Das Projekt »ju:an« Praxisstelle antisemitismus- und rassismuskritische Jugendarbeit will Multiplikator*innen der Jugendarbeit ermutigen, sich mit Antisemitismus in ihren Einrichtungen auseinanderzusetzen. Die aktuelle aktuelle Handreichung „Gönn Dir! 7 Punkte gegen Antisemitismus“ versammelt hierzu Handlungsempfehlungen. Worum geht es darin und wie sieht der Projektalltag von »ju:an« aus – welche Erfahrung bringt die Praxis?
Franziska Schindler sprach mit Rosa Fava, die das Projekt seit Kurzem leitet.
Rosa, womit beschäftigt sich das Projekt »ju:an«?
Wir setzen uns gegen Antisemitismus in der Kinder- und Jugendarbeit ein. Mit Beratungen, als Mitglied in Fachgremien, mit Workshops in den Einrichtungen oder ihren übergreifenden Trägern vor Ort und Handreichungen tragen wir dazu bei, dass Antisemitismus in Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit erkannt und ihm etwas entgegengesetzt wird.
Klingt spannend. Mit wem arbeitet ihr? Wer ist eure Zielgruppe?
Unser Projekt fing damit an, dass wir selbst in die Einrichtungen gegangen sind und dort Workshops mit den Jugendlichen veranstaltet haben. Aber bald mussten wir feststellen, dass das Problem in vielen Fällen gar nicht nur bei den Kindern und Jugendlichen liegt, sondern auch bei den Fachkräften. Oft haben sie in Fragen von Antisemitismus nicht viel Ahnung und reproduzieren ungewollt antisemitische Stereotype und Weltbilder. Beispielsweise glauben auch viele Erwachsene, dass die internationalen Finanzinstitutionen oder Großkonzerne von Juden geleitet werden und dem Geldwesen quasi etwas Jüdisches anhaften würde. Und mit Blick auf den Nahostkonflikt sehen viele eine einseitige Aggression Israels als mächtigen Staat und Palästinenser*innen nur als Opfer. Um nachhaltig etwas zu verändern, müssen wir also bei den Weltbildern der Erwachsenen anfangen. Denn die werden noch einige Jahre in der Kinder- und Jugendarbeit beschäftigt sein. Wir greifen mit unserer Arbeit wichtige Forderungen des Expertenkreises Antisemitismus des Bundestages auf: Die Fortbildung der Mitarbeiter*innen in den Regelstrukturen.
Und wie schafft ihr es, dass Menschen beginnen, ihre eigenen Überzeugungen zu hinterfragen?
In unseren Workshops nehmen wir uns viel Zeit, um mit den Fachkräften ihre eigenen Biografien und Bezugnahmen auf die Themen zu reflektieren und sich mit Ausschlüssen und Diskriminierung auseinanderzusetzen. Wir versuchen, die Menschen zum Nachdenken darüber zu bringen, wie sie sich bestimmte diskriminierende Denkweisen zu eigen gemacht haben, die in der Regel gar nicht böse gemeint sind, sondern vielmehr damit zu tun haben, wie die Gesellschaft gestrickt ist.
Wie gelingt es euch, dass sich in der Einrichtung ganz konkret etwas verändert?
Unser Motto ist „Vorsorge statt Feuerwehr“ – d. h. Antisemitismus muss in den Einrichtungen präventiv bearbeitet werden. Es steht und fällt damit, dass Fachpädagog*innen dafür sensibilisiert sind, wie sich Antisemitismus äußert – nur so kann sich konkret etwas ändern. Wie merken immer wieder, dass viele das Thema erst nicht an sich heranlassen, aber am Ende des Workshops sagen die Teilnehmenden doch meist: „Gut, dass wir das gemacht haben“. Ein Patentrezept für einen funktionierenden Workshop gibt es nicht, und der Mädchentreff in Neukölln braucht etwas Anderes als ein Evangelischer Kirchenkreis. Uns ist es ein Anliegen, auf diese ganz unterschiedlichen Bedürfnisse und Vorkenntnisse einzugehen und ein Gefühl für die individuelle Situation zu bekommen. Damit sind wir ziemlich erfolgreich.
Ihr denkt Antisemitismus und Rassismus zusammen. Warum ist euch das so wichtig?
Das hat mehrere Gründe. Einerseits sind wir davon überzeugt, dass Rassismus und Antisemitismus als Formen Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit miteinander verwoben sind. Wo eine Ausgrenzungsform besteht, ist der Weg zur nächsten nicht weit. Teilweise arbeiten Fachpädagog*innen mit Jugendlichen, die massivem Rassismus ausgesetzt sind, und denken, es sei falsch, über Antisemitismus zu sprechen. Andererseits sagt man in Deutschland gerne: Wir haben aus unserer Geschichte gelernt und sind nicht mehr antisemitisch. Antisemitismus wird schnell bei sogenannten Migrant*innen oder Muslim*innen vermutet. Genau das, die Projektion eigener unerwünschter Eigenschaften auf andere zur Schaffung eines positiven Selbstbilds, ist aber rassistisch! Wir möchten das oft klischeehafte Bild aufbrechen, das Fachkräfte, aber auch die Gesamtgesellschaft von migrantischen Jugendlichen und Communities haben.
Gerade habt ihre eure neue Broschüre „Gönn Dir! 7 Punkte gegen Antisemitismus“ herausgebracht. Worauf können wir uns da freuen?
Das Besondere an der Broschüre ist, dass sie speziell an die Bedarfe und Bedürfnisse für Fachpädagog*innen der Offene Kinder- und Jugendarbeit gerichtet ist. Im Zentrum der Diskussion steht die Schule, aber in Freizeiteinrichtungen erreicht man Jugendliche, zu denen Lehrer*innen den Zugang verloren haben. Die Broschüre bietet eine sehr gute Einführung mit vielen praxisnahen Beispielen, Erklärungen und Tipps und ist sowohl für Personen, die sich erstmal noch orientieren müssen, als auch für Professionelle geeignet, die ihr Wissen auffrischen wollen. Die komplexe Thematik, dass Antisemitismus im Denken und Sprechen und auch Handeln allgegenwärtig ist, aber oft subtil und nicht als offene Feindschaft, wird klar und sensibel dargestellt und ist ohne akademisches Wissen gut zu verstehen. Die Handreichung animiert dazu, das Problem als Herausforderung für die eigene Arbeit anzunehmen.
Was möchtet ihr in den nächsten Jahren erreichen?
Langfristig ist unser Ziel, neben der Rassismusprävention auch die Antisemitismusprävention als Querschnittsthema der Kinder- und Jugendarbeit zu etablieren. Antisemitismus muss mitgedacht werden, und zwar nicht nur in der Einrichtung selbst, sondern auch von politischen Entscheidungstragenden und in der Ausbildung von Fachkräften.
Die aktuelle Handreichung „Gönn Dir! 7 Punkte gegen Antisemitismus“ versammelt Handlungsempfehlungen für den konkreten und präventiven Umgang mit Antisemitismus im Praxisalltag von Jugendeinrichtungen. Sie stellt grundsätzliche Überlegungen vor, wie Antisemitismus und Rassismus bisweilen zusammenwirken, welche Rolle Empowerment von Jugendlichen in der Bearbeitung von Antisemitismus spielt und zeigt auf, wie es gelingen kann, eine nachhaltige antisemitismus- und diskriminierungssensible Jugendarbeit zu gestalten. Die Handreichung steht als PDF zum kostenlosen Download zur Verfügung.