Es ist ein Dienstag im November im sächsischen Grimma, grau und feucht. Eine lange Straße ist gesäumt von Laternen, auf denen rote Sticker kleben. Darauf ein grimmiger Smiley mit Daumen nach unten, umrandet von dem flüchtlingsfeindlichen Schriftzug »Asylantenheim? Nein Danke!«. Die Straße führt zur alten Spitzenfabrik. Hier ist das »Dorf der Jugend« zu Hause. Eine von Jugendlichen geschaffene Utopie in der sächsischen Provinz.
Auch am Dienstagmittag ist hier einiges los. Menschen arbeiten in der Werkstatt. Jugendliche meistern mit ihren BMX-Bikes den Parkour auf der Skatebahn. Drei Hühner tapsen im Gemüsegarten umher. Außerdem sind Carolyn Reg’n und Sarah Schröder heute im »Dorf der Jugend«. »Ach, da sind schon wieder Nazi-Sticker?« fragt Carolyn. Sie betreut das Jugendprojekt als Sozialarbeiterin. »Die wurden doch erst letzte Woche abgeknibbelt«, ärgert sich die junge Frau mit den Dreadlocks. Bei den Landtagswahlen kam die AfD in Grimma auf über 30 Prozent der Stimmen. Natürlich ist das Verfangen von rechtsradikaler Propaganda kein rein ostdeutsches Phänomen, doch besonders hier, im ländlichen Raum, scheinen sich menschenfeindliche Einstellungen verfestigt zu haben. Eine Ursache ist die sterbende Jugendkultur und Jugendsozialarbeit auf dem Land. Die 19-jährige Sarah, eine der engagierten Jugendlichen des Dorfprojekts, meint: »Hier gibt es einfach nicht viele Möglichkeiten für junge Menschen.« Wo Sozialarbeit für junge Menschen nicht mehr finanziert wird und wegfällt, entsteht ein Vakuum. Das spielt Rechtsextremen in die Hände. Besonders die sogenannte »Neue« Rechte geht gezielt in ländliche Regionen, in denen Angebote für junge Menschen stetig schrumpfen, um rechtsextreme Alternativen zu schaffen. Das »Dorf der Jugend« ist in dieser Entwicklung ein herausragendes Gegenbeispiel.
Schaut man sich auf dem Areal der alten Spitzenfabrik um, wird schnell klar, welche Einstellung die Jugendlichen hier haben, sie ist auf den bunten Graffitis und auf Stickern zu lesen. Die jungen Menschen setzen sich für eine offene Gesellschaft und gegen rechtsradikales Gedankengut ein. Für Sarah sind das »Dorf der Jugend« und seine Menschen wie eine Familie, erzählt sie. Man merkt, wie sehr ihr der Ort ans Herz gewachsen ist. »Hier bekommt man kein vorgefertigtes Programm vor die Füße geknallt. Es heißt nicht, entweder dir gefällt das, oder dir gefällt das halt nicht und wenn es dir nicht gefällt, dann gehste halt wieder«, beschreibt Sarah. Die Jugendlichen lieben diesen Ort, an dem sie nicht wie Kinder behandelt werden. Sie haben hier Verantwortung. Viele verbringen den Großteil ihrer Zeit im Dorf, gestalten ihren Freiraum mit eigenen Ideen. »Irgendwann meinten die Skater*innen, sie bräuchten einen Skatepark und dann haben wir eben einen gebaut«, erzählt Sarah. In der Tat ist es beeindruckend, was die Jugendlichen alles selbst gestemmt haben: Unter Anleitung von Expert*innen haben sie unter anderem ein Containercafé errichtet, einen Grillplatz gepflastert, Fenster verglast, Bühnen gebaut und einen Hühnerkäfig gezimmert. »Im Vergleich zu anderen Angeboten holt unser Projekt die Jugendlichen mehr ab«, meint Sarah, und Carolyn wirft ein: »Vor allem machen die Jugendlichen hier die Angebote ja auch selbst.« Ein Projekt, auf das hier alle besonders stolz sind, ist das »Crossover-Festival«. Am letzten Augustwochenende fand es zum 14. Mal statt und wurde, wie alles im Dorf, von den Jugendlichen selbst organisiert. Sie kümmerten sich um Workshops, Aktivitäten und Vorträge. Eigentlich rechneten sie mit rund 400 Besucher*innen, tatsächlich kamen knapp 1.000 – vielleicht auch, weil das »Crossover« komplett kostenlos ist. »Wir wollen nicht, dass Geld für Jugendliche ein Hindernis darstellt«, erklärt Sarah. 2014 pachtete Tobias Burdukat, der damalige Sozialarbeiter, die Fabrik und das zugehörige Gelände am Stadtrand von Grimma und überließ es größtenteils den Jugendlichen, das Areal nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Seit 2016 ist der »Förderverein für Jugendkultur und Zwischenmenschlichkeit e.V.« Pächter des Geländes. Die Jugendlichen finanzieren das Dorf durch ein Containercafé.
Als sich der Trägerverein des »Dorf der Jugend« 2019 als freier Träger der Jugendarbeit anerkennen lassen wollte, stand vor allem Burdukat in der Kritik. Außerdem nahmen die Verantwortlichen des Jugendamts Anstoß daran, dass auf die Toiletten des Jugendtreffs »Kacken ist wichtiger als Deutschland« gemalt ist. Auch ein »FCK AFD«-Sticker störte sie. Zeitweise schien es, als stünde das ganze Projekt auf der Kippe. Bis tief in die Nacht wälzte Sarah damals das erste Mal in ihrem Leben das Sozialgesetzbuch, um zu verstehen, worum es hier geht und um eine sachliche Auseinandersetzung mit den zuständigen Behördenmitarbeiter*innen führen zu können. »Was uns damals so wütend gemacht hat, ist, dass zwar immer über uns geredet wurde, doch nie mit uns«, erklärt sie. Das sei damals eine »super emotionale und bedrückende Zeit« gewesen. In der aussichtslosen Lage entschieden die Jugendlichen, die Öffentlichkeit zu suchen. Das zeigte Wirkung. Inzwischen ist das Dorf als freier Träger anerkannt. Die Sozialarbeiter*innen-Stelle ist jedoch noch nicht gesichert. Tobias Burdukat hat sich mittlerweile als Sozialarbeiter aus dem Dorfprojekt zurückgezogen. Nun begleitet Carolyn das Projekt. Gemeinsam mit anderen Stiftungen würdigt die Amadeu Antonio Stiftung das Engagement der Jugendlichen mit dem Sächsischen Förderpreises für Demokratie 2019.