Weiter zum Inhalt Skip to table of contents

Rechtsextremismus: Die „Grauen Wölfe“ und der Traum vom türkischen Großreich

Laut Verfassungsschutz hat die Ülkücü-Bewegung in Deutschland mindestens 11.000 Mitglieder. Die Bundeszentrale für politische Bildung bezeichnet die Gruppierung, die unter dem Namen „Graue Wölfe“ bekannt ist, als „größte rechtsextreme Organisation Deutschlands“. In der Türkei ist ihre Mutterpartei MHP Teil der Regierungskoalition. Was ist die Ideologie der türkischen Faschist*innen? Wie organisieren sie sich? Und wie gefährlich sind die „Grauen Wölfe”?

Anhänger*innen der Bewegung betonen islamische und türkische Werte, sie hetzen vor allem gegen Kurd*innen und Armenier*innen, aber eigentlich gegen alle Nicht-Türk*innen. Ihr Ziel ist der „Turan“, ein türkisches Großreich, im dem alle „Turkvölker“ unter türkischer Führung vereinigt sind, vom Balkan bis fast nach Japan. Die Ideologie dahinter heißt Panturkismus oder Turanismus. Diese Denkrichtungen fanden bereits im Osmanischen Reich des 19. Jahrhunderts Anklang und gehen von einer historischen und moralischen Einheit und vor allem Überlegenheit der Turkvölker aus.

Panturkismus und Turanismus

Am Ende des Osmanischen Reiches flammte in der Türkei Nationalismus auf. Das Reich hatte während der Balkankriege (1912-1913) praktisch all seine Gebiete in der Region – heute Albanien, Serbien, Bulgarien und Teile von Griechenland – verloren. Die „jungtürkische Regierung“ versuchte erfolglos, die verlorene Größe wiederherzustellen und erhob den Panturkismus und den Turanismus zur Staatsdoktrin.

Unter Führung des „Komitees für Einheit und Fortschritt“, einer Partei der „jungtürkischen Bewegung“, trat das Osmanische Reich an der Seite von Österreich-Ungarn und des Deutschen Reichs in den Ersten Weltkrieg ein. In dieser Zeit spitzte sich der Konflikt mit der armenischen Minderheit, die nach Unabhängigkeit strebte, immer mehr zu. Die „Spezialorganisation“ (trk. Teşkilât-ı Mahsusa) des „Komitees“ überfiel armenische Dörfer auf dem Staatsgebiet des Osmanischen Reiches, aber auch in den Nachbarländern. Einige Armenier*innen kämpften auf Seiten Russlands gegen das Reich. Die fanatischen „Jungtürk*innen“ fühlten sich in ihrer Ablehnung gegen die armenische Minderheit bestätigt. Der Genozid an den Armenier*innen begann. Im Februar 1915 mussten armenische Soldaten der osmanischen Armee ihre Waffen abgeben. Sie wurden in Strafbataillone gesteckt oder sofort erschossen. Erste Deportationen fanden statt. Am 27. Mai erließ die Regierung das Deportationsgesetz. Im Rahmen dieser Umsiedlungskampagne wurden bis zu 1,8 Millionen Armenier*innen ermordet. Armenier*innen bezeichnen den Völkermord als Aghet (dt. Katastrophe).

Einer der Hauptverantwortlichen für den Genozid war der „Jungtürke“ Enver Pascha, „ein Verfechter islamistisch-turanistischer Vorstellungen“ (BpB). Pascha gehörte zu den mächtigsten Männern des Staates und plante als Kriegsminister ein türkisches Großreich: „Turan“.

Turanistische Gruppen wurden auch durch den Nationalsozialismus unterstützt. Deutschland wollte die Türkei als Verbündeten und förderte faschistische Bewegungen im Land. Bereits 1934 begingen nationalistische Gruppen Pogrome gegen Juden und Jüdinnen in der Region Thrakien. Politisch organisiert waren die Turanisten in der Partei Türk Ocağı (Heim der Türken). Zum Ende des zweiten Weltkrieges wurde diese Zusammenarbeit immer kritischer gesehen. 1944 wurden 23 Turanisten verhaftet und zu Freiheitsstrafen verurteilt. Darunter auch der Hitler-Sympathisant Alparslan Türkeş, der zum ersten Führer der „Grauen Wölfe“ werden sollte. Türkeş wurde zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt, wurde aber später wieder freigesprochen. Schuld daran trug der kalte Krieg. Die Türkei wandte sich eher dem Westen zu, um dem Einfluss der Sowjetunion zu entgehen. Antikommunistische Kräfte wurden bevorzugt und auch wenn sie Nationalisten waren, weniger stark verfolgt.

Der politische Arm der „Grauen Wölfe“ sind die rechtsextreme „Partei der nationalistischen Bewegung“ (MHP – Milliyetçi Hareket Partisi) und deren Abspaltung „Große Einheitspartei“ (BBP – Büyük Birlik Partisi). Die MHP ist dabei die deutlich einflussreichere. Sie ist Teil des Wahlbündnisses „Volksallianz“, zu dem auch Erdoğans Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP) gehört. Gegründet wurde sie in den 1960er Jahren aus der Republikanischen Nationalen Bauernpartei (CKMP – Cumhuriyetçi Köylü Millet Partisi). Die Umbenennung fand 1969 statt. Durchgesetzt wurde sie von Alparslan Türkeş und seinen Unterstützern.

Die Ideologie der „Grauen Wölfe“

„Ein Türke glaubt an die Überlegenheit der türkischen Rasse, schätzt deren nationale Vergangenheit und ist bereit, sich für die Ideale des Türkentums zu opfern, besonders gegen Moskau [die kommunistische Sowjetunion], den erbitterten Feind,“ schrieb Nihal Atsız, ein Vordenker der Bewegung. Das zeigt den Rassismus, der der Bewegung zu Grunde liegt. Dazu kommt ein militanter Antikommunismus, verbunden mit religiöser Anti-Liberalität.

Türkeş setzte außerdem die „Neun-Lichter-Doktrin“ (Dokuz Işık) ins Zentrum. Zentral sind dabei Nationalismus, Idealismus, Ehrgefühl, Wissenschaft, Einheit, Bauernschaft, Freiheit und Selbstständigkeit. Wichtig bei MHP und den „Grauenn Wölfen“ ist außerdem ein hierarchischer Führerkult. So wird beispielsweise Türkeş auch Jahrzehnte nach seinem Tod noch verehrt. Die Verlautbarungen der Partei sind Gesetz für ihre Anhängerschaft.

Ursprünglich waren die MHP und ihre Vorgängerparteien säkular, in der Tradition des Staatsgründers Atatürk, die Doktrin des „Idealismus“ war nicht religiös. Der Islam wurde aber immer wichtiger, vor allem in der Abspaltung der MHP, der BBP gibt es starke islamistische Tendenzen. Zu einer zentralen Ideologie wurde die Vorstellung einer historischen Untrennbarkeit zwischen Islam und Türkei.

Internationale und nationale Gewalt

Unter dem Turanisten Türkeş radikalisierte sich die Partei weiter. Türkeş formulierte ein Strategie der „drei Stufen“. Die Straßen, der Staat und das Parlament sollten erobert werden. In dieser Zeit tauchte auch der Name Bozkurtçular – „Graue Wölfe“ – zum ersten mal auf. Es war der Name der militanten Jugendgruppen der MHP, später wurden die „Graue Wölfe“ zum paramiltärischen Arm der Partei. Bis zu 100.000 Personen wurden in Kommandolagern der„Graue Wölfe“ militärisch geschult. Über die Jahre kommt es immer wieder zu Gewalt und Morden. Türkische Behörden gehen davon aus, dass zwischen 1974 und 1980 insgesamt 694 Morde auf das Konto der Faschist*innen gehen. Die Gewalt richtete sich dabei meist gegen Linke, Kurd*innen und Alevit*innen.

Beim Pogrom von Kahramanmaraş, das vom 19. bis zum 26. Dezember 1978 stattfand, ermordeten „Graue Wölfe“ und MHP-Mitglieder 111 Alevit*innen und plünderten alevitische Häuser und Geschäfte. Menschen wurden auf die Straßen gezerrt und in aller Öffentlichkeit gefoltert und vergewaltigt. Zwei Jahre später wurde ein MHP-Politiker ermordet. Nach landesweiten Protesten der Nationalist*innen kam es in Çorum zu einem weiteren Pogrom. Am 4. und 5. Juli 1980 griffen „Graue Wölfe“ und andere nationalistische MHP-Sympathisant*innen alevitische Wohnviertel und Dörfer an, sowie die Zentrale der sozialdemokratischen Partei Cumhuriyet Halk Partisi (CHP). 18 Menschen starben.

Dabei sind die „Grauen Wölfe“ schon lange nicht mehr auf die Türkei beschränkt. Am 21. Mai 1974 wurde der Bauingenieur Neşet Danış in Norderstedt von „Grauen Wölfen“ zu Tode geprügelt. Am 5. Januar 1980 greifen „Graue Wölfe“ in Berlin Kreuzberg eine Gruppe Kommunist*innen an, die Flugblätter verteilen. Der Lehrer und Gewerkschafter Celalettin Kesim wird dabei getötet. 1984 verüben „Graue Wölfe“ein Attentat auf den Kreuzberger Frauenladen TIO. Dabei wird die Menschenrechtsaktivistin Seyran Ateş lebensgefährlich verletzt.

Am 3. Mai 1984 führte die Terrorgruppe einen Anschlag auf ein Mahnmal für den Völkermord an den Armenier*innen in einem Vorort von Paris durch. Der Anschlag wurde auch vom türkischen Geheimdienst mit vorbereitet. Drei Bomben explodierten, 13 Menschen wurden verletzt. Der Gedenkort wurde zerstört. Am 13. April 2003 kam es zu einem weiteren Anschlag auf das wiederaufgebaute Mahnmal. Die Angreifer*innen blieben unbekannt, der Verdacht, dass wieder „Graue Wölfe“ dahinter stecken bleibt jedoch.

Mehmet Ali Ağca beging 1981 ein Attentat auf Papst Johannes Paul II. auf dem Petersplatz in Rom. Er war aus dem Gefängnis geflohen, wo er eine Haftstrafe wegen des Mordes an dem Journalisten İpekçi absitzen sollte. Ağca war Mitglied der „Grauen Wölfe“.

Die Liste ließe sich weitaus länger fortführen. Die türkischen Rechtsextremen scheuen auch nicht extreme Gewalt, um gegen politische Gegner*innen vorzugehen.

„Werde Deutscher, bleibe Türke!“

Kurz vor seinem Tod erfand Türkeş bei der Jahreshauptversammlung der Türk Federasyon – einem MHP- und „Graue Wölfe“-Dachverband – in Essen das „Europäische Türkentum“ (Avrupa Türklüğü). Eine Bezeichnung für nationalistische, rechtsextreme Türk*innen außerhalb der Türkei.

Rechtsextreme türkische Organisationen warben unter dem Motto „Werde Deutscher, bleibe Türke!“ dafür, dass ihre Anhänger*innen die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen sollten, um politisch Einfluss nehmen zu können und nationalistische Lobby-Organisationen zu etablieren.

Im Laufe der Jahre kam es auch im türkischen Rechtsextremismus immer wieder zu Spaltungen und Streitigkeiten. Dazu kommt die zum Teil angespannte politische Lage in der Türkei, in der auch zeitweilig die MHP verboten wurde. Mittlerweile existieren in Deutschland mindestens drei größere Gruppierungen, die als Vertreter*innen der „Grauen Wölfe“ gelten können. Neben der Türk Federasyon sind das die ATB (Europäisch-Türkische Union) und die ATIB (Türkisch Islamische Union Europa). Insgesamt haben die drei Dachverbände etwa 300 lokale Vereine in Deutschland. Der Verfassungsschutz geht von etwa 11.000 Personen aus, die unmittelbar der Ülkücü-Bewegung zugerechnet werden können. Dazu kommt auch noch ein Dunkelfeld von nicht in Vereinen organisierten Unterstützer*innen. Laut Verfassungsschutz mindestens 2.800 weitere Personen: „Neben den verbandlich in der ADÜTDF oder der ATİB organisierten ‚Ülkücü‘-Anhängern werden 2.800 Personen weiteren ‚Ülkücü‘-Strukturen sowie der unorganisierten ‚Ülkücü‘-Bewegung zugerechnet, mit der sie insbesondere ideologisch verbunden sind. Die unorganisierte ‚Ülkücü‘-Bewegung besteht überwiegend (aber nicht ausschließlich) aus jüngeren Menschen, die zum Teil über soziale Netzwerke miteinander in Kontakt stehen. Dort pflegen sie ihre Feindbilder und agitieren gegen ihre ‚Gegner‘.“

Weiterlesen

HP Beitrag(3)
Aufruf

Wenig Zeit bis zur Bundestagswahl – Demokratie ist nicht verhandelbar! Wir fördern eure Projekte!

Im Superwahljahr 2024 hat eine rechtsextreme Partei in ostdeutschen Bundesländern hohe Stimmenanteile erzielt. Bei der kommenden Bundestagswahl droht die Gefahr, dass sie diesen „Erfolg“ über Ostdeutschland hinaus fortsetzt. Viele Initiativen und Bündnisse engagieren sich kreativ und mit langem Atem für ein solidarisches und demokratisches Miteinander. Die Zivilgesellschaft steht bundesweit weiterhin gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus ein. Dieses stabile Engagement braucht es nunmehr denn je, trotz und gerade wegen aller Unsicherheiten.

449404093
Kommentar

Kommentar: Lohnt sich Demokratieförderung überhaupt?

Als die Correctiv-Recherchen Anfang 2024 publik wurden, gründeten sich bundesweit Initiativen, die zu Demonstrationen für Demokratie und gegen Rechtsextremismus aufriefen. Sie mobilisierten Hunderttausende. Seitdem sind neue Initiativen und Bündnisse entstanden und Netzwerke gewachsen. Die Zivilgesellschaft in Ostdeutschland blüht auf, wie lange nicht. Trotzdem erringt die rechtsextreme AfD starke Ergebnisse. Das enttäuscht und war doch vorhersehbar. Es braucht Zeit, die über Jahre entstandene rechtsextreme Hegemonie wieder aufzubrechen. Ein Kommentar.

Mitmachen stärkt Demokratie

Engagieren Sie sich mit einer Spende oder Zustiftung!

Neben einer Menge Mut und langem Atem brauchen die Aktiven eine verlässliche Finanzierung ihrer Projekte. Mit Ihrer Spende unterstützen Sie die Arbeit der Stiftung für Demokratie und Gleichwertigkeit.