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Rückblick auf 25 Jahre Amadeu Antonio Stiftung

Weil wir Nazis Nazis nennen

Hauswand mit "Kein Ort für Neonazis"-Plakat.

Im Deutschland der 1990er Jahre gibt es beinahe täglich Schlagzeilen über Neonazis, die Kleinstädte terrorisieren, die Flüchtlingsheime anzünden, die Menschen totschlagen. Die junge Bundesrepublik fragt sich, woher die Wut der jungen Rechten kommt – und was getan werden kann, um sie zu beschäftigen.

Von Timo Reinfrank und Robert Lüdecke

Kaum jemand kümmert sich um die Opfer rechter Gewalt, stattdessen fließen Fördermittel in rechte Jugendclubs, auf denen Reichsflaggen gehisst werden. Unterstützung für Menschen, die sich dem Rechtsextremismus und Rassismus entgegenstellen, gibt es keine. Mit der Gründung der Amadeu Antonio Stiftung 1998 wollen die Journalistin Anetta Kahane und der Unternehmer und Stifter Karl Konrad von der Groeben unter der Schirmherrschaft des Bundestagspräsidenten, Wolfgang Thierse, das ändern: Die Mutigen, die den Nazis entgegentreten, sollen hier verlässliche Unterstützung finden, auch wenn die Politik lieber wegsieht. Viel zu oft stehen sie allein da und werden selbst zu “Nestbeschmutzern” erklärt, weil sie die rechten Umtriebe skandalisieren.

Das NDK Wurzen – ein Leuchtturm der Demokratie

Ein Hilferuf aus der Kleinstadt Wurzen im Nordosten Sachsens erreicht die Stiftung 1999. Eine Handvoll Jugendliche will nicht mehr länger vor den Neonazis wegrennen. Und endlich gibt es mit der kleinen Stiftung in Berlin jemanden, der zuhört und nicht relativiert. In einer unbeheizten Fahrradwerkstatt erzählen sie von ihren Erlebnissen, von den Widerständen, von ihrem Traum – ein eigener, geschützter Raum. Die Begeisterung steckt an: Die Amadeu Antonio Stiftung sammelt mit der Wochenzeitung Die Zeit Spenden, bürgt für einen Kredit, macht den Traum wahr. Die Engagierten kaufen ein sanierungsbedürftiges Haus mitten in Wurzen und bauen es jahrelang in ihrer Freizeit aus. Heute ist es ein Kultur- und Bürger*innenzentrum, das Netzwerk für demokratische Kultur, ein Leuchtturm der Demokratie, der auch anderen Mut macht.

”Mut gegen rechte Gewalt“ – von Pirna bis nach Weißwasser

Im Verlagshaus von Gruner+Jahr sitzt im Sommer 2000 die Chefredaktion des stern zusammen. Besorgt durch immer neue Übergriffe gegen Migrant*innen hat Reporter Ulrich Hauser einen Entschluss gefasst und lässt sich auch vom Vorzimmer nicht aufhalten, um sein Vorhaben zu erstreiten: Mit der Aktion ”Mut gegen rechte Gewalt” ruft der stern seine Leser*innen zu Spenden auf – und sammelt in kurzer Zeit hunderttausende Euro ein. Von einem Tag auf den anderen hat die kleine Amadeu Antonio Stiftung große Möglichkeiten: Das Neonazi-Aussteigerprojekt Exit wird gegründet und die Betroffenenberatung Opferperspektive in Brandenburg als erstes Projekt gefördert. Die Stiftung, bis dahin ein ehrenamtliches Herzensprojekt, stellt ihre ersten Mitarbeitenden ein – und sie gehen dahin, wo die Baseballschlägerjahre, der rechtsextreme Alltagsterror der Nachwendezeit, noch im vollen Gange sind: Nach Pirna, Pößneck, Weißwasser – überall dort, wo sich vor allem junge Menschen gegen Neonazis zur Wehr setzen. In Pirna in der sächsischen Schweiz klären Jugendliche Gleichaltrige über die Strategien der Neonazis auf, die ständig jungen Nachwuchs rekrutieren wollen. In Pößneck macht ein Bündnis eine Gegenkultur stark, weil Neonazis einen “nationalen Treffpunkt” aufbauen wollen. Schüler*innen aus Weißwasser erforschen die Spuren der NS-Zeit und gehen den Ursachen für den wieder erstarkenden Rechtsextremismus nach.

NSU-Schock

2011 dann der NSU-Schock. Unerkannt mordete eine Neonazi-Zelle in ganz Deutschland. Und auch wir haben das nicht kommen sehen. Angehörige der Opfer setzten die Morde schon lange vorher in Zusammenhang und warnten “Kein 10. Opfer!”. Doch auch uns hat, wie viele andere, die rechte Terrorserie überrascht. Die Stiftung reagiert, eröffnet ein Büro im Westen der Republik – und unterstützt, auch finanziell, die bundesweite Vernetzung von Initiativen zur Aufklärung verschiedenster Anschläge von NSU über München, Halle bis Hanau. Nur wenige Tage nach der Selbstenttarnung des NSU organisiert die Stiftung zusammen mit Udo Lindenberg, Peter Maffay u.a. ein „Rock gegen Rechts“-Konzert in Jena, 50.000 Menschen kommen. Weil es Drohungen gibt, werden Musiker*innen nur mit Schussweste auf die Bühne gelassen. Selten zuvor lag in Deutschland so offen auf dem Tisch, dass der Rechtsextremismus alles andere als „jugendlicher Unsinn” ist.

Gewalt gegen Geflüchtete

Als ab 2013 wieder vermehrt Geflüchtete in Deutschland ankommen, erleben wir eine neue Welle von Rassismus. Szenen, die an die 1990er erinnern: Menschenmengen belagern Flüchtlingsunterkünfte unter rassistischen Rufen, es brennen wieder Häuser. Doch es gibt einen Unterschied: 25 Jahre später stellen sich Menschen schützend vor die Unterkünfte, treten für eine menschenwürdige Unterbringung ein und organisieren das Ankommen. Die Stiftung unterstützt den zivilgesellschaftlichen Schutz von Asylsuchenden mit Rat und Geld. Viele der Initiativen, die sich damals zusammenfinden, sind nicht nur kurzfristig aktiv. Vielerorts sind die Menschen die gleichen, die 2022 auch den Geflüchteten aus der Ukraine wieder zur Seite stehen – und der rechten Mobilisierung vor Ort von Beginn an entschlossen entgegentreten.

Die „neue“ Rechte

Wenige Zeit später befindet sich die sogenannte “neue” Rechte im Aufwind. Dank ihres parlamentarischen Arms, der sich “Alternative” nennt und damit die Ablehnung der Demokratie meint, ist die Szene finanziell gut aufgestellt. Schon früh haben wir auch die neuen Nazis Nazis genannt. Sie versuchen uns deswegen mit Klagen einzuschüchtern und uns die Gemeinnützigkeit entziehen zu lassen. Die neuen Rassisten sitzen in Talkshows, versuchen mit tendenziösen parlamentarischen Anfragen, alle zu diskreditieren und unter Druck zu setzen, die sich für Vielfalt und Demokratie einsetzen – egal ob Kulturhäuser oder Gewerkschaften, Demokratieprojekte oder Gedenkstätten – bis hin zur Forderung, die Unterstützung mit öffentlichen Mitteln einzustellen. Stellvertretend für viele andere stellt sich die Amadeu Antonio Stiftung gegen diese Versuche, den Einsatz für demokratische Kultur in Verruf zu bringen. Ein Appeasement gegen die alten und neuen Nazis wird es mit der Stiftung nicht geben. Wir werden weiter streiten  – für eine demokratische Zivilgesellschaft, die hinschaut und handelt.

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Kommentar

Aus „Wir werden sie jagen“ werden Taten und wir alle sind mitgemeint — der Angriff auf Matthias Ecke

Am Freitagabend wurde der sächsische SPD-Spitzenkandidat für die Europawahl, Matthias Ecke, in Dresden beim Plakatieren für die Europawahl angegriffen und so schwer verletzt, dass er nicht ansprechbar war. Unsere Gedanken und unsere volle Solidarität sind bei Matthias Ecke und seinen Angehörigen. So erschüttert wir über den extremen Angriff sind, so wenig darf er uns überraschen. Es ist die logische Konsequenz aus “Wir werden sie jagen”, der von Alexander Gauland nach der Bundestagswahl 2017 vorgegebenen Stoßrichtung. Rechtsextremer Hass und Hetze fallen auf fruchtbaren Boden.

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