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„So viel Rassismus hätte ich nicht für möglich gehalten”

30 Jahre nach der Ermordung von Amadeu Antonio setzen sich Mustafa Hussien und die Gruppe „Barnim für alle” in Eberswalde gegen Rassismus ein.

Als Mustafa Hussien nach Deutschland kam, schockierte ihn nicht nur, wie rassistisch die deutsche Gesellschaft ist. Auch in der Initiativenlandschaft gibt es einiges umzukrempeln.

Von Franziska Schindler

„Ich habe jetzt zwei Jahre Erfahrungen mit diesem Land und ich finde es richtig krass”, sagt Mustafa Hussien: „Ich hätte niemals für möglich gehalten, dass es in Deutschland so viel Rassismus gibt.” Als politisch Verfolgter floh Hussien aus dem Sudan. Dreimal saß der studierte Maschinenbauer dort bereits im Gefängnis. „Als ich in Deutschland ankam, war ich erstmal erleichtert: Endlich durchatmen, zur Ruhe kommen”, erinnert er sich.

Doch nach drei Tagen in der Erstaufnahmeeinrichtung Eisenhüttenstadt ist die Erleichterung weg. Auf dem Weg zur Unterkunft wird Hussien von drei vorbeifahrenden Jugendlichen rassistisch beleidigt. Es ist die erste in einer Serie von Abwertungen, die er in den folgenden Monaten erleben wird. Das eine sind die Beleidigungen im öffentlichen Raum: auf der Straße mit dem N-Wort angesprochen, von Kopf bis Fuß gemustert zu werden. Das andere ist der strukturelle Rassismus in den Behörden: Vom Grundsicherungsamt über das Jobcenter bis zur Ausländerbehörde kann der ehrenamtliche Dolmetscher von zahlreichen Diskriminierungserfahrungen berichten. „Ich hatte nach Freiheit gesucht, aber ich habe eine neue Form der Unterdrückung ken-nengelernt” – das ist sein Resümee.

Von Eisenhüttenstadt zieht Hussien nach Ützdorf und schließlich Eberswalde – die Stadt, in der vor 30 Jahren der angolanische Vertragsarbeiter Amadeu Antonio von Neonazis ermordet wurde. Er war eines der ersten Todesopfer rechter Gewalt im wiedervereinigten Deutschland. 30 Jahre später gibt es in Eberswalde ein Bürgerbildungszentrum, das Amadeu Antonios Namen trägt, eine aktive demokratische Zivilgesellschaft, couragierte Politiker*innen, die Bürgerstiftung Barnim Uckermark. Und dennoch: „Mit jedem Kilometer, den ich mich von Berlin entferne und Eberswalde nähere, erlebe ich mehr Alltagsrassismus”, berichtet Hussien. „Die Rassist*innen auf den Straßen von Eberswalde erreicht die Zivilgesellschaft hier nicht.”

Aber Hussien, der im Sudan bereits für mehrere NGOs arbeitete und sich jetzt bei der Initiative „Barnim für alle” engagiert, sieht noch ein anderes Problem: Viele der Engagierten – meist weiß und privilegiert – haben keinen Kontakt zu Betroffenen von rassistischer Diskriminierung – maßgeblich Geflüchteten, die in der Umgebung von Eberswalde in Sammelunterkünften wohnen. Wollen sie gegen die eigene Diskriminierung kämpfen, fehle in der Initiativenlandschaft der Anknüpfungspunkt. Wer mit Weißen zudem hauptsächlich Rassismuserfahrungen gemacht habe, dem falle es umso schwerer, ihrer Unterstützung zu vertrauen. Und selbst in diversen Gruppen sind meist die Privilegierten mit deutschem Pass in machtvollen Rollen, während Schwarze Menschen und People of Color unterstützende Aufgaben übernehmen. Und so bleiben rassistische Machtstrukturen bestehen, resümiert Hussien.

Die Gruppe „Barnim für alle” sieht das Problem – und hat sich deshalb umstrukturiert: Entscheidungen treffen ab jetzt nur noch die Engagierten, die selbst von Diskriminierung betroffen oder geflüchtet sind. Weiße Menschen unterstützen dabei, Anträge zu schreiben, und übernehmen Care-Aufgaben wie Kochen. Mit Workshops zu Moderation, dem Verfassen von Redebeiträgen und Gruppenorganisation erlernen die Mitglieder das nötige Handwerkszeug, um sich bald neue Aufgaben zuzutrauen. Unterstützt werden sie dabei von der Amadeu Antonio Stiftung. An Energie mangelt es der Gruppe nicht. Zum 30. Todestag von Amadeu Antonio organisiert sie mit anderen Eberswalder Initiativen neben einer Gedenkveranstaltung auch eine Social Media Kampagne. Die Workshopreihe und der Gruppenprozess gehen indes weiter. „Es ist nicht immer leicht, aber wir sind auf einem guten Weg”, davon ist Hussien überzeugt.

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