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Zivilgesellschaft unter Druck: Neutralitätsgebot – Herausforderung für die Demokratie?

Im Januar 2024 demonstrieren in ganz Deutschland Menschen gegen die AfD und Rechtsextremismus, auch in Erfurt. (Quelle: picture alliance / epd-bild | Paul-Philipp Braun)

Rechtsextreme instrumentalisieren das Neutralitätsgebot, um die Demokratie zu schwächen. Aber wie „neutral“ müssen staatlich geförderte, gemeinnützige Träger der politischen Bildung und der Demokratiearbeit eigentlich sein? Bei einer Tagung in Erfurt diskutiert die Zivilgesellschaft diese Fragen.

Von Vera Ohlendorf

Kurz vor den Landtagswahlen kommt die Thüringer Zivilgesellschaft am Erinnerungsort „Topf & Söhne – Die Ofenbauer von Auschwitz“ in Erfurt zur von der Amadeu Antonio Stiftung unterstützten Tagung „Das Neutralitätsgebot als Herausforderung für die Demokratie“ zusammen. Knapp 90 Teilnehmende diskutierten über den richtigen Umgang mit der zunehmenden rechtsextremen Bedrohung: Vereine und Verbände in der gesamten Bundesrepublik fürchten um staatliche Finanzierung und Gemeinnützigkeit, wenn sie sich kritisch zur Politik rechtsextremer Parteien oder Amtsträger*innen äußern oder sich weigern, etwa Vertreter*innen der AfD zu ihren Veranstaltungen einzuladen. Die Rechtsaußen-Partei fordert immer wieder, das sogenannte Neutralitätsgebot einzuhalten, nicht verbotene Parteien gleichzubehandeln oder politische Aktivitäten von Initiativen ganz zu unterbinden, wenn diese öffentliche Mittel erhalten. Auch Beamt*innen, Vertreter*innen der öffentlichen Verwaltung, Lehrkräfte an Schulen oder Vertreter*innen religiöser Gemeinden sehen sich immer häufiger mit dem Neutralitätsgebot konfrontiert. Aber existiert ein solches Gebot wirklich?

Demokratie ist nicht wertneutral

Im Mittelpunkt der Konferenz steht ein neues Rechtsgutachten von Friedhelm Hufen, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Demnach sei die durch die Verfassung garantierte demokratische Grundordnung per se wertebezogen und stehe in untrennbarem Zusammenhang mit Menschenwürde, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeit und den Grundrechten. Diese müssten in der Demokratie aktiv geschützt werden. Demokratiearbeit und politische Bildung seien in diesem Sinne nie neutral, da sie den Verfassungswerten verpflichtet seien, heißt es im Gutachten. „Das bedingt eine prinzipielle Absage an Sexismus, Rassismus, Homophobie, Antisemitismus, Islamfeindlichkeit, Europafeindlichkeit (…) und gilt (selbstverständlich) auch dann, wenn solche Positionen durch eine nicht verbotene politische Partei vertreten werden“, schreibt Hufen.

Jedoch besteht ein im Grundgesetz verankertes Gebot der Chancengleichheit in Bezug auf konkurrierende politische Parteien, dem insbesondere die Staatsorgane aller politischen Ebenen unterliegen. Diesen ist es verboten, im Sinne einer Partei in den Prozess der politischen Willensbildung einzugreifen. Die Auswirkungen des Verbots bekam kürzlich der bundesweit einzige AfD-Landrat, Robert Sesselmann aus dem thüringischen Kreis Sonneberg zu spüren. Er rief im Wahlkampf zur Wahl seiner Partei auf. Nun muss er mit Sanktionen durch das Thüringer Innenministerium rechnen (siehe DIE ZEIT).

Das Gutachten stärkt der Zivilgesellschaft den Rücken: Auch wenn Initiativen öffentliche Förderung erhalten, werden sie dadurch nicht zu „Sprachrohren“ der fördernden Ministerien und sind nicht im gleichen Maß an das Gebot der Chancengleichheit der Parteien gebunden. Auch wer Fördermittel bekommt, muss nicht neutral sein, sondern darf, ja sollte sachlich vor der Politik rechtsextremer Parteien warnen. Deren Vertreter*innen müssen nicht in Veranstaltungen einbezogen werden, wenn das den Zielen des Formats widerspricht. Entscheidend ist das Gebot der Sachlichkeit: Falsche Tatsachenbehauptungen, Schmähkritik, Beleidigungen, Eingriffe in die Privatsphäre und unzutreffende Vergleiche sind unzulässig.

Praxisprobleme: Es geht nicht nur um juristische Auseinandersetzungen

Die Tagungsteilnehmenden aus den Feldern Wissenschaft, Kultur, Soziales, Wirtschaft, Verwaltung und Zivilgesellschaft diskutierten ausführlich darüber, wie sich diese Grundsätze in der Praxis leben lassen.

Annegret Schüle, Leiterin des Erinnerungsortes „Topf & Söhne – die Ofenbauer von Auschwitz“ betont in ihrer Eröffnungsrede die Rolle der Verantwortung: „Mit Verweis auf das Neutralitätsgebot geht die AfD offensiv gegen Akteure vor, die für die Werte des Grundgesetzes eintreten. Wir können zu einer Veränderung beitragen, indem wir unsere Handlungsspielräume für Demokratie und Vielfalt nutzen und solidarisch sind. Der Erinnerungsort zeigt in seiner Dauerausstellung ‚Techniker der Endlösung‘: Selbst unter den Bedingungen der Diktatur hat der einzelne Mensch eine Verantwortung dafür, welche Folgen sein berufliches Tun für das Leben Anderer hat.“ Viele Menschen seien schon jetzt von Hass, Hetze und Gewalt betroffen und hätten Angst vor den Abschiebeplänen, die die AfD verbreite. Auch daraus erwachse Verantwortung.

Die Vorträge und Podien der Tagung zeigen, dass die verbreitete Forderung nach „politischer Neutralität“ auch dort verfängt, wo weder gemeinnützige noch staatlich geförderte Akteur*innen aktiv sind. Viele Thüringer Wirtschaftsunternehmen positionierten sich nicht klar gegen Rechtsextremismus und Menschenfeindlichkeit, weil sie fürchteten, Kundschaft zu verlieren, so Matthias Schwuchow, Geschäftsführer aus Jena, der sich als Unternehmer im Netzwerk Weltoffenes Thüringen engagiert.

Vertreter*innen sozialer Träger berichten von Kolleg*innen, für die eine vermeintliche Neutralität der Einrichtungen Voraussetzung sei, „für alle“ da zu sein. Klare Bekenntnisse zu Demokratie und Menschenrechten sorgten intern immer wieder für Diskussionen. Hier gälte es, entschieden Haltung zu zeigen. „Die Diakonie ist nicht neutral. Wir vertreten ein christliches Menschenbild und wollen gar nicht neutral sein. In unseren Einrichtungen sind uns Menschen mit Behinderungen anvertraut. Diese erfahren durch die Anhänger rechtsextremer Parteien Diskriminierungen“, so Ramón Seliger, Rektor der Diakoniestiftung Weimar Bad Lobenstein. Die Diakonie entwickle viele Projekte, um die Belegschaft zu sensibilisieren und miteinander ins Gespräch zu kommen. Diese Bildungsarbeit binde viele Ressourcen und müsse kontinuierlich stattfinden. Sie sei im Sinne der vulnerablen Klient*innen unabdingbar, so Seliger weiter. Welche Konsequenzen sozialdarwinistische und behindertenfeindliche Ideologien haben können, ist in der Pause in der Sonderausstellung „Wohin bringt ihr uns? ‚Euthanasie‘-Verbrechen im Nationalsozialismus“ des Erinnerungsortes zu erleben.

Rechtsextreme instrumentalisieren das Neutralitätsgebot

Die Debatten zeigen, dass es nicht nur um juristische Auseinandersetzungen geht. Auch wenn das Rechtsgutachten bestätigt, dass zivilgesellschaftliche Initiativen das Recht haben, sich kritisch mit der AfD oder anderen Parteien auseinanderzusetzen, verhindert dieses Recht weder Hasskommentare noch Übergriffe, die Engagierte bedrohen und unter Druck setzen. Stephan Kramer, Präsident des Amtes für Verfassungsschutz Thüringen, bringt es auf den Punkt: „Der Ruf nach Neutralität aus der rechtsextremen politischen Ecke ist immer der Versuch, unliebsame Kritik mundtot zu machen. Das Eintreten für die Grundrechte und die Werte unserer Verfassung kann nicht falsch sein!“ Es gehe jetzt darum, sich gegenseitig zu unterstützen und politisch aktiv zu werden, um der rechtsextremen Normalisierung die rote Linie der wehrhaften Demokratie entgegenzusetzen.

Jakob Springfeld, Autor aus Zwickau, betont, dass die Gewaltbereitschaft der extremen Rechten nicht unterschätzt werden dürfe. „Bedrohungen lassen uns erstarren. Sie sorgen dafür, dass manche Menschen aufgeben. Jede Bedrohung ist aber auch eine klaffende Wunde, aus der Solidarität, neue Energie und gesellschaftlicher Zusammenhalt sprudeln können“, so Springfeld.

Die Erfurter Tagung geht mit Optimismus, aber auch mit offenen Fragen zu Ende. Fest steht: Auch nach den Landtagswahlen braucht es viel Mut und Solidarität, um die Werte des Grundgesetzes gegen rechtsextreme Angriffe zu verteidigen.

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