Erfurt, 20.08.2024: Insgesamt 297 antisemitische Vorfälle dokumentierte die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Thüringen für das Jahr 2023. Die Zahl der dokumentierten Vorfälle erhöht sich im Vergleich zu 243 Gesamtvorfällen im Vorjahr um knapp ein Viertel. Der Schwerpunkt aller Vorfälle hat sich deutlich vom digitalen in den analogen Raum verlagert. 42 % aller Vorfälle wurden nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel gemeldet. Auch für Thüringen kam es nach dem 7. Oktober zu einem explosionsartigen Anstieg von israelbezogenem Antisemitismus. Dennoch waren fast die Hälfte aller Vorfälle dem Post-Shoah-Antisemitismus zuzurechnen. Thüringen bleibt damit neben Sachsen im bundesweiten Vergleich weiterhin Spitzenreiter.
Unter den 297 Gesamtvorfällen wurden 235 Fälle verletzenden Verhaltens, 50 gezielte Sachbeschädigungen, 10 Massenzuschriften, 1 Bedrohung und 1 Angriff erfasst. Im bundesweiten Vergleich verzeichnet RIAS Thüringen die höchste Gesamtvorfallzahl aller ostdeutschen Bundesländer, Berlin ausgenommen.
Fast die Hälfte aller Vorfälle wurde nach dem 7. Oktober gemeldet. 84 Fälle wiesen einen direkten Bezug zum Terrorangriff der Hamas auf Israel auf. Davon waren 78 Vorfälle dem israelbezogenen Antisemitismus zuzuordnen. In Abgrenzung zu einer sachlichen und konkreten Kritik an der israelischen Regierung liegt israelbezogener Antisemitismus dann vor, wenn dem jüdischen Staat das Existenzrecht und das Recht auf Selbstverteidigung abgesprochen wird, wenn Israel mit anderen Maßstäben gemessen wird als andere Nationalstaaten oder die israelische Politik dämonisiert wird. Der Anteil des israelbezogenen Antisemitismus stieg 2023 auf 35 % (2022: 1%).
„Der Terrorangriff der Hamas und der daraus resultierende Krieg in Gaza haben in Thüringen eine Gelegenheitsstruktur geschaffen, um Antisemitismus offen zu artikulieren“, erläutert Susanne Zielinski, Leiterin der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Thüringen. „Antisemitische Denk- und Handlungsmuster waren im Freistaat aber auch schon vor dem Herbst 2023 weit verbreitet. Nach dem 7. Oktober sind diese nur sichtbarer geworden. Es zeigt sich seither deutlich, dass Judenhass ein gesamtgesellschaftliches Problem ist. Er tritt nicht nur im rechten Spektrum auf, sondern ist auch in migrantischen Milieus, in der politischen Mitte und in sich selbst als progressiv verstehenden linken Gruppierungen weit verbreitet. Antisemitismus, egal wer ihn verursacht, bedroht dabei auch immer die Demokratie als Ganzes.“
Post-Shoah-Antisemitismus war 2023 erneut die häufigste dokumentierte Erscheinungsform sank aber durch den explosionsartigen Anstieg israelbezogen-antisemitischer Vorfälle auf 48 % (2022: 87 %). Gerade Angriffe auf die Erinnerungskultur haben hier erneut quantitativ und an Aggressivität zugenommen. Häufiges Angriffsziel waren neben Stolpersteinen vor allem die Gedenkstätte Buchenwald.
252 Vorfälle ereignete sich im öffentlichen Raum. Nur 16 % der Vorfälle fanden im Internet statt (2022: 76 %). Der eklatante Wechsel vom digitalen in den analogen Raum, deutet auf eine gesunkene Hemmschwelle hin, da das Internet deutlich mehr Anonymität und dadurch Sicherheit bietet.
Anlässlich der heutigen Kabinettberatung des RIAS-Jahresberichtsberichts erklärt Prof. Dr. Benjamin-Immanuel Hoff, Chef der Thüringer Staatskanzlei und Beauftragter der Landesregierung für jüdisches Leben und die Bekämpfung des Antisemitismus: „Antisemitismus, in welcher Form er auch auftritt, steht in einem tiefen Widerspruch zu den moralischen und ethischen Prinzipien einer freien Gesellschaft von gleichen Verschiedenen. Entsprechende Vorfälle zu dulden, zu relativieren oder auszublenden gefährdet die moralische Integrität des gesellschaftlichen Lebens als Ganzem. Es ist daher ein großes Verdienst der RIAS-Jahresberichte, antisemitische Vorfälle systematisiert zu dokumentieren und als wesentlichen Gegenstand gesellschaftlicher Verantwortung und politischen Handelns im Bewusstsein zu halten. Daher leisten sie auch einen erheblichen Beitrag zur Weiterentwicklung der von der Landesregierung etablierten Maßnahmen zur Förderung des Jüdischen Lebens und zur Bekämpfung des Antisemitismus in Thüringen.“
RIAS Thüringen ist eine zivilgesellschaftliche Dokumentations- und Meldestelle für antisemitische Vorfälle in Thüringen. Antisemitische Vorfälle, auch solche unterhalb der Strafbarkeitsschwelle, können unter www.rias-thueringen.de, per E-Mail an info@rias-thueringen.de oder per Telefon unter 0176/71213004 gemeldet werden. RIAS Thüringen dokumentiert seit 2021 antisemitische Vorfälle in Thüringen. Die Meldestelle ist am Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft angesiedelt, befindet sich in der Trägerschaft der Amadeu Antonio Stiftung (AAS) und wird von der Thüringer Staatskanzlei gefördert.
Den gesamten Jahresbericht 2023 finden Sie unter www.idz-jena.de/rias-thueringen oder unter www.report-antisemitism.de/rias-thueringen