Am Freitagabend wurde der sächsische SPD-Spitzenkandidat für die Europawahl, Matthias Ecke, in Dresden beim Plakatieren für die Europawahl angegriffen und so schwer verletzt, dass er nicht ansprechbar war. Unsere Gedanken und unsere volle Solidarität sind bei Matthias Ecke und seinen Angehörigen. So erschüttert wir über den extremen Angriff sind, so wenig darf er uns überraschen. Es ist die logische Konsequenz aus “Wir werden sie jagen”, der von Alexander Gauland nach der Bundestagswahl 2017 vorgegebenen Stoßrichtung. Rechtsextremer Hass und Hetze fallen auf fruchtbaren Boden. Das darf niemals unsere Normalität werden! Und dennoch ist es kein Einzelfall.
Das Superwahljahr 2024 hat kaum begonnen und schon häufen sich Brandanschläge, Beleidigungen und Hakenkreuzschmierereien gegen demokratische Politiker*innen und Zivilgesellschaft. Rechtsextreme Angriffe erreichen deutschlandweit ein nie dagewesenes Höchstmaß. Die Hemmschwelle sinkt, eine Kernstrategie des parteiförmigen Rechtsextremismus geht auf, wenn Demokrat*innen sich zurückziehen und Menschen, die sich seit Jahren zivilgesellschaftlich engagieren, darüber nachdenken wegziehen zu müssen. Ein Klima der Angst entsteht. Insbesondere in Ostdeutschland.
All das ist weder neu noch ein Einzelfall. Es ist vielmehr eine Entwicklung, die wir seit dem Erstarken des parteiförmigen Rechtsextremismus beobachten. Wir merken es allein an den unzähligen Beratungs- und Unterstützungsfragen, die uns tagtäglich erreichen. Von Lokalpolitiker*innen, Kulturinitiativen oder migrantischen Selbstorganisationen, vorwiegend im ländlichen Raum, in Ostdeutschland. Kurzum allen, die nicht in das Weltbild Rechtsextremer passen. Im vergangenen Jahr allein verzeichneten die Behörden insgesamt 2.790 Angriffe auf politische Mandatsträger*innen. Das Dunkelfeld dürfte um ein Vielfaches höher sein. Angriffe auf die demokratische Zivilgesellschaft werden kaum systematisch erfasst.
Die AfD versucht sich regelmäßig selbst, als größtes Opfer zu stilisieren. Es stimmt, dass 2019 und 2020 die meisten körperlichen Angriffe rechtsextremen Politiker*innen galten. Das hat sich spätestens im vergangenen Jahr geändert: In 1.219 Fällen richteten sich 2023 die Attacken gegen Mitglieder der Grünen, in 478 Fällen waren Repräsentanten der AfD betroffen, in 420 Fällen Politikerinnen und Politiker der SPD. Vertreter der FDP wurden in 290 Fällen attackiert und selbst Mandatsträger der CDU und CSU in insgesamt 180 Fällen.
Neben Lokalpolitiker*innen und demokratisch Engagierten vor Ort, deren Schicksale es kaum über die Meldungen der Lokalzeitungen hinausschaffen, trifft es spätestens seit diesem Jahr auch demokratische Spitzenpolitiker*innen:
- 4. Januar 2024
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck legt mit einer Fähre in Schlüttsiel in Schleswig-Holstein an. Dort wird er bereits von einem wütenden Mob, aufgestachelt von Rechtsextremen, erwartet. Es kommt zu Ausschreitungen, die Polizei muss einschreiten. - 18. Februar 2024
Im thüringischen Schnepfenthal setzen Unbekannte das Privathaus des SPD-Kommunalpolitikers Michael Müller in Brand. Sein Tot wird von den Tätern in Kauf genommen. - 19. Februar 2024
Unbekannte Täter werfen im Wahlkreisbüro der Thüringer SPD-Landtagsabgeordneten Diana Lehmann und Frank Ullrich die Scheiben ein. - 20. Februar 2024
In der thüringischen Kleinstadt Bleicherode wird das Wahlkreisbüro der Landtagspräsidentin Birgit Pommer (Linke) mit Hakenkreuzen beschmiert und markiert. - 21. März 2024
In Hannover wird der Grünenlokalpolitiker Béla Mokrys an seinem Parteistand rassistisch beschimpft und dabei gefilmt. Später greifen ihn zwei Männer in einem Supermarkt an und verletzen ihn schwer. - 27. April 2024
In Zwickau, Leipzig, Chemnitz und im brandenburgischen Oder-Spree-Kreis, kommt es zu mehreren Angriffen auf demokratische Lokalpolitiker*innen, die für die anstehenden Kommunalwahlen plakatieren. Es trifft Mitglieder der Grünen, der Linkspartei und von Volt. - 2. Mai 2024
In Essen werden der Grünenpolitiker Rolf Fliß und der Bundestagsabgeordnete Kai Gehring von einer Gruppe Unbekannter beschimpft und Rolf Fliß zweimal geschlagen - 3. Mai 2024
In Dresden wird der sächsische SPD-Spitzenkandidat für die Europawahl, Matthias Ecke, beim Aufhängen von Plakaten von vier jungen Männern queerfeindlich beleidigt und angegriffen. Ecke wird so schwer verletzt, dass er im Krankenhaus operiert werden muss. Wenige Minuten vor der Attacke auf Ecke wird ein Wahlkampfhelfer der Grünen in unmittelbarer Nähe ebenfalls angegriffen.
Angriffe richten sich gegen Politiker*innen und Zivilgesellschaft, doch gemeint ist die Demokratie als solche! Schon jetzt droht ein Klima der Angst. Angriffe auf Politiker*innen untergraben die Integrität des demokratischen Prozesses. Politiker*innen werden gewählt, um die Interessen und Bedürfnisse ihrer Wählerinnen und Wähler zu vertreten. Wenn sie aus Angst vor Angriffen oder Repressalien nicht mehr frei und offen agieren können, wird die repräsentative Natur unserer Demokratie beschädigt.
Der Angriff auf Matthias Ecke sendet eine gefährliche Botschaft. Sie lautet: Es gibt keine Grenze mehr. Egal, wer sich für diese Demokratie einsetzt – von Politiker*innen, über Kulturschaffende, bis hin zu engagierten Unternehmer*innen – soll jetzt im Hinterkopf haben, dass dieses Engagement gefährlich ist. Bürgerinnen und Bürger sollen sich entmutigt fühlen, sich politisch zu engagieren, ganz egal wo, oder sich sogar von der politischen Beteiligung zurückzuziehen. Wenn das gelingt, geht die Strategie des parteiförmigen Rechtsextremismus vollends auf und das dürfen wir nicht zulassen!
Trauriger Höhepunkt der rechtsextremen Bedrohungen gegen Politiker*innen war der Mord an Walter Lübcke (CDU) am 2. Juni 2019. Der Kasseler Regierungspräsident war 2015 Ziel einer organisierten rechtsextremen Hasskampagne geworden – unter anderem befeuert durch die ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete Erika Steinbach, zu dem Zeitpunkt bereits Vorsitzende der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung – weil er sich auf einer öffentlichen Informationsveranstaltung für das Grundrecht auf Asyl und die menschenwürdige Unterbringung von Geflüchteten aussprach. In Kommentaren eines rechtsextremen Blogs wurde seine Privatadresse mit der Aufforderung veröffentlicht, jemand solle „sich kümmern“. Der Mörder Lübckes war selbst auf der Informationsveranstaltung, er schien sich im Recht zu fühlen, den politischen Gegner allein wegen dessen Haltung zu töten.