerichts und das Gericht kann das auch mit anderen Erwägungen noch abwägen und es dann gegebenenfalls sehr gering nur betrachten.

Es liegt also in den Händen des Gerichts, ob die Strafe höher ausfällt, weil aus rassistischen Gründen gehandelt wurde. Und „in den Händen des Gerichts“ heißt dann oft „in den Händen der zuständigen Richter*innen“. Den Vorsitzenden der einzelnen Verfahren kommt dabei ein maßgeblicher Gestaltungsspielraum in den Prozessen zu.

Jenny Fleischer: Wenn jemand gewillt ist, das zu thematisieren und das auch im Urteil festzuhalten, besteht sehr großer Spielraum. Und da ist auch unerheblich, was in der Anklageschrift stand, wenn das Gericht nach der Beweisaufnahme zu der Einschätzung kommt, dass eben politisch motivierte Kriminalität vorgelegen hat, rechte Gewalt vorgelegen hat, dann ist es auch unerheblich, ob in der Anklageschrift dieses Motiv genannt wurde.

Doch auch Richter*innen existieren nicht im luftleeren Raum. Das wird bei der Betonung der Unabhängigkeit der Gerichte oft vergessen.

Sarah Haupenthal: Problematisch ist, dass das häufig gleichgesetzt wird mit einer vermeintlichen Neutralität des Gerichts, also dass gesagt wird, Gerichte sind unantastbar, weil sie sind neutral.

Dabei sind natürlich auch Richter*innen geprägt von ihrer sozialen Herkunft und ihrer gesellschaftlichen Position. Aus dieser Position heraus gucken sie auf Straftaten und auf die Aufklärung der Straftaten, gucken Sie auf die Betroffenen, gucken sie auf die Täter*innen.

Sarah Haupenthal: Auch in Gerichtssälen gibt es unterschiedliche Einordnung der Glaubwürdigkeit von bestimmten Personen. Polizisten werden als sehr glaubwürdig behandelt und denen wird sehr respektvoll von Richter*innen begegnet, während andere Menschen häufig in der Begegnung einfach eine Abwertung erfahren.

Das wird dann besonders problematisch wenn ein Richter wie aktuell im Fall Jens Meier durch rassistische und extrem rechte Rhetorik öffentlich auffällt.

Jenny Fleischer: Also er war ehemaliger Richter und die letzten vier Jahre als Mitglied des Bundestags für die AfD, möchte nun zurück in die sächsische Justiz und ist aber durch rechtsextreme Parolen, hat auf sich aufmerksam gemacht und nun wurde er eben vom Verfassungsschutz als Verfassungsfeind erklärt.

Am Beispiel von Jens Meier lässt sich das Problem der Erfassung von rassistischen oder antiziganistischen Motivlagen gut zeigen. Die Berücksichtigung des rassistischen Motivs unterliegt der Einschätzung der Richter*innen.

Jenny Fleischer: Aber das bleibt eben das Manko an der jetzigen Reform: das Gericht kann nach wie vor das quasi ignorieren, wenn es möchte und das ist, je nachdem wie der Richter oder die Richterin politisch aufgestellt ist, sehr einfach auch zu tun.

Und nicht nur die politische Einstellung von Richter*innen ist bedeutsam für die Betroffenen. Im Gerichtssaal selbst halten sich einige Personen auf, die den Raum mit gestalten.

Sarah Haupenthal: Die Frage ist auch zum Beispiel: Ist der Gerichtssaal, ist es ein sicherer Raum? Ich selbst habe zum Beispiel schon mal erlebt, dass ich in einem Gerichtsverfahren war, da ging es um einen Messerangriff in der U-Bahn. Die Anwältin der Nebenklage hat dargestellt, warum das Motiv antiziganistisch war. Und so war es zum Beispiel so, dass der Justizbeamte, der dort saß, in dem Moment einen ungläubigen Lacher von sich gegeben hat. Also das ist dann auch die Frage: Wie ist so ein Raum gestaltet und konstituiert? Wer sitzt da und welcher Platz wird dort der betroffenen Person zugewiesen? In diesem Fall da war klar, dass das Gericht und dazu gehört auch der Justizbeamte, der findet das lächerlich.

Das lässt die Frage aufkommen, wie es möglich ist, Betroffene von Hassgewalt vor genau solchen Momenten zu schützen, die eine sekundäre Viktimisierung hervorrufen können.

Die „Opfer-Vermutung“ als Teil der Lösung?

Jenny Fleischer: Da wird teils eine sogenannte „Opfer-Vermutung“ gefordert, also als Pendant zur Unschuldsvermutung. Das heißt, wenn eine Person sich als Verletzte einer Straftat sieht, dann soll dies erstmal so gelten.

Um die Rechte Betroffener von Hassgewalt vor Gericht zu stärken, wäre die Einführung der Opfer-Vermutung ein Weg. Kritiker*innen sehen darin aber eine Aufweichung der Unschuldsvermutung des Täters.

Jenny Fleischer: Die Unschuldsvermutung ist Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips und ein sehr hohes Gut, die sicherlich auch nicht geschwächt werden sollte, die Schaffung der Opfer-Vermutung hätte meines Erachtens aber keine Auswirkungen auf den befürchteten Einschnitt eines fairen Verfahrens für den Angeklagten. Denn es gilt ja auch hier nur die Vermutung und alles Weitere wird im Laufe des Prozesses durch das Gericht aufgeklärt. Und durch die Schaffung der Opfer-Vermutung könnten dann Opferrechte gestärkt werden.

In anderen Ländern werden die Perspektive und Entschädigung von Betroffenen noch anders geregelt. In den USA zum Beispiel gibt es das System der „parallel justice“, das den Verletzten noch ein weiteres Verfahren zur Verfügung stellt, wo ihre Perspektive im Vordergrund steht.

Jenny Fleischer: Allerdings ist da zu sagen, dass dann den Opfern noch ein zweites Verfahren aufgebürdet wird und sie sich zwei Verfahren stellen müssen.

Die zusätzlichen Verfahren würden darüber hinaus weitere Kapazitäten und Ressourcen beanspruchen.

Jenny Fleischer: Die Justiz ist chronisch unterbesetzt. Das ist ein erhebliches Problem. Es fehlt schlichtweg an Kapazitäten und das muss erkannt und nachgebessert werden.

Transparenz der juristischen Praxis

Das führt auch dazu, dass Verfahren eingestellt werden, obwohl die Bearbeitung von menschenverachtenden Verbrechen im öffentlichen Interesse sein sollte.

Sarah Haupenthal: Eigentlich ist es mittlerweile so, dass Straftaten bei denen menschenverachtende Motive eine Rolle spielen, prinzipiell weiterverfolgt werden sollen, weil gesagt wird, es gibt ein gesellschaftliches Interesse daran. Die Straftat betrifft nicht nur den Täter und die betroffene Person, sondern darüber hinaus ist sie eine Gefährdung für die Gesellschaft.

Die Einstellung des Strafverfahrens wird dann oft nicht ausreichend begründet – auch nicht gegenüber den Geschädigten der Taten.

Sarah Haupenthal: Häufig werden Verfahren eingestellt, weil sie als nicht relevant eingestuft werden und zudem ist es so, dass die Betroffenen dann auch nicht darüber ausreichend informiert werden, was da eigentlich passiert ist und warum es nicht als relevant eingestuft wird, sondern einfach nur: es ist nicht relevant.

Es bleibt darüber hinaus unklar wie die konkrete Rechtspraxis in Bezug auf Hasskriminalität aussieht. Wie auch bei Polizeibehörden gibt es keine belastbaren Daten für die Verbreitung von Abwertungsideologien unter Richter*innen oder Justizbeamt*innen. Auch eine Erhebung zur Anwendung des Paragraphen 46 Absatz 2, also der Strafverschärfung im Zuge der Selbstenttarnung des ‚NSU‘, fehlt bislang.

Jenny Fleischer: Es gibt keine Statistik, wo erfasst wird, wie das Gericht diesen Paragraph nun anwendet. Die Staatsanwaltschaften und die Justiz entziehen sich hier der der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Themas, da es keine Statistik und keine Studien dazu gibt, so wie es auch keine Studien zu Rechtsextremismus im Militär oder in der Polizei gibt. Das ist eben ein großes Problem bei der Aufarbeitung der Taten.

Fazits und Forderungen

Daniel Geschke: Also das erste und das sollte eigentlich selbstverständlich sein, ist, dass man Menschen, die von Gewalt betroffen waren oder von vorurteilsmotivierter Kriminalität, dass man ihnen zuhört, dass man sie ernst nimmt, dass man ihre Perspektive ernst nimmt und ihnen damit überhaupt erst mal die Gelegenheit gibt, den Vorfall aus ihrer Sicht zu schildern.

Für die Zukunft setzt Daniel Geschke dabei auf spezielle Dezernate bei der Polizei oder Sonderstaatsanwaltschaften in den Justizbehörden, die sich in besonderer Weise mit Hasskriminalität beschäftigen – so wie es in Berlin und Brandenburg teilweise bereits in der Praxis umgesetzt wurde.

Daniel Geschke: Da kann ich Expertise bündeln, wo dann die Beamtinnen sich gerade gut auskennen, wo dann auch Betroffene wissen, da sitzen Leute, die kennen sich mit der Art von Problemen und Gewalt aus. Die werden uns unterstützen, die werden uns verstehen.

Sarah Haupenthal: Wir wissen, dass es in Ermittlungsbehörden und Justiz viele Defizite im Wissen über Phänomene wie Rassismus, Antisemitismus, Homo- und trans*-Feindlichkeit oder auch Antifeminismus gibt. Häufig fehlen sogar grundlegende Arbeitsdefinitionen, die als einheitliche Basis für die Arbeitspraxis dienen können, sogar in den Spezialabteilung zum Beispiel zu politisch motivierter Kriminalität. Es gibt nicht mal ein einheitliches Verständnis davon, womit man es eigentlich zu tun hat.

Spezialisierte Abteilungen alleine reichen nicht – so Sarah Haupenthal. Auch diese Abteilungen sind auf Zuarbeiten aus anderen Teilen von Polizeibehörden angewiesen: von den Beamt*innen, die zuerst am Tatort sind, die die ersten Aussagen aufnehmen – und die dann erstmal erkennen müssen, dass ein Fall an die entsprechenden Spezialabteilungen weitergeleitet werden muss.

Sarah Haupenthal: Der Weg von einer Institution, die zutiefst antiziganistisch selbst strukturiert ist, hin zu einer Institution, die Menschen ausreichend vor Antiziganismus schützen kann, ist ein sehr weiter Weg und an vielen Stellen müssen wir beobachten, wurde der nicht mal eingeschlagen.

Dafür braucht es auch einen Wissenstransfer zu den einzelnen Phänomenbereichen zwischen Betroffenen, Zivilgesellschaft und den Behörden und Institutionen. Die Amadeu Antonio Stiftung organisiert dafür Räume und Fachtagungen, in denen sich Vertreter*innen austauschen können und in denen es eine Hoheit für die Betroffenenperspektive gibt.

Sarah Haupenthal: Dass es nicht etwas ist, das hinter verschlossenen Türen stattfindet, weil wie unsere gesellschaftlichen Institutionen konstituiert sind, wie die sich zusammensetzen, wie sie sich verhalten, was die wissen, was sie nicht wissen, was zu ihren Aufgaben gehört, das sind aus unserer Sicht Fragen, die öffentlich verhandelt werden müssen, weil sie die gesamte Gesellschaft betreffen.

Anja Reuss: Die Polizei hat regelmäßig Schießtraining über ihre ganze Laufbahn hinweg, aber sie werden über Themen wie Menschenrechte oder gesellschaftspolitische Aspekte nicht weitergebildet und nicht regelmäßig geschult.

Anja Reuss fordert deshalb die Verankerung von Einheiten zu Abwertungsideologien bereits in der Polizeiausbildung. Aber auch unabhängige Beschwerdestrukturen und die Erfassung des öffentlichen Sektors über das AGG – das Allgemeine Gleichstellungsgesetz.

Anja Reuss: Das heißt, auch in den Strukturen muss sich einiges ändern. Und da sehe ich die Innenminister als auch die Justizminister in der Pflicht, mehr zu tun, dass Racial Profiling und Predictive Policing, wie wir das an ganz vielen Stellen halt erleben, tatsächlich verboten wird.

Es ist darüber hinaus Aufgabe des Innenministeriums, die Polizeibehörden mit ihren weitreichenden Kompetenzen angemessen zu kontrollieren.

Sarah Haupenthal: In diesem Kontext ist der Habitus von Polizeibehörden, den Schutz der eigenen Leute über alles oder vieles zu stellen, sich gegen jede Art von Öffentlichkeit zu wehren sowie der Habitus von Innenpolitiker*innen in Verantwortung, sich vor allem vor die Polizei zu stellen, aus meiner Sicht skandalös. Die Aufgabe von Innenpolitik sollte es sein, eine angemessene Kontrolle von staatlicher Gewalt zu gewährleisten und die Gewährleistung der Sicherheit für alle Teile der Bevölkerung, auch gegenüber dem Staat, zu gewährleisten.

Ikram Errahmouni-Rimi sieht außerdem Handlungsmöglichkeiten in der Frage der Zuständigkeit von Polizeibehörden.

Ikram Errahmouni-Rimi: Wir sollten darüber sprechen, welche Aufgaben könnten von anderen Menschen besser oder adäquater, fachlicher durchgeführt werden. Wo sind Sozialarbeiter*innen vielleicht die besseren Ansprechpersonen? Wie könnte man Synergieeffekte schaffen zwischen Polizei und eben auch anderen Fachmenschen?

Auch für die Justizbehörden hält Jenny Fleischer perspektivisch einen Wissenstransfer für notwendig, um einen sensibleren Umgang mit Betroffenen von Hassgewalt zu erreichen, z.B. Fortbildung für Richter*innen zu Abwertungsideologien und Funktionsweisen von Hassgewalt.

Jenny Fleischer: Das Problem bei den Fortbildungen ist aber, dass diese rein freiwillig sind wegen der richterlichen Unabhängigkeit. Man kann Richter*innen nicht verpflichten an einer Antidiskriminierungs-Fortbildung teilzunehmen, sondern diese Fortbildungen können nur auf freiwilliger Basis angeboten werden. Und wie das eben so ist bei freiwilligen Fortbildungen: es gehen meistens nur die hin, die es sowieso schon interessiert sind.

Darüber hinaus fehlt es nach wie vor an unabhängigen Erhebungen zur Verbreitung von Abwertungsideologien innerhalb von Polizei und Justizbehörden, um die Dimensionen realistisch einschätzen zu können. Armin Kurtović dazu:

Armin Kurtović: Diese Fehlerkultur, wovon man immer redet. Ich sehe da gar nichts und das Schlimmere ist: Wir haben das alles erzählt und keiner hat uns geglaubt. Die haben uns hingestellt, so Verschwörungstheorien. Und dann kam später heraus, 49 Polizeibeamte in der Tatnacht waren in diesen rechtsradikalen Gruppen.

Daniel Geschke: Eine andere Sache ist, dass es innerhalb deutscher Behörden natürlich auch wie wir immer wieder hören, rechte Netzwerke bis hin zu Nazi-Netzwerken gibt, nämlich in Chat-Gruppen und so weiter. So was gehört natürlich konsequent verfolgt.

Die zahlreichen Ermittlungsfehler, die rassistischen, antisemitischen und antiziganistischen Bemerkungen in den Akten zu den Morden des ‚NSU‘ oder gegenüber den Angehörigen von Hanau – es ist notwendig sich mit den vergangenen Fehlern zu befassen, um tatsächlich die richtigen Konsequenzen aus der Selbstenttarnung des ‚NSU‘ vor zehn Jahren zu ziehen. Oder, wie Mehmet O. es ausdrückt:

Mehmet O.: Aber ich brauche nur eine Entschuldigung, also nur wenigstens, vom Staat. Die sollen einmal zugeben, dass die wirklich mal was falsch gemacht haben, mit den ganzen Ermittlungen. Wirklich einmal! Sollen sie doch mal zugeben, dass sie auch einen Fehler machen. Nicht nur wir Bürger machen Fehler, sondern der Staat macht auch Fehler.

 

De:hate – Ein Podcast der Amadeu Antonio Stiftung.

Konzeption: Philine Lewek

Musik: Jacob Theume

Stimme: Philine Lewek

Dieser Podcast ist im Rahmen des Projektes „Berlin steht an der Seite Betroffener rechter Gewalt“ entstanden, gefördert von der Berliner Senatsverwaltung für Justiz, Vielfalt und Antidiskriminierung im „Landesprogramm gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus“.

 

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Im Superwahljahr 2024 hat eine rechtsextreme Partei in ostdeutschen Bundesländern hohe Stimmenanteile erzielt. Bei der kommenden Bundestagswahl droht die Gefahr, dass sie diesen „Erfolg“ über Ostdeutschland hinaus fortsetzt. Viele Initiativen und Bündnisse engagieren sich kreativ und mit langem Atem für ein solidarisches und demokratisches Miteinander. Die Zivilgesellschaft steht bundesweit weiterhin gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus ein. Dieses stabile Engagement braucht es nunmehr denn je, trotz und gerade wegen aller Unsicherheiten.

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Kommentar: Lohnt sich Demokratieförderung überhaupt?

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