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Eine differenziertere Erfassung von Antisemitismus ist sinnvoll, löst allein aber kein Problem

© Shmuel Segal

Der Vorstoß der Innenminister aus NRW und Baden-Württemberg, die Erfassung der antisemitischen Straftaten zu verändern, ist zu begrüßen. Bislang wurden antisemitische Straftaten grundsätzlich der rechts-motivierten Kriminalität zugeordnet, wenn es keine anderen Erkenntnisse über Täter:innen oder Motiv gab. Seit Jahren werden über 90% der antisemitischen Vorfälle als rechtsmotiviert eingestuft. Dadurch sind die Daten über antisemitische Straftaten ungenau und geben kein repräsentatives Bild über die Verbreitung von Antisemitismus in den gesellschaftlichen Milieus.

Nun sollen Straftaten, über die nichts Genaueres bekannt ist, der Kategorie ‚nicht zuzuordnen‘ zugeschlagen werden. Soweit ist das eine gute Idee, die sehr zu begrüßen ist.

Es gibt aber noch andere Probleme bei der Erfassung, die nicht allein mit der Zählweise zu tun haben, sondern auch mit einem Blick auf die Phänomene:

Kommen die Straftaten aus muslimischen Milieus, werden sie teilweise als Ausländerkriminalität gezählt, ganz so als wären Muslim:innen per Definition keine Deutschen. Der Zusammenhang oder die tatsächliche Motivation der Tat spielt dann oft eine untergeordnete oder gar keine Rolle.

Auch die „Grauen Wölfe“, die Anhänger der rechtsextremistischen türkischen „Ülkücü“-Bewegung, werden vom Verfassungsschutz als „ausländische Ideologie“ geführt, obwohl es sich um die größte rechtsextreme Gruppe in Deutschland handelt – ihre Straftaten gelten dementsprechend als „ausländische Ideologie“ und nicht als “rechts-motivierte” Straftat.

Das Problem ist ein einseitiges Verständnis von Rechtsextremismus: Wer „rechtsextrem“ hört, denkt oft an einen “weißen” Deutschen mit NPD-Parteibuch, Springerstiefeln und Glatze Doch so einfach ist das nicht. Antisemitismus gehört zum Kern rechtsextremer Ideologie. Deshalb braucht es neben einer differenzierteren Erfassung von Straftaten auch mehr Kompetenz bei der Polizei und einen genaueren Blick auf die Phänomene. Die Polizei muss dringend besser geschult werden, Erscheinungsformen des Antisemitismus besser einzuordnen und zu erkennen, gerade auch weil viele antisemitische Codes über Milieus hinweg genutzt werden. Antisemitismus ist und bleibt der ideologische Kitt, der Lager vereint.

Sonst bleibt zu befürchten, dass die nächste Kriminalstatistik, bei der ein großer Teil der antisemitischen Straftaten nicht zuzuordnen sein wird, ein gefundenes Fressen für alle Rechtsaußen ist, die immer wieder gern behaupten, der Antisemitismus sei „importiert“ oder vor allem ein Problem von Muslim:innen – und die Statistik solle darüber nur hinweg täuschen.

Das eigentliche Problem ist nicht, dass die Straftaten aus der Not heraus der rechten Kriminalität zugeschlagen werden – sondern dass ein riesiger Teil der antisemitischen Straftaten nicht aufgeklärt wird und das deshalb nötig ist. Und das ist ein Armutszeugnis.

So oder so bleibt ein großes Dunkelfeld: Aus der Erfassung heraus fallen antisemitische Vergehen, die schriftlich beispielsweise im Internet verübt, aber nicht angezeigt oder nicht verfolgt werden. Das gleiche gilt für die täglichen Belästigungen von jüdischen Menschen im Alltag, deren Anzeige im Sande verläuft oder die die Betroffenen gar nicht erst zur Anzeige bringen – aus Scham oder weil sie die Erfahrung gemacht haben, dass Antisemitismus als Motiv nicht ernst genommen wird.

Die Aufklärung eines Dunkelfelds schafft man nur durch die Schaffung von Vertrauen. Dazu gehört es, Anzeigen ernst zu nehmen und auszuermitteln, statt sie kleinzureden und den Betroffenen am Ende einen lapidaren Brief zu schicken, mit dem sie über die Einstellung des Verfahrens informiert werden. Denn für die Betroffenen von Antisemitismus ist es weitestgehend egal, woher der Angriff kommt. Sie brauchen in erster Linie Unterstützung.

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