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Zwischen Jubel und Jagd: Die Wiedervereinigung bedeutete auch enorme rechtsextreme Gewalt

Der dritte Oktober 1990 ging als Tag der deutsch-deutschen Wiedervereinigung in die Geschichtsbücher ein. Was dabei oft vergessen wird: Rechtsextreme missbrauchen damals wie heute den Tag, um ihre völkischen Vorstellungen einer deutschen Identität und Nation Ausdruck zu verleihen. 

Bereits vor der Wiedervereinigung sahen sich Neonazis in Ost- und Westdeutschland durch das anstehende nationale Großevent in ihrer Ideologie bestärkt. Endlich „war man wieder wer“. Die rechte Straßengewalt der Baseballschlägerjahre entstand auch aus der nationalistischen Euphorie heraus, die teils von Staatsseite gepredigt, in etablierten neonazistischen Strukturen einen gefährlichen Nährboden fand. Erfahrene rechtsextreme Kader aus dem Westen erkannten in der ostdeutschen, gewaltbereiten Neonazi-Szene ein erfolgversprechendes Publikum. Sie begannen spätestens mit dem Fall der Mauer, systematisch Kontakte zu knüpfen und ihre rechtsextreme Propaganda zu verbreiten.

Für Menschen, die in den Augen von Rechtsextremen, Rassist*innen oder Antisemit*innen nicht „deutsch“ oder „gesellschaftlich nützlich“ genug waren, spitzte sich mit der Wiedervereinigung die Lage deutlich zu – Hass und Gewalt brachen sich hemmungslos Bahn.

Der Beginn der Baseballschlägerjahre
Rechte Gewalt gab es auch vor 1990. Sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik. Aber nach der Wiedervereinigung wurde sie so massiv und forderte unmittelbar so viele Tote, dass zunächst Zivilgesellschaft und Medien und dann auch staatliche Stellen begannen, rechtsextreme Gewalt systematisch zu erfassen. Auch Todesopfer rechter Gewalt wurden im geteilten Deutschland, mit wenigen Ausnahmen, kaum als solche dokumentiert und staatlich anerkannt.

Dies änderte sich nach der Wiedervereinigung – weil die Gewalt so omnipräsent wurde und es zu so vielen Morde kam. 35 Jahre später zählt die Amadeu Antonio Stiftung 221 Todesopfer rechter Gewalt. Das Dunkelfeld rechtsextremer Gewalttaten dürfte diese erschreckende Zahl noch um ein Vielfaches erhöhen. Noch immer gibt es eine große Diskrepanz zwischen den Zahlen, die unabhängige Organisationen und Journalist*innen dokumentieren und denen, die staatliche Stellen erfassen: Denn von der Bundesregierung werden lediglich 117 Tötungsdelikte als rechtsmotiviert gewertet. Vor allem obdachlosenfeindlicher Sozialdarwinismus, Queer- und Transfeindlichkeit erkennt die Exekutive oftmals nicht als rechtsextreme Ideologie.

Tatorte der Einheit
Rechtsextreme nahmen die Wiedervereinigung zum Anlass, Menschen, die nicht ihren Vorstellungen eines ethnisch homogenen Deutschlands und  deutscher Identität entsprachen, selbst ermächtigt aus der neu entstandenen Volksgemeinschaft auszuschließen und zu bekämpfen. Während die einen jubelten und die Deutsche Einheit feierten, begann die Wiedervereinigung für andere mit Angst. Migrant*innen, Vertragsarbeiter*innen und Linke gerieten ins Visier der euphorisierten Neonazis.

Die Initiative zweiteroktober90 dokumentiert die Gewaltgeschichte um den Tag der Deutschen Einheit, die durch den nationalen Freudentaumel in den Hintergrund geraten und kaum historisch aufgearbeitet ist. Die schiere Anzahl  der Angriffe zeigt, dass es sich keinesfalls um zufällige Einzelfälle rechter Gewalt handelt. Viele der Angriffe waren im Voraus bekannt. Betroffene bereiteten sich teilweise auf die antizipierte Gewalt vor. Auch der Polizei waren Drohungen bekannt. In den seltensten Fällen reagierte sie jedoch mit Schutzkonzepten oder präventiven Maßnahmen gegen die Täter*innen. Stattdessen schritt sie in vielen Fällen nur halbherzig oder zu spät ein.

In vielen deutschen Städten kommt es im Zuge der Wiedervereinigung zu Gewaltexzessen durch Neonazis. In der Nacht zum dritten Oktober 1990 verüben insgesamt über 1000 Neonazis in verschiedenen deutschen Städten gewaltvolle Aktionen. Sie belagern und attackieren Wohnheime von Migrant*innen und Vertragsarbeiter*innen, linke Jugendzentren und besetzte Häuser. Die Neonazis sind mit Steinen, Molotow-Cocktails, Baseballschlägern, Reizgaspistolen, Fackeln und Schlagstöcken bewaffnet. Es gibt Verletzte.

  • In Zerbst greifen 200 bis 300 Neonazis mehrere Stunden ein besetztes Haus mit Steinen, Raketen und Molotow-Cocktails an. Schließlich setzen sie das Haus in Brand. Die Hausbewohner*innen flüchten aufs Dach und können von der Feuerwehr in letzter Minute gerettet werden. Beim Sprung vom Dach verletzen sich manche schwer.
  • In Erfurt greifen 50 Neonazis das Autonome Jugendzentrum mit Feuerwerkskörpern an.
    Es kommt zum Brand in einem Nachbargebäude, auf den ein Stromausfall in der ganzen Straßen folgt.
  • In Weimar greifen über 150 Neonazis -mit Pflastersteinen, Molotow-Cocktails und Gaspistolen bewaffnet ein besetztes Haus an. Es dauert mindestens eine Stunde, bis die Polizei die Situation entschärfen kann.
  • In Jena verwüsten Neonazis ein besetztes Haus, in dem sich auch das Autonome Jugendzentrum befindet. Der Angriff war angekündigt, die Polizei riet den Bewohner*innen lediglich, das Haus zu verlassen.
  • In Eisenach greifen circa 100 Neonazis mehrere Tage ein Wohnheim mosambikanischer Vertragsarbeiter*nnen an. Da die Polizei die Situation nicht unter Kontrolle bekommt, lässt die Stadt das Gebäude schließlich räumen.
  • In Leipzig randalieren 150 Neonazis in der Innenstadt. Mit Baseballschlägern, Messern und Pistolen bewaffnet greifen sie Passant*innen an und jagen Migrant*innen. Später werfen sie die Scheiben des soziokulturellen Zentrums „Die Villa“ ein.
  • In Halle (Saale) verwüsten 15 Neonazis das alternative Café des „Reformhauses“, in dem sich zivilgesellschaftliche Gruppen treffen.
  • In Hoyerswerda greifen bis zu 50 Neonazis ein Wohnheim mosambikanischer Vertragsarbeiter:innen an. Die Polizei empfahl den Bewohner*innen zuvor, sich im Falle eines Angriffs in ihren Zimmern zu verstecken.
  • In Guben greifen 80 Neonazis ein Wohnheim mosambikanischer Vertragsarbeiter*innen an und setzen einen polnischen Kleinbus in Brand.
  • In Magdeburg randalieren 70 Neonazis in der Innenstadt und greifen einen Jugendclub sowie später -unterstützt von Anwohner*innen- auch das Wohnheim der vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen an.
  • In Frankfurt/Oder greift eine mit Steinen und Schlagstöcken bewaffnete Gruppe jugendlicher Neonazis zwei Busse mit polnischen Arbeiter*innen an. Mindestens ein Fahrer wird verletzt.
  • In Bergen auf Rügen grölt ein Mob junger Neonazis vor einer Geflüchtetenunterkunft rassistische und rechtsextreme Parolen.
  • In Hamburg versuchen 300 Neonazis und Hooligans, die besetzten Häuser in der Hafenstraße zu überfallen. Ein mehrstündiger Polizeieinsatz verhindert die Konfrontation mit den 600 Personen, die die Häuser schützen.
  • In Schwerin kommt es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Neonazis und einer “Bürgerwehr”, die versuchen den öffentlichen Raum und insbesondere eine Geflüchtetenunterkunft vor rechten Angriffen zu schützen.

Auch an weiteren Orten ziehen Rechtsextreme grölend durch die Straßen, belästigen und bedrohen Menschen, randalieren und entwenden Waffen aus den Beständen der Nationalen Volksarmee.

Rechtsextreme fordern „Wende 2.0“
Heute wirbt die rechtsextreme AfD damit, die Wende vollenden zu wollen. Sie verdreht die Ziele der Friedlichen Revolution in der DDR nach ihren nationalistischen Idealen. Über rassistische Forderungen nach einer restriktiven Einwanderungs-, Asyl- und Abschiebepolitik gibt sie sich als die einzige Verteidigerin der deutschen Identität.

Auch andere rechtsextreme Akteur*innen missbrauchen die Wiedervereinigung im Allgemeinen und den Tag der deutschen Einheit im Konkreten, um ihre Vorstellung einer „reinen Volksgemeinschaft“ einzufordern. Jedes Jahr kommt es am 3. Oktober vermehrt zu rechtsextremen Übergriffen. Auch zu den Feierlichkeiten in Saarbrücken dieses Jahr haben sich rechtsextreme Gruppen wie „Saarland Bewahren“ und „Rein Deutschen Jugend“ angekündigt. „Der Einheitstag ist bis heute nicht einfach nur ein symbolischer nationalistischer Feiertag, sondern auch ein Tag der Gewalt gegen Linke, Migrant:innen und Schwarze Menschen“, so die Initiative zweiteroktober90.

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Königsdorf
Gefördertes Projekt

„Königsdorf rückt zusammen“ – Ein Dorf findet neue Wege des Miteinanders

Die Initiative „Königsdorf rückt zusammen“ setzt der wachsenden Spaltung in ihrem Dorf positive und verbindende Erfahrungen entgegen. Mit einem Dorffest gelang es, Menschen zusammenzubringen, die bisher wenig Berührungspunkte hatten. Die Menschen aus dem Dorf beteiligten sich mit eigenen Ideen und packten mit an. Entstanden sind neue Netzwerke und Anknüpfungspunkte für künftiges Engagement.

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