Wie ist die Stimmung in Halle zwei Jahre nach dem antisemitischen und rassistischen Anschlag? Ein Besuch bei unseren geförderten Projekten und Partner:innen.
Von Franziska Schindler und Charlotte Sauerland
Wenn Maya Philipp in Halle auf die Straße geht, muss sie damit rechnen, angefeindet zu werden. „Kopftuch weg! Geh in dein Heimatland, du hast keinen Platz hier in Deutschland“, das hat die 26-jährige Libanesin mit palästinensischen Wurzeln alles schon gehört. „Manchmal laufe ich einfach nur auf der Straße und ein Mann kommt und rempelt mich an“, erzählt sie. Im letzten Jahr versteckte die ausgebildete Kosmetikerin ihr Kopftuch deshalb unter einer Mütze.Und dennoch lebt sie gern in Halle. „Das ist die beste Stadt für mich“, sagt Philipp. „Und ich kann inzwischen gut genug Deutsch, um mich gegen die Leute zu wehren.“
Anderthalb Jahre sind vergangen, seit ein Rechtsterrorist versuchte, in die Synagoge einzudringen, dann den Kiez-Döner aufsuchte und zwei Menschen tötete. Was hat sich seit diesem Oktobertag 2019 in der Stadt verändert?„Es tut sich auf jeden Fall etwas“, sagt Lena Lehmann. Die Sozialarbeiterin mit wacher Stimme und grauem Wollpulli ist im Organisationsteam von Unteilbar Sachsen-Anhalt aktiv. Auch vor dem Anschlag habe es hier schon viele Initiativen für Vielfalt und gegen Diskriminierung gegeben, so Lehmann. „Aber jetzt bekommen die Themen mehr Aufmerksamkeit und es haben sich neue Projekte gegründet.“ So haben es sich Karoline Wagner und Amand-Gabriel Führer zur Aufgabe gemacht, Diskriminierung sichtbar zu machen. Eigentlich beschäftigt sich ihre Arbeitsgruppe an der Uni Halle mit Diskriminierung von Patient:innen im Gesundheitssystem. Doch auch im Universitätskontext erlebten und beobachteten die Mitglieder der Arbeitsgruppe, viele davon selbst Studierende, Ähnliches. „Daraus entstand die Idee, genauer nachzuforschen“, sagt Karoline Wagner.
Inzwischen ist das von der Amadeu Antonio Stiftung unterstützte Projekt in vollem Gange. Gerade werden die Studierenden zu ihren Erfahrungen mit Diskriminierung im Unikontext befragt. Danach sollen in Zusammenarbeit mit Betroffenen Handlungsempfehlungen für die Uni entwickelt werden. 840 Studierende haben an der Onlineumfrage teilgenommen; 55 haben sich zu einem persönlichen Interview – dem zweiten Schritt der Datenerhebung – bereiterklärt.„Wir waren überrascht, wie viele Studierende sich schon beteiligt haben“, sagt Führer. Es scheint auf jeden Fall ein Bedürfnis zu geben, über Diskriminierung zu reden. Die Forscher:innen haben zahlreiche Mails voller Zuspruch bekommen. Sie gehen davon aus, dass die systematische Auswertung der Daten bis Ende des Jahres vorliegen wird. Was bei einem Blick in die Umfragebögen aber jetzt schon auffällt: Viele Studierende berichten von rassistischen Witzen und sexistischen Äußerungen. Gerade für trans* Personen käme zur Alltagsdiskriminierung eine Reihe struktureller Benachteiligungen hinzu. So sei etwa der Namenswechsel häufig mit großen bürokratischen Hürden verbunden.
Ein weiteres der neu entstandenen Projekte ist beim Verein Sprachbrücke e.V. angesiedelt. Die Ehrenamtlichen haben sich 2015 zusammengefunden, als viele Geflüchtete in Halle ankamen. Damals organisierten sie Möbelspenden, begleiteten Geflüchtete bei Behördengängen, brachten ihnen Fahrradfahren bei. Heute begeben sie sich mit geflüchteten Frauen auf die Spuren Anne Franks. Nachdem sie ihr Tagebuch auf Arabisch gelesen haben, beschäftigen sie sich in Workshops mit dem Nationalsozialismus und jüdischem Leben in Deutschland. Unterstützt werden sie dabei vom halleschen Verein Zeit-Geschichte(n) e.V. Juliane Bischoff leitet die Workshops mit 15 Frauen aus Syrien, dem Libanon, den Palästinensischen Gebieten und Tunesien. „Die Geschichte von Anne Frank hat mich sehr berührt, sie ist so eine starke Frau“, erzählt Maya Philipp, die seit einem Jahr an dem Projekt teilnimmt. So begeistert wie die 26-Jährige von der für sie ungewöhnlichen Spurensuche ist, sind es Juliane Bischoff und Annett Rauch von ihren Teilnehmer:innen. Ihre beiden Vereine unterstützt die Amadeu Antonio Stiftung.
„Ich dachte, sie machen das nicht mit…“
„Als ich den Frauen unsere Idee präsentiert habe, hatte ich wirklich Angst“, sagt Rauch, die das Projekt initiiert hat. „Sich ein Jahr lang mit Antisemitismus auseinandersetzen? Ich dachte, sie machen das nicht mit!“ Es kam anders. Alle wollten dabei sein, und sie sind es noch immer. „Die Frauen sind hochmotiviert, obwohl wir uns seit Monaten nur online treffen“, berichtet Rauch. Nicht nur Offline-Workshops, auch Exkursionen nach Auschwitz oder zum Berliner Anne-Frank-Zentrum mussten abgesagt werden. Die Teilnehmerinnen hat das nicht davon abgehalten, mit mindestens genauso viel Elan weiterzumachen.
„Die Frauen können sich so gut in Anne Frank hineinversetzen“, ergänzt Bischoff. Jetzt wollten sie die Ergebnisse des Projekts öffentlich vorstellen. „Das finde ich wirklich sehr bemerkenswert.“Für Zeit-Geschichte(n) e.V. koordiniert Bischoff die Verlegung von Stolpersteinen in Halle, konzipiert Stadtführungen zu den Orten jüdischer Geschichte und jüdischen Lebens heute, bildet junge Erwachsene zu Stadtführer:innen fort. Gerade sitzt sie daran, mit Jugendlichen ein „Actionbound“, eine Art interaktive Schnitzeljagd für das Handy, zu erarbeiten. Mitglieder der russischsprachigen Community haben unter Bischoffs Begleitung die Stadtführung jüngst auf Russisch übersetzt und sobald die Pandemie es zulässt, soll es damit losgehen. Ob es die Stadtführungen bald auch auf Arabisch geben wird? „Es wäre sehr toll, wenn die Frauen dabei wären“, meint Bischoff. Es ist ein Mosaikstein bei dem Versuch, jüdisches Leben in der Stadt sichtbarer zu machen, und wie Torsten Hahnel vom Verein Miteinander e.V. findet – dringend nötig: „Wir haben hier eine Repräsentationslücke jüdischen Lebens, und die hat mit unserer Geschichte zu tun.“ Das nicht wahrhaben zu wollen sei „einfach naiv“.
Mehr Problembewusstsein für Antisemitismus
„Unmittelbar nach dem Anschlag hatte ich den Eindruck, dass viele in erster Linie betroffen waren, weil irgendjemand jemanden kannte, der in der Nähe war oder sich sonst dort aufhielt“, ergänzt Juliane Bischoff. „Da gab es immer einen Ich-Bezug, aber um die Menschen in der Synagoge ging es erstmal wenig.“ Allerdings bemerke sie seit dem Anschlag ein stärkeres Problembewusstsein für Antisemitismus in der Stadt. „Das muss ich selbstkritisch sagen, auch ich nehme Antisemitismus jetzt viel stärker wahr.“
„Aus jüdischer Perspektive bin ich über den Umgang der Stadt Halle mit Antisemitismus sehr enttäuscht“, sagt hingegen Karoline Wagner. „Ich finde, es hat sich seit dem Anschlag definitiv nichts verbessert.“ Für Torsten Hahnel sind die Reaktionen „total ambivalent“. Am ersten Gedenktag seien viele Menschen sehr erschüttert gewesen, berichtet der Mitbegründer von Miteinander e.V., der sich für eine offene, plurale und demokratische Gesellschaft in Sachsen-Anhalt einsetzt. Gleichzeitig beobachtet Hahnel eine „große Hilflosigkeit“ im Umgang mit dem Anschlag. Einerseits bei vielen Menschen, die sich engagieren wollten, aber nicht wüssten, an wen sie sich wenden könnten. Andererseits beim Land und der Stadtverwaltung, denen ein würdiges Gedenken an die Opfer des Anschlags nicht so recht gelingen wolle. Am ersten Jahrestag des Anschlags seien viele staatliche und städtische Akteure vor allem damit beschäftigt gewesen, wer wo einen Kranz niederlegen darf: „Die konkreten Bedürfnisse der betroffenen Personen standen da nicht wirklich im Vordergrund.“ Hinzu kommen sowohl ein Innenminister des Landes, der kurz beklagt, dass die Einsatzstunden zum Schutz jü-discher Einrichtungen an anderer Stelle fehlten, als auch immer wieder rechtsextreme Vorfälle bei der Polizei. Das zivilgesellschaftliche Bündnis „Halle gegen Rechts“ organisierte in der Zwischenzeit eine Gedenkausstellung. Diese wurde von den Betroffenen und Hinterbliebenen sehr positiv aufgenommen, berichtet Hahnel. Und dennoch: Die Mehrheit der Stadtgesellschaft werde durch diese aktiven und gut vernetzten zivilgesellschaftlichen Initiativen nicht abgebildet.
„Wir haben ein Defizit an demokratischer Beteiligung der Mehrheitsgesellschaft“, so Hahnel. Das sei im Osten noch einmal deutlich stärker als im Westen.Was außerdem fehlt: Dass sich diese Initiativen über die Stadt hinaus vernetzen, Allianzen gründen. Das Bündnis Unteilbar will diese Leerstelle füllen und die Zivilgesellschaft Sachsen-Anhalts zusammenbringen. Aber wie funktioniert Vernetzung inmitten einer globalen Pandemie? „Ganz, ganz viele Zoomkonferenzen“, antwortet Lehmann. „Die können an einem Samstag auch mal fünf Stunden dauern, aber die Leute bleiben trotzdem dran.“ Darüber ist Lehmann selbst erstaunt. Denn nicht nur Ausdauer für die manchmal mehrmals wöchentlich stattfindenden Treffen, auch Kompromissbereitschaft müssen die Unteilbar-Unterstützer:innen mitbringen: Hier sind Kirchen ebenso wie queer-feministische Gruppen, Umweltaktivist:innen genauso wie Gewerkschaften vernetzt. Nicht nur aus Halle, sondern auch aus dem ländlichen Raum Sachsen-Anhalts kommen die Initiativen, die sich inzwischen unter dem Dach von Unteilbar zusammenfinden.
Bei der ersten Demo des Bündnisses in Magdeburg stellten sich alle teilnehmenden Initiativen vor. Mit der zweiten Kundgebung unter dem Motto „Die rote Linie ziehen!“ forderte Unteilbar die demokratischen Parteien auf, nicht mit Rechtsextremen zusammenzuarbeiten. Mit einem roten Band umspannten die Aktivist:innen den sachsen-anhaltinischen Landtag. Die kommende Kundgebung in Halle steht unter dem Slogan „Für eine demokratische und offene Gesellschaft – Solidarität statt Ausgrenzung!“ Was die Aktionen für das Bündnis außerdem zu etwas ganz Besonderem macht: „Viele von uns haben sich bei der ersten Kundgebung zum ersten Mal gesehen, wir kannten uns ja nur von Zoom!“
Lieblingsfeind Miteinander e.V.
Vor fünf Jahren ist die AfD in den Magdeburger Landtag eingezogen. Miteinander e.V. wurde zu einem ihrer Lieblingsfeinde gekürt. Als Teile der Regierungskoalition begannen, sich an der Delegitimationskampagne gegen den Verein zu beteiligen, wurde es schnell existenziell: Fördergelder drohten gestrichen zu werden, der Ruf des Demokratievereins und damit dessen wichtige Arbeit waren bedroht. „Die Diskursverschiebung ist der AfD auf jeden Fall gelungen“, sagt Hahnel. Die Konsequenzen für die Initiativen und Vereine in Sachsen-Anhalt seien gravierend: „Die wollen uns und alle anderen zivilgesellschaftlichen Strukturen einschüchtern, verunsichern und das Selbstbewusstsein nehmen.” Man fühle sich permanent bedroht. „Das ist echt gruselig.“ Eine Vernetzungsstruktur über die Stadtgrenzen hinaus zu schaffen, das findet Lehmann auch in Hinblick auf die Landtagswahl wichtig: „Wir wollen als Zivilgesellschaft für einen Fall Kemmerich gewappnet sein!“
Hahnel ist fest davon überzeugt, dass die Mehrheit der Menschen in Sachsen-Anhalt nicht rechts ist. Trotzdem seien die Rechtsextremen permanent in der Öffentlichkeit präsent, wie etwa der rechtsextreme Dauerdemonstrant Sven Liebich auf dem Marktplatz. „Es ist also nicht eine Frage von Mehrheit und Minderheit, aber es braucht eine sehr klare Positionierung und Abgrenzung der demokratischen Mehrheit gegen menschenfeindliche Positionen – und da liegt das eigentliche Problem.“