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Rechte Gewalt: Kein Grund zur Entwarnung

Kürzlich hat das Bundesministerium des Inneren die Zahlen zu politisch motivierter Kriminalität aus dem Jahr 2017 vorgestellt. Laut den Erhebungen ging die Zahl rechtsmotivierter Gewalttaten gegenüber dem Vorjahr um 12,9 % zurück. Grund zur Freude ist das aber nicht.

Von Franziska Schindler

Der vermeintliche Rückgang rechtsmotivierter Straftaten beeindruckt schon weit weniger, wenn sie in einen längeren zeitlichen Kontext gesetzt werden. In den letzten drei Jahren befinden sich rechte Straftaten auf dem höchsten Stand seit 15 Jahren. Dass sie 2017 nun im Vergleich zu den extrem hohen Vorjahreswerten gesunken sind, hängt vor allem mit der restriktiven Asylpolitik zu tun, die immer mehr Schutzsuchenden den Weg nach Deutschland versperrt.

An der alltäglichen rechten Gewalt hat sich wenig geändert. Darüber hinaus dürfte die Dunkelziffer rechtsmotivierter Gewalttaten weit höher liegen, als die Zahlen des Bundesinnenministeriums vermuten lassen. Viele Fälle kommen nie zur Anzeige, weil Betroffene Angst vor der Polizei haben, die sie beispielsweise nach Erfahrungen mit Racial Profiling berechtigterweise mit Repressionen verbinden. Für Geflüchtete kommt noch dazu, dass sie aus Sorge um ihren Aufenthaltsstatus oder ihr laufendes Asylverfahren lieber kein Aufsehen erregen wollen. Immer wieder kommt es außerdem zu Situationen, in denen das Erlebte von Polizist*innen abgewiegelt wird – was nicht gerade dazu ermutigt, Anzeige zu erstatten. Wiederholt kam es außerdem zu Fällen, bei denen Übergriffe auf Unterkünfte von Geflüchteten zumindest öffentlich von Seiten der Polizei gar nicht als politisch motivierte Kriminalität gewertet wurden. Das Ergebnis: Die behördlichen Zahlen sind mangelhaft und verschleiern das Ausmaß rechter Gewalt.

Es bleibt ein großes Dunkelfeld

Aber wo lassen sich verlässliche Zahlen finden? Viele Betroffene rechter Gewalt wenden sich direkt an Beratungsstellen. Sie sind somit eine wichtige Quelle dafür, was tatsächlich tagtäglich passiert. Flüchtlingsfeindliche Vorfälle werden von der Amadeu Antonio Stiftung und PRO ASYL zu einer unabhängigen Chronik flüchtlingsfeindlicher Vorfälle zusammengetragen. Dabei stützt sich die Chronik auf die Zählungen der Opferberatungsstellen, Hinweise in Lokalzeitungen, und – im Idealfall – Polizeimeldungen. Für das Jahr 2017 sind 1939 Angriffe auf Asylsuchende und ihre Unterkünfte dokumentiert.

Dabei wird allerdings schon das nächste Problem des behördlichen Umgangs mit rechter Gewalt deutlich: ihre Informationspolitik ist mangelhaft. Nur ein Bruchteil der Fälle wird von den Behörden auf eigene Initiative hin öffentlich gemacht. Wenn eine Gewalttat nicht einmal eine Meldung Wert ist, ist nicht davon auszugehen, dass ihre Ermittlung mit Hochdruck verfolgt wird. Die von den Behörden auf Presseanfragen zur Verfügung gestellten Zahlen sind zu vage, um die einzelnen Fälle nachzurecherchieren. Die Zivilgesellschaft hat keine andere Wahl, als auf parlamentarische Anfragen der Bundestagsfraktionen zu warten – aber selbst die Antworten auf Anfragen bleiben auf lange Listen zu Tatzeit, -Ort und -Motivation beschränkt. Solange keine nennenswerten ermittlungstaktischen Gründe für Verschwiegenheit bestehen, ist mehr Transparenz von Seiten der Ermittlungsbehörden gefragt. An der Informationspolitik der Behörden muss sich grundsätzlich etwas ändern.

Antisemitismus muss weiter gefasst werden

Damit ist die Mängelliste der behördlichen Kriminalstatistik jedoch noch nicht abgeschlossen. Ein weiteres Problem liegt in der Ausdifferenzierung der Tatmotive. Das zeigt sich ganz besonders deutlich an antisemitisch motivierten Taten: In den letzten Monaten erlebten Jüdinnen und Juden einen besorgniserregenden Anstieg antisemitischer Beleidigungen und Angriffe. Insbesondere im Onlinebereich steigt die Zahl antisemitischer Straftaten kontinuierlich an. Diese Entwicklung spiegelt sich partiell in den Zahlen des Innenministeriums wider, das davon ausgeht, dass antisemitisch motivierte Straftaten um 2,5 % gestiegen sind. Auch hier ist jedoch davon auszugehen, dass die Zahlen nicht die tatsächliche Bedrohungslage gegenüber Jüdinnen und Juden darstellen – viele Betroffene bringen die Taten nie zur Anzeige, nicht selten weil ein sensibler Umgang mit dem Erlebten von Seiten der Polizeibeamten fehlt.

Während die Sicherheitsbehörden mehr als 94 % der antisemitischen Straftaten dem rechten Spektrum zuordnen, berichten Jüdinnen und Juden in Befragungen, dass Täter*innen in deutlich weniger Fällen mit einem rechtsextremen Motiv handeln, und die Beleidigungen und Straftaten in mehr als 6% der Fällen von vermeintlich muslimischen Tätern ausgehen. Grund für die Diskrepanz ist das Erhebungsverfahren der Polizei: Wenn keine zusätzlichen Informationen vorliegen, gehen die Behörden davon aus, dass die Tat im rechtsextremen Milieu zu verorten ist. Was fehlt ist ein differenzierter Blick auf die tatsächlichen Motive für antisemitische Straftaten.

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