Berlin, 10.01.2022. Im Vorfeld des morgigen Gipfels gegen Jugendgewalt, der kurzfristig als Reaktion auf die Silvesternacht in Berlin einberufen wurde, warnt die Amadeu Antonio Stiftung vor kurzfristigem Aktionismus. Stattdessen braucht es langfristig angelegte Lösungen, die die vielschichtigen Herausforderungen angehen. Hierfür dürfen keine neuen Parallelstrukturen aus dem Boden gestampft werden, sondern müssen bestehende und erprobte Ansätze ausgebaut werden.
In der medialen, wie politischen Debatte rund um die Berliner Silvesternacht wurden Jugendgewalt und Herkunft schnell in einem Atemzug genannt, so als seien sie untrennbar miteinander verbunden. Dabei sind die Ursachen für die Eskalationen nicht in Migrationsgeschichten zu suchen, sondern vielmehr in einem Mosaik aus erlernter Gewaltbereitschaft, gefühlter Perspektivlosigkeit, mangelnder Teilhabe, gefährlichen Männlichkeitsbildern und einem grundsätzlichen Misstrauen gegenüber dem Staat und seinen Repräsentant*innen.
Jugendarbeit nicht auf Prävention von Straftaten reduzieren
Mit der ambitionierten Aufgabe, die Jugendgewalt der Berliner Silvesternacht unter der intensiven Einbindung von Akteur*innen aus Senat, Bezirken und Zivilgesellschaft aufzuarbeiten muss ein langfristiger Prozess beginnen, der angesichts des Wahlkampfs nicht in kurzfristigen Aktionismus münden darf.
“Auf die Jugendlichen, um die es auf dem Gipfel geht, schaut sonst niemand und wenn, dann nur mit einer rassistischen Brille und dem Reden von sogenannten Problemvierteln. Die Auseinandersetzung mit Jugendgewalt darf nicht erst beginnen, wenn es knallt und Jugendarbeit darf nicht auf die Prävention von Straftaten reduziert werden. Die kurzfristige Bekämpfung von Symptomen darf nicht zulasten einer umfangreichen Bestandsaufnahme gehen, die schon lange vor den Ereignissen der Silvesternacht anfangen muss”, erklärt Tahera Ameer, Vorständin der Amadeu Antonio Stiftung.
“Die Herausforderungen sind weder überraschend noch neu. Deshalb gibt es auch erprobte Ansätze, die hier ausgerollt werden müssen. Niemand muss mit seinen Überlegungen bei null anfangen. Es gibt bereits Träger der Sozialen Arbeit, die ihre Erfahrungen in die Debatte einbringen können und die Arbeit vor Ort auch erfüllen können, wenn sie besser ausgestattet werden”, so Ameer weiter.
Zu einer langfristig wirkenden Arbeit im Sozialraum gehört es, die Maßnahmen aus frühkindlicher Bildung, Schule, Jugendarbeit und Quartiersmanagement wechselseitig abzustimmen, so dass sie Hand in Hand gehen und sich aufeinander beziehen.
Erprobte Ansätze stärken: Es braucht Ressourcen, Personal, Räume
Die Träger und ihre Fachkräfte kennen die Kieze und Jugendlichen und wissen um ihre Probleme, Herausforderungen, aber auch Potentiale und Unterschiedlichkeiten. Sie können mit Jugendlichen und ihren Familien in Auseinandersetzung gehen und gemeinsam mit ihnen Lösungsansätze entwickeln. Dazu muss der strukturellen Unterversorgung in Bezug auf Personal, Räumlichkeiten und Geld ein Ende gesetzt werden. Unter der Leitung von etablierten Trägern müssen mehr Rückzugsorte und Freizeitangebote entstehen, die als Räume der Sozialarbeit funktionieren.
Partizipation stärken – und überhaupt erst umsetzen
Eine Brandmarkung bestimmter Bezirke wie Neukölln als Chiffre für eine gescheiterte Integrationspolitik oder der dort lebenden Jugendlichen ist fehl am Platz. Eine Auseinandersetzung mit den Ursachen der Gewalt kann nur mit den jungen Menschen selbst erfolgen und eine kreative Perspektive zur Lösung grundlegender Probleme nur unter Anleitung der dafür ausgebildeten pädagogischen Fachkräfte vor Ort entwickelt werden. Kurzfristige Maßnahmen, die am Reißbrett entworfen werden und lediglich eine Aufrüstung von Polizei und Justiz fokussieren, sind zum Scheitern verurteilt.
Einbindung rassismuskritischer Ansätze
In der medialen wie politischen Debatte wurden Jugendgewalt und Migrationshintergrund schnell in einem Atemzug genannt, so als wären sie untrennbar miteinander verbunden. Die Ursache für Gewalt pauschal mit Migrationshintergründen zu erklären, befeuert rassistische Zuschreibungen, die ganze Bevölkerungsgruppen treffen. Um die Debatte über Ursachen und Konsequenzen nicht stigmatisierend zu führen, müssen rassismuskritische Ansätze und die entsprechenden Projektträger einbezogen werden. Zudem fehlt in den Analysen die Geschlechterperspektive auf Gewalt. Fast alle festgenommenen Personen waren Jungen und junge Männer. Jungenorientierte Ansätze und geschlechterreflektierende Präventionsangebote müssen gestärkt werden.
Law and Order ist kein Allheilmittel
Mit einer Debatte über die Herkunft der Täter, Strafmaße oder immer neue Schwerpunktwachen ist niemandem geholfen. Prävention und Abschreckung durch schnelle und tatsächlich vollstreckte Verfahren sind der einzige Rahmen, der Lösungen verspricht. Für die Präventionsarbeit braucht es aber auch eine genaue und offene Analyse der Ursachen. Um beiden Aspekten gerecht zu werden, müssen kurzfristig Ressourcen bereitgestellt werden, sowohl für die bessere Ausstattung der Staatsanwaltschaften als auch für die Ursachenforschung in der Präventionsarbeit.
Über die Amadeu Antonio Stiftung:
Seit ihrer Gründung 1998 ist es das Ziel der Amadeu Antonio Stiftung, eine demokratische Zivilgesellschaft zu stärken, die sich konsequent und überparteilich gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus wendet. Die gemeinnützige Stiftung steht unter der Schirmherrschaft von Wolfgang Thierse.