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Antifeminismus, Rassismus, Antisemitismus – alles auf dem Zettel

Mit klarer Haltung in Zivilgesellschaft und Politik - die Frauen von Tutmonde vor dem Schweriner Landtag. Copyright: Jana Michael

Die migrantische Frauenorganisation Tutmonde e.V. aus Stralsund macht es sich nicht leicht: migrantische Sichtbarkeit einzufordern und gegen Rassismus die Stimme zu erheben reicht ihr nicht. Die Gründerin des Vereins Jana Michael und die anderen Frauen von Tutmonde e.V. denken auch Antifeminismus und Antisemitismus selbstverständlich mit. Die Amadeu Antonio Stiftung unterstützt sie dabei.

von Charlotte Sauerland

Geflüchteten mit praktischer Solidarität zur Seite zu stehen ist selbstverständlich für die migrantische Frauenorganisation Tutmonde e.V. aus Stralsund. Als Russland im März 2022 die Ukraine angriff und viele Menschen aus der Ukraine flüchteten, entschieden die Frauen von Tutmonde schnell, sich zu engagieren. „Unsere Mitarbeiterinnen haben wirklich nichts anderes gemacht“, erzählt Jana Michael, „sie haben tausende Spenden angenommen, sortiert, beschriftet und in die Ukraine weitergeleitet. Und das, was zu viel war, wurde an deutsche Notunterkünfte gegeben.“ Auch in der Coronapandemie hat Tutmonde e.V. schnell Hilfe geleistet. Für Geflüchtete in ihren Unterkünften war Social Distancing oft schwer, Masken waren anfangs knapp. Kurzerhand nähten die Frauen von Tutmonde e.V. Stoffmasken, kauften FFP2-Masken und Desinfektionsmittel und verteilten alles an die Geflüchteten.

Migrantische Geschichte(n) in MV sichtbar machen

Heute kommen ukrainische Geflüchtete nach Mecklenburg-Vorpommern, vor ein paar Jahren waren es vor allem Syrer:innen. Doch Ostdeutschland und auch Mecklenburg-Vorpommern haben eine vielfältigere Migrationsgeschichte, die wesentlich weiter zurückreicht. „Viele Menschen stellen sich Ostdeutschland als eine homogene Region vor, in der nur weiße Menschen leben“. sagt Jana Michael von Tutmonde e.V. „Das stimmt so nicht.“ Schon nach dem zweiten Weltkrieg und danach kamen Vertriebene aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches und aus Osteuropa nach Ostdeutschland. Nach der Staatsgründung der DDR wanderten einerseits westdeutsche Bürger:innen aus Überzeugung in die DDR ein. Andererseits verließen viele Bürger:innen die frisch gegründete DDR, was zu einem Arbeitskräftemangel führte. Die Folge: Vertragsarbeiter:innen aus anderen sozialistischen Staaten, wie Kuba, Vietnam, Angola und Mozambique wurden ins Land geholt. „Wenn die ostdeutsche Migrationsgeschichte ausgeblendet wird, dann wird auch die Teilhabe von Migrant:innen an der Gesellschaft unsichtbar gemacht.“ Für Tutmonde e.V. ist es deshalb ein wichtiges Anliegen die verschiedenen Migrationsbiografien und –geschichten der Menschen in Mecklenburg-Vorpommern sichtbar zu machen, zum Beispiel im Podcast Migrationsgeschichten.

Sichtbar machen will Tutmonde e.V. auch den Rassismus, der Menschen mit Migrationsgeschichte in Mecklenburg-Vorpommern begegnet. „Es wird oft so getan als würde Rassismus nicht existieren. Und ständig wird er mit Rechtsextremismus gleichgesetzt. Wir müssen dann ganz viel darüber aufklären, dass es auch Alltagsrassismus gibt.“ berichtet Jana Michael etwas erschöpft. Immer wieder klärt sie mit Tutmonde e.V. in Podcasts und Artikeln auch darüber auf, dass der heutige Rassismus in Mecklenburg-Vorpommern auch mit der DDR-Geschichte zu tun hat. Die DDR verstand sich als antifaschistischer Staat und verortete die nationalsozialistische Ideologie beim kapitalistischen Westdeutschland. So wurde auch Rassismus tabuisiert. Doch den gab es auch in der DDR. Vertragsarbeiter:innen lebten isoliert, mussten trotz anders lautender Versprechen oft schwere Arbeiten leisten, statt sich weiter qualifizieren zu dürfen und hatten kaum Rechte. Strafermittlungen gegen Rechtsextremist:innen wurden oft eingestellt. In der DDR-Öffentlichkeit wurden nicht-deutsche Menschen bei Sportveranstaltungen und Folklorefesten häufig als „fremd“ und „exotisch“ dargestellt – rassistische Klischees setzten sich fest. Nach der Wende wuchs der offene Rassismus. Anfang der 90er Jahre griffen Rechtsextreme Asylbewerber:innenheime und Unterkünfte von Migrant:innen an, u.a. in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen. Ein Teil der lokalen Bevölkerung schaute zu und applaudierte.

„Wir wurden immer wieder in die Rolle zum Kochen und Kinderschminken gedrängt.“

Jana Michael kann sowohl von offenem Rechtsextremismus, als auch von rassistischer Alltagsdiskriminierung aus persönlicher Erfahrung berichten. Als sie Anfang der 2000er Jahre aus ihrem Herkunftsland Tschechien nach Mecklenburg-Vorpommer kam, entdeckte sie an vielen Orten NPD-Plakate. „Bei der Wahl im Jahr 2006 erreichte die Partei in manchen Stadtteilen von Stralsund bis zu 26%. Ich war schockiert, dass so eine Partei wirklich erlaubt ist. Damals haben die Rechtsextremen auch Kinderwägen von Spätaussiedler:innen angezündet,“ berichtet sie. Doch auch das Phänomen, nicht ernst genommen zu werden und in die Rolle der „Anderen“ gedrängt zu werden, kennt Jana Michael persönlich. „Es war sehr mühsam, als wir im Jahr 2006 einen migrantischen Verein gründeten, denn Facharbeit wurde von uns gar nicht erwartet. Wir wurden immer wieder in die Rolle zum Kochen und Kinderschminken gedrängt. Und die Menschen aus Togo sollten immer trommeln.“
Dem heutigen Rassismus setzt Tutmonde e.V. öffentlichkeitswirksame Aktionen, Netzwerkaktivitäten und Aufklärung entgegen. Am 18. März 2022 luden die Frauen von Tutmonde e.V. im Rahmen der Internationalen Wochen gegen Rassismus zu einem stillen Marsch gegen Rassismus in Stralsund ein. Mit schwarzen Kreuzen erinnerten sie an die Opfer des Anschlags von Hanau. Um Diskriminierung entgegen zu wirken, arbeitete Tutmonde zudem erfolreich daran, eine ehrenamtliche Antidiskriminierungsstelle in Mecklenburg-Vorpommern einzurichten.

Intersektional denken: gegen Antifeminismus, Antisemitismus und Rassismus

Die Frauen, die sich bei Tutmonde engagieren, erleben nicht nur Rassismus. Auch Sexismus und Antifeminismus begegnet ihnen im Alltag. Gemeinsam mit Organisationen wie dem Landesfrauenrat und Lola für Demokratie e.V. engagieren sie sich deshalb dafür, dass migrantische Frauen auch in Gremien von bis dato mehrheitlich weißen Organisationen wie dem Landesfrauenrat repräsentiert sind. Und im Rahmen des Projekts „Wir alle sind Frauen“ haben sie ein Jahr lang Interviews mit anderen Frauen aus MV geführt, aus denen deutlich wird: alle Frauen sind von strukturellen Ungerechtigkeiten betroffen sind, aber manche haben aufgrund von Rassismus noch zusätzliche Hürden zu überwinden haben.Auch Antisemitismus haben die Frauen von Tutmonde kritisch im Blick – in der Mehrheitsgesellschaft sowie bei Menschen mit Migrationsgeschichte. „Wir haben bei den terroristischen Anschlägen der letzten Jahre gesehen, dass Antifeminismus, Rassismus und Antisemitismus immer zusammenhängen.“ erklärt Jana Michael. „Und: wenn man selbst Migrantin ist, ist man nicht automatisch Antirasstin oder weltoffen oder nicht antisemitisch. Das stimmt einfach nicht.“
Mit diesem scharfen Blick für Menschenfeindlichkeit jedweder Form und ihren Netzwerken in ganz Mecklenburg-Vorpommern, verabschiedet sich Jana Michael von Tutmonde und packt seit Februar 2022 ihre neue Rolle als Integrationsbeauftragte von Mecklenburg-Vorpommern an. Eine ihrer ersten Aufgaben als Integrationsbeauftragte: die Unterstützung von ukrainischen Geflüchteten.

 

Mehr Infos zum Thema und zum Verein:
Tutmonde e.V.: www.sdgs-mv.de

Jana Michael, Patrice Jäger, Zsófia Torma (2021). Unaufgearbeiteter Rassismus in der DDR und seine Folgen für die heutige migrantische Gesellschaft in Julia Weber & Kai Brauer (Hrsg.): Mecklenburg-Vorpommern in: in Die Friedliche Revolution 1989 und die Soziale Arbeit. Bielefeld: Transcript Verlag.

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