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Interview

Die Baseballschlägerjahre und ihre Folgen für die ostdeutsche Gesellschaft

Foto: Kerstin Pötzsch

Petra Köpping (SPD) ist seit 2019 Sächsische Staatsministerin für Soziales und Gesellschaftlichen Zusammenhalt. In Ihrem Buch “Integriert doch erstmal uns! Eine Streitschrift für den Osten” geht sie der Frage nach, warum gerade in Ostdeutschland das Misstrauen in die Politik und die Distanz zu Demokratie so groß sind – und fordert eine gesamtdeutsche Aufarbeitung der Nachwendezeit. Wir sprachen mit ihr über ihre Einschätzung zur aktuellen Lage.

Frau Köpping, 2018 ist Ihr Buch erschienen –  wie hat sich die Debatte um die demokratische Kultur in Ostdeutschland seitdem entwickelt?

Heute ist kaum mehr strittig, dass man die Folgen der Nachwendezeit verstehen muss, um viele aktuelle Konflikte zu verstehen. Die historische Treuhand-Aufarbeitung hat einen neuen Schub bekommen. Letztlich ist auch das durch Olaf Scholz auf den Weg gebrachte „Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation“ das Ergebnis dieser Debatte – als ein Ort, an dem Menschen ihr Leben und ihre Erfahrungen wiederfinden und darüber reden können. Noch wichtiger war, dass die sozialen und ökonomischen Folgen der Nachwendezeit besser verstanden wurden. Dass etwa das Ohnmachtsgefühl, nichts dagegen tun zu können, dass man für die eigene harte Arbeitsleistung keine angemessene Vergütung und Rente erhält, massiv zur Wut auf die Politik beigetragen hat.

Ihr Buch entstand unter dem Eindruck von Pegida und der Anti-Flüchtlings-Proteste.  Inzwischen erleben wir ein Protest-Milieu, das sich im Zuge der Corona-Pandemie neu formiert hat und auch im Osten wieder besonders lautstark vertreten ist. Würden Sie heute eine ähnliche Diagnose stellen?

Es war wichtig und richtig, die Kränkungen und Fehler der Nachwendezeit als Politik laut auszusprechen. Aber heilen müssen wir uns schon selbst. Leider sind manche noch stärker im Kaninchen-Bau abgetaucht und haben sich radikalisiert. Wir müssen dringend diskutieren, wie wir verhindern, dass Desinformation und Lügen unser demokratisches Gemeinwesen weiter angreifen. Dennoch muss man feststellen, die Ergebnisse der AfD sind bei der Bundestagswahl trotz der Verwerfungen durch die Pandemie leicht gesunken – und Brexit und Le Pens Ergebnis in Frankreich haben gezeigt: Das Problem hat nicht nur Ostdeutschland! Ich würde heute noch stärker als bislang die Folgen der neoliberalen Schocktherapie in Großbritannien, den USA oder in den osteuropäischen Staaten benennen. Am Ende dieser Entwicklung stehen Brexit, Trump und Viktor Orban.

Unter den Demonstrierenden sind nicht nur ältere Menschen, die in der DDR gelebt haben, sondern auch zahlreiche junge, die nach der Wende geboren und in der Demokratie aufgewachsen sind. Wie erklärt sich die Wut dieser Generation?

Es geht ja weniger um die DDR. Meine These ist, die Verwerfungen der Nachwendezeit haben ganze Generationen geprägt. Studien zeigen, ein Teil der jüngeren Generation sieht sich im Osten ebenfalls als Bürger zweiter Klasse. Das Gefühl wird also weitergegeben. Zudem würde ich wohl heute noch stärker das Thema der „Baseballschlägerjahre“-Generation und die Folgen für die ostdeutsche Gesellschaft betonen. Es ist kein Zufall, dass die subkulturell extrem rechts geprägte Generation der 1990er Jahre besonders AfD wählt. Und es ist eine Folge davon, dass wir gerade auch in Sachsen lange nicht konsequent gegen extrem rechte Strukturen eingeschritten sind.

Wenn wir uns das gewachsene demokratiefeindliche Milieu anschauen, sind diese Leute zurückzuholen? Oder müssen wir nicht viel stärker auch diejenigen unterstützen, die sich klar positionieren?

So bitter es ist, die AfD wird bis auf weiteres im Osten nicht mehr unter 15 Prozent sinken. Extrem rechte Milieus sind im Osten auch deshalb stärker, weil die Gegenmilieus schwächer sind – natürlich müssen wir diese stärken. Ich glaube, man kann einen Teil der Leute zurückholen, wenn wir als Politik und Zivilgesellschaft verstehen und benennen, welche sozialen und ökonomischen Konflikte und Milieu-Sichtweisen hinter den Menschen stehen – gerade auch angesichts der erneut anstehenden Transformation und Veränderungen wie Klimaschutz. Es geht um sichere Arbeitsplätze, gute Löhne, stabile Renten und ein Solidaritätsverständnis, nach dem jeder Respekt bekommen muss, die oder der sich anstrengt, sich durchbeißt.

Was können und müssen Politik und Zivilgesellschaft jetzt tun, um das Vertrauen in die Demokratie wieder zu gewinnen und zu stärken?

Es geht um dreierlei: Wir müssen auf soziale und ökonomische Fragen mit Lösungen antworten,  die die Leute verstehen. Zweitens müssen wir die Selbstermächtigung der Leute stärken: Es rückt eine spannende Generation der U50-Jährigen in Arbeit, Wissenschaft, Politik, Kultur nach, die mit neuem Selbstbewusstsein einen ostdeutschen Blick einklagen. So gibt es eine neue Generation der Arbeiter:innen, die sich heute nicht mehr klein machen, die für höhere Löhne kämpfen. Das bedeutet Respekt und bringt mehr, als dauernd „gegen die da oben“ zu schimpfen. Drittens: die erste Erfahrung demokratischer Teilhabe der 89er Generation war der Straßenprotest, um sich Gehör zu verschaffen und „Obere“ zu Zugeständnissen zu zwingen. Es geht also auch darum, die politischen Prozesse vor Ort zu stärken und die Leute überhaupt in die Politik zu ziehen: Deswegen führe ich in Sachsen Bürgerbudgets ein, in denen Bürger*innen direkt ihre Ideen einbringen, aber darum werben müssen – und dann das Dorf oder die Stadt darüber abstimmt. Ich stärke soziale Orte, die in der Nachwendezeit verschwunden sind. Menschen müssen Erfahrungen der politischen Selbstwirksamkeit machen können.

Auch in Ostdeutschland gibt es eine große Unterstützung für geflüchtete Menschen aus der Ukraine. Sehen Sie aufgrund der historischen Nähe Ostdeutschlands zu Russland eventuell auch eine Realitätsblindheit im Hinblick auf den russischen Angriffskrieg?

Na ja, die Nähe zu Russland bedeutet nicht, dass man einen Angriffskrieg und eine Diktatur gut heißt. Putin hat ja viele eingefangen, indem er die ostdeutsche Seele streichelte und auf Deutsch über seine Zeit in Dresden redete. Ich glaube, dass viele Ostdeutsche deshalb auch gerade schockiert über den Angriffskrieg Russlands sind. Man darf aber eben auch nicht vergessen, die Ostdeutschen waren immer sehr pazifistisch – und viele auch kritisch gegenüber den USA. Ich glaube, wir hatten hier nie eine echte Diskussion: Der Westen war vor allem transatlantisch, der Osten auf Russland fixiert. Alle haben Mittel- und Osteuropa außen vor gelassen. Die Unterstützung für Ukrainer:innen ist hier auch eine große Chance.

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