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„Ermordet von Händen von Bösewichten“: Der Mord an Shlomo Lewin und Frida Poeschke

In Erlangen wird mittels eines Straßenschild an die Ermordung von Shlomo Lewin und Frida Pöschke erinnert. Auffällig hierbei, dass das rechtsextreme Tatmotiv auf dem Straßenschild nicht erwähnt wird. (c) Wikicommons

Am Abend des 19. Dezember 1980 werden der jüdische Verleger Shlomo Lewin und seine Lebensgefährtin Frida Poeschke in ihrer gemeinsamen Wohnung in Erlangen ermordet. Die sichergestellten Spuren legen nahe, dass der Täter sich über den hinter dem Haus befindlichen Garten einem Fenster zum Wohnzimmer näherte, dort die beiden späteren Opfer erkannte, sich dann zum Eingang begab und klingelte. Lewin öffnete die Tür und ging von mehreren Schüssen getroffen zu Boden, kurz danach trafen weitere Schüsse seine Lebensgefährtin Frida Poeschke. Neben den Projektilen blieben am Tatort eine Sonnenbrille und einige verbogene Metallteile zurück. Fast vier Jahre später begann der Prozess. Angeklagt wurden Karl-Heinz Hoffmann und dessen Lebensgefährtin Franziska Birkmann. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik wurde ein nach dem Ende des Faschismus verübter antisemitischer Mord vor Gericht verhandelt. Als der Prozess nach 186 Verhandlungstagen endete, konnte kein Täter für die Morde verurteilt werden. Hoffmann und Birkmann wurden in den Anklagepunkten, die die Morde betrafen, freigesprochen und der angeblich alleine und auf eigene Initiative handelnde Mörder Uwe Behrendt galt als tot. Eine Reihe von Umständen stellt die Einzeltäter-These jedoch infrage.

Von Sebastian Wehrhahn und Martina Renner

Jerusalem–Erlangen: das Leben von Shlomo Lewin

Shlomo Lewin wurde 1911 in Jerusalem geboren und kam im Alter von sechs Jahren nach Deutschland. Nach seinem Studium war er zunächst als Lehrer tätig, bevor er vor den Nationalsozialisten nach Frankreich und von dort später nach Palästina floh. Er kämpfte im israelischen Unabhängigkeitskrieg und kehrte 1960 nach Deutschland zurück. Hier war er als Verleger, als Vorsitzender der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg und als Geschäftsführer der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Franken aktiv. Seit 1964 lebte Lewin mit Frida Poeschke zusammen, der Witwe des ehemaligen Erlanger Oberbürgermeisters Georg Poeschke.

Die Wehrsportgruppe Hoffmann

Im Januar 1980 wurde die Wehrsportgruppe Hoffmann vom Bundesinnenminister Baum verboten. Zu diesem Zeitpunkt hatte die 1973 von Karl-Heinz Hoffmann gegründete Gruppe ca. 400 Mitglieder und war damit eine der wichtigsten neonazistischen Organisationen der Bundesrepublik. Die Aktivitäten umfassten neben paramilitärischen Übungen auch den Saalschutz für rechte Veranstaltungen. Als die Wehrsportgruppe (WSG) schließlich verboten wurde, kamen im Zuge der Durchsuchungen 18 Wagenladungen voll Waffen, Sprengstoff, Munition, Uniformen und Propaganda zusammen.5

Dass es eines Bundesministers bedurfte, eine zentral von Bayern aus operierende Wehrsportgruppe zu verbieten, hatte unterschiedliche Gründe. Zum einen gehörte es zur Linie der CSU, Wehrsport und die entsprechende Ideologie zu verharmlosen.6 Zur prinzipiellen Ignoranz gegenüber dem Thema trat politisches Kalkül: Strauß wollte in diesem Jahr Kanzler werden und setzte im Wahlkampf auf einen Antikommunismus, dessen Feindbestimmung von der RAF bis zum FDP-Bundesinnenminister reichte. Dieses Kalkül hielt Strauß auch durch, als am 26. September 1980 – wenige Tage vor der Bundestagswahl – eine Bombe auf der Münchner Theresienwiese 13 Menschen tötete und 211 verletzte. Strauß begann schnell, den Anschlag in seinen Wahlkampf einzubauen und warf dem FDP-Innenminister aufgrund dessen vermeintlich liberaler Gangart gegenüber dem linken Terrorismus vor, „schwere Schuld“ durch die „Verharmlosung des Terrorismus“ auf sich geladen zu haben.7 Schnell wurden jedoch die Verbindungen des bei dem Anschlag getöteten Attentäters Gundolf Köhler in die rechte Szene bekannt. Dieser war Mitglied der neonazistischen Wiking-Jugend und hatte an mehreren Übungen der WSG Hoffmann teilgenommen.

Bis heute ist dieser schwerste Anschlag in der Geschichte der Bundesrepublik nicht aufgeklärt (vgl. auch Manthe in diesem Band). Die ersten Ermittlungen endeten 1982 mit dem wenig plausiblen Ergebnis, dass Köhler alleine und aus persönlichen Motiven heraus gehandelt habe. Es bleiben bis heute zahlreiche Widersprüche, die auf unbekannte Mittäter hinweisen. 2014 nahm die Generalbundesanwaltschaft aufgrund des langen Atems von Journalist Ulrich Chaussy und Anwalt Werner Dietrich die Ermittlungen wieder auf.8

Die Wehrsportgruppe Ausland

Karl-Heinz Hoffmann hatte nach dem Verbot begonnen, eine neue Organisation im Libanon aufzubauen. Auf Vermittlung des Rechtsterroristen Udo Albrecht (vgl. Thiele in diesem Band) etablierte er 1980 Beziehungen mit der PLO (Schönfelder 2019). Hoffmann verkaufte den Palästinensern ausrangierte Fahrzeuge der Bundeswehr, erhielt für einen gewissen Zeitraum sogar ein monatliches Gehalt und die Fatah stellte Hoffmann und seinen ca. 15 Anhängern Unterkunft, Verpflegung, z. T. Waffen und Ausweisdokumente zur Verfügung. Der Alltag in ihrem Lager in einem Beiruter Vorort war für viele seiner Anhänger jedoch ernüchternd. Statt aktiver Teilnahme am Krieg gegen Israel oder andere militärische Aktionen, war das Leben in Bir Hassan von Wehrsportübungen, Bautätigkeiten und autoritärem Drill geprägt. Mit der Zeit entwickelte sich aus dieser Kombination in der Gruppe unter der Führung von Hoffmann ein grassierender Sadismus. Dieser drückte sich zunächst in zur Strafe angeordneten Geländeläufen aus, die zum Teil mit beschwerten Rucksäcken absolviert werden mussten. Später kamen Prügel und grausame Folterungen dazu. Nach Fluchtversuchen oder Regelverstößen wurden WSG-Mitglieder beispielsweise geschlagen und durch Wasserentzug, die zwangsweise Einnahme von Öl, Salz oder Seife sowie Waterboarding gefoltert. Einem Mitglied wurde gegen seinen Willen „KL 9999“ auf den Unterarm tätowiert. Unterschiedliche Mitglieder der WSG taten sich dabei durch Brutalitäten hervor. Am schwersten wurde Kay-Uwe Bergmann misshandelt. Nachdem ihm bei einer der Straf-Torturen eine Schulter ausgekugelt wurde, musste er im Februar 1981 im Krankenhaus behandelt werden. Als nach seiner Rückkehr im Lager vermutet wurde, dass er während seines Aufenthaltes versucht habe, die Vereinten Nationen zu kontaktieren, nahm die Folter derartig an Intensität9 zu, dass Bergmann daran vermutlich starb. Seine Leiche ist bis heute nicht gefunden worden.

Erlangen

Zu diesem Zeitpunkt wurden weder Karl-Heinz Hoffmann noch dessen Lebensgefährtin mit den Morden in Verbindung gebracht. Stattdessen standen die Lebensführung Lewins, Zerwürfnisse innerhalb der jüdischen Gemeinde oder eine (fälschlicherweise unterstellte) Agententätigkeit im Zentrum der Berichterstattung wie auch im Fokus der Ermittlungen.10 Dabei wäre es nicht schwer gewesen, von den Morden in Erlangen auf die nur 16 Kilometer entfernt lebenden Mitglieder der WSG Hoffmann zu kommen. Lewin trat 1977 als prominenter Redner bei Protesten gegen eine von Hoffmann mitorganisierte Konferenz von Holocaustleugnern auf. Im selben Jahr wurde Lewin in einem Artikel der italienischen Zeitschrift OGGI über den deutschen Neonazismus im Allgemeinen und Karl-Heinz Hoffmann im Besonderen zitiert.11 Hoffmann war dieser Artikel wohlbekannt: Als nach dem Oktoberfestattentat am 27. September 1980 Hoffmanns Wohnsitz durchsucht wurde, fanden die Beamten eben diese Zeitschrift auf dem Nachttisch. Und auch in Hoffmanns eigener Wehrsportgruppen-Zeitschrift, dem „Kommando“, schrieb er im März 1979 über und gegen Lewin (Hoffmann 1979).

Der deutlichste Hinweis jedoch war eine am Tatort zurückgelassene Brille der Firma Schubert, die statt der Gläser mit Sehstärke schlichte Sonnenbrillengläser enthielt. Solche Brillen wurden in der Regel nur als Geschenke ausgegeben – zudem hatte die Firma ihren Sitz im Nachbarhaus der vormaligen Wohnanschrift von Hoffmann und Birkmann. Letztere hatte außerdem grafische Arbeiten für die Firma erledigt. Doch Birkmann wurde erst im Februar 1981 vernommen und erst im Mai wurde Schloss Ermreuth durchsucht, wo sie gemeinsam mit Hoffmann und weiteren WSG-Mitgliedern lebte. Fünf Monate waren seit den Morden vergangen – genug Zeit also, um eventuell belastende Indizien zu beseitigen. Nur schleppend kamen die Ermittlungen voran. Im Juni wurde Hoffmann festgenommen, wenig später auch Franziska Birkmann. Nach und nach wurden aus dem Libanon zurückgekehrte WSG-Mitglieder vernommen. Trotzdem dauerte es noch bis zum September 1984, bis der Prozess schließlich in einem zweiten Anlauf begann.12

Der Prozess

Die Anklage warf Franziska Birkmann die Mittäterschaft, Karl-Heinz Hoffmann und Uwe Behrendt die Täterschaft an den Morden vor. Dabei stützte sie sich sowohl auf Zeugenaussagen wie auf Indizien, die am Tatort und in Schloss Ermreuth gefunden wurden. So fanden sich am Tatort Metallsplitter eines Schalldämpfers, wie er vor der Tat von Behrendt und Hoffmann hergestellt worden war. Bei der Durchsuchung in Ermreuth wiederum wurde eine Perücke gefunden, wie sie von Zeugen zur Tatzeit am Tatort erkannt wurde. Die dort gefundenen Projektile wiesen zudem auf eine Beretta MP hin, bei der die Verplombung entfernt wurde. Eine solche Waffe befand sich in Ermreuth. Ein Zeuge sagte dazu aus, er sei von Hoffmann gebeten worden, eine Beretta scharfzumachen.

Schwerer belasteten Hoffmann jedoch ehemalige WSG-Mitglieder, die angaben, er habe versucht, sie für einen Mord an einem Juden in Deutschland zu rekrutieren. Dabei sind vor allem die Details in den Aussagen von Alfred Keeß interessant. Dieser gab an, Hoffmann habe ihn kurz nach dem Oktoberfestattentat mehrfach gefragt, ob er einen älteren Juden nahe Ermreuth töten würde.13 Zur Tarnung sollte er eine Perücke und eine Sonnenbrille tragen, die Tat sollte mit einer schallgedämpften Waffe ausgeführt werden. Weiterhin sagte Keeß aus, Uwe Behrendt habe ihm nach dessen Rückkehr in den Libanon die Morde gestanden.

Auch die Aussagen von Franziska Birkmann brachten Hoffmann in Bedrängnis. Nachdem sie bei ihrer ersten Vernehmung im Februar 1981 angab, die Sonnenbrille seit Längerem vermisst zu haben, räumte sie im August 1981 ein, dass Hoffmann sie in der Nacht auf den 20. Dezember geweckt habe, um ihr mitzuteilen, dass Behrendt die Morde begangen und am Tatort ihre Brille zurückgelassen habe. Auf die Frage, ob Hoffmann an der Tat beteiligt war, nickte sie, machte aber keine weiteren Angaben. Sie sagte u. a.: „Ich kann doch nichts sagen, sonst belaste ich ihn doch.„14 Erst nach diesen Aussagen belastete auch Hoffmann Uwe Behrendt, während er im April 1981 noch angab, Behrendt sei zur Tatzeit zu Hause gewesen. Den Aussagen von Hoffmann zufolge, der in einem mehr als 50-stündigen Monolog geschickt die gegen ihn vorgebrachten Indizien zu seiner vorgeblichen Entlastung einbaute, handelte Behrendt alleine und auf eigene Initiative. Dieser sei am Abend des 19. Septembers aufgebrochen und habe getarnt mit Perücke und Sonnenbrille mit der scharfgemachten Beretta und einem Schalldämpfer, wie Hoffmann ihn zuvor hergestellt hatte, die Morde begangen. Das sei alles ohne Wissen von Hoffmann und Birkmann geschehen. Er sei danach zurückgekehrt und habe Hoffmann die Tat gestanden. Wie Behrendt nach Erlangen und zurück gelangte, konnte Hoffmann allerdings ebenso wenig erklären wie den Verbleib des Schalldämpfers, den er bereits vor der Tat entsorgt haben will. Auch die Tatwaffe soll Behrendt an einem Hoffmann unbekannten Ort versteckt haben. Hoffmann habe später die Kleidung Behrendts verbrannt und Projektile zerstört, die von Schießübungen im Boden des Kellers zurückgeblieben waren, und während einer Autofahrt aus dem Fenster geworfen. Behrendt habe er dann bei dessen Ausreise in den Libanon unterstützt.

Der tote Einzeltäter

Behrendt selbst wurde nie befragt. Den Aussagen anderer WSG-Mitglieder zufolge beging er im September 1981 im Libanon Suizid. Doch erst im August 1984 reisten zwei Beamte des Bayerischen LKA nach Beirut, um auf Grundlage der Beschreibungen von WSG-Mitgliedern dort den Leichnam zu suchen und ihn nach Deutschland zu überführen, wo er obduziert wurde. In einer Antwort auf eine Anfrage der Linksfraktion heißt es, als Todesursache sei durch eine Zeugenaussage und die gerichtsmedizinische Untersuchung Suizid festgestellt worden.15 Doch bei der nach jahrelanger Verwesung skelettierten Leiche ließ sich keineswegs medizinisch feststellen, ob der Schuss selbst oder von einem Täter beigebracht wurde. Die Angaben zum Tod von Behrendt beruhen in den wesentlichen Aspekten auf Aussagen von WSG-Mitgliedern und müssen daher mit entsprechender Vorsicht gewertet werden. Auch eine Associated-Press-Meldung, der zufolge der Tote bei einem Fluchtversuch aus einem palästinensischen Gefängnis erschossen worden sei, wirft Fragen auf.16 Ebenso fragwürdig erscheint Behrendts Verhalten nach der Tat. So soll er am 23. Dezember in die DDR zu Verwandten nach Pößneck gereist sein, von dort kehrte er am 25. Dezember wieder zurück in die BRD. Verwandte Behrendts erhielten eine Postkarte, die am 26. Dezember in Salzburg aufgegeben wurde. Erst anschließend reiste Behrendt in den Libanon. Dort wurde er später von Hoffmann zum „Leutnant“ befördert.

Es ist nicht auszuschließen, dass Behrendt sowohl vor als auch nach der Tat mit falschen Ausweisen reiste. WSG-Mitglied Behle sagte aus, Behrendt sei im Dezember 1980 mit einem von der PLO bereitgestellten mauretanischen Pass nach Europa gereist. Jenseits davon besaß Behrendt einen Reisepass, der vom deutschen Konsulat in Südafrika ausgestellt wurde. Dort hielt sich Behrendt zwischen April und Oktober 1979 auf. Sein zuvor in der BRD ausgestellter Pass sowie sein Personalausweis waren als verloren gemeldet. In den Akten der Staatssicherheit findet sich eine daran anschließende interessante Begebenheit: 1982 wird ein arabischer Mann mit mehreren Pässen in Stockholm festgenommen, einer davon der verlorene Pass Behrendts.17 In der erwähnten Antwort auf die Kleine Anfrage zum Doppelmord in Erlangen ist außerdem die Rede davon, dass Behrendt im Mai 1981 im Besitz eines gefälschten Ausweises gewesen sein soll. Letztere Information ist vor allem deshalb interessant, weil mehrere WSG-Mitglieder ausgesagt haben, dass Behrendt im Frühjahr 1981 erneut nach Europa gereist ist und dort einen weiteren Mord begangen hat.18

In dubio pro reo

Am Ende des 186-tägigen Prozesses galt der tote Uwe Behrendt als Einzeltäter.19 Hoffmann kam dabei wesentlich das Alibi von Jörg Haushälter zugute. Dieser gab an, gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin am 19. Dezember in Ermreuth angekommen zu sein und den Abend in der Küche des Schlosses verbracht zu haben. Beide bestätigten Hoffmanns Anwesenheit im Schloss ebenso wie die Anwesenheit des Autos von Franziska Birkmann. Sie erwähnten jedoch erst vor Gericht, dass Uwe Behrendt zu später Stunde zurückgekehrt sei und an das Küchenfenster geklopft habe. In ihren polizeilichen Befragungen erwähnten sie beide dieses Detail nicht. Wie im Aussageverhalten von Hoffmann und Birkmann taucht Behrendt also erst später als Täter auf. Zur Einordnung ihrer Aussagen muss außerdem der ideologisch-organisatorische Hintergrund dargestellt werden. Haushälter war Leiter der neonazistischen Wehrsportgruppe Germania. 1980 wurden bei ihm Waffen und Munition sichergestellt. Es kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass Zeugen in ihren Aussagen zugunsten Hoffmanns beeinflusst wurden.20 Entscheidend für den Ausgang des Prozesses war davon abgesehen jedoch, dass die Kammer jeden Zweifel zugunsten des Angeklagten auslegte. „Die Kammer hat sich bei den Sachverhaltsfeststellungen im Wesentlichen an die Einlassung des Angeklagten Hoffmann gehalten“21, heißt es im Urteil. Sie wich nur dann davon ab, wenn die Widersprüche allzu offensichtlich waren. Hoffmanns Verteidigung selbst verfolgte von Beginn an die Strategie, die Aussagen immer wieder anzupassen und nur einzuräumen, was zweifelsfrei zu seinem Nachteil bewiesen worden war: Hoffmann log während seiner ersten Vernehmung im April 1981, als er angab, die am Tatort zurückgelassene Sonnenbrille nicht zu kennen. Erst nachdem Franziska Birkmann Angaben zur Brille gemacht hatte, gab Hoffmann an, Uwe Behrendt habe die Brille entwendet und ihm deren Verlust in der Tatnacht gestanden.22

Das Gericht folgte Hoffmann außerdem in der weiteren folgenschweren Behauptung. Immer wieder wies Hoffmann, konfrontiert mit belastenden Indizien, darauf hin, dass ein solches Verhalten für seine Person nicht infrage komme, weil es zu töricht und zu leichtsinnig sei. Hätte er den Mord geplant, hätte er nicht diese markante Sonnenbrille und nicht die scharfgemachte Beretta verwendet, weil diese Details auf ihn weisen würden. Ebenso wenig hätte er ein Opfer in der unmittelbaren Umgebung seines Wohnsitzes ausgewählt. Auf diese Weise wurden gerade die ihn belastenden Umstände zur Entlastung herangezogen. Das Gericht verkannte auch die Bedeutung des Antisemitismus. So heißt es im Urteil, dass Lewin nicht als Opfer eines Anschlags in Frage kommen würde, weil dessen Angriffe gegen die WSG das normale Maß nicht übersteigen würden. Hätte die Kammer jedoch Antisemitismus als ideologisches Motiv ernst genommen, hätte sie einbezogen, dass diese Angriffe umso kränkender und bedeutsamer gewichtet wurden, eben weil sie von einem Juden kamen. Ebenso schien dem Gericht gänzlich ein Verständnis für die symbolische Bedeutung eines öffentlich aktiven und um das christlich-jüdische Verhältnis bemühten Juden zu fehlen. Antisemitismus könnte außerdem auch eine wichtige Rolle als Bindeglied zwischen Mittätern, Mitwissern oder Alibigebern spielen.23 

Täter tot – Fall geschlossen

Mehr als 30 Jahre nach dem Urteil und fast 40 Jahre nach den Morden sind noch immer entscheidende Fragen unbeantwortet: Wie gelangte Uwe Behrendt zum Tatort? Wo ist die Tatwaffe? Hat der Neonazi, über den seine Tante sagte, er sei Hoffmann „blind ergeben“ gewesen, tatsächlich alleine und ohne Mitwisser gehandelt? Gibt es noch weitere Morde, die bislang nicht in Zusammenhang gebracht wurden? Die Ermittlungen und der Prozess weisen viele Parallelen zu anderen Fällen des deutschen Rechtsterrorismus auf. Die Ermittlungen richteten sich zuerst gegen das Opfer und sein Umfeld und erst später gegen rechte Täter. Im NSU-Komplex begegnet uns diese Struktur ebenso wie behördliche Feindbestimmung, nach der die Gefahr von links droht. Durch diese Prioritätensetzung wird rechter Terrorismus und sein organisatorisches wie politisches Umfeld verharmlost und gerät aus dem Blick. Auch die politisch gewollte Fixierung auf die Einzeltäter-Hypothese entspricht diesem Muster und ist gefährlich irreführend, weil dadurch Netzwerke nicht erkannt und Mittäter nicht zur Verantwortung gezogen werden.

Gegenwärtig gibt es noch ein konkretes Möglichkeitsfenster, einige der offenen Fragen zu beantworten. Seit 2014 ermittelt die Generalbundesanwaltschaft (GBA) erneut zum Oktoberfestattentat. Auch hier gilt bis heute ein beim Anschlag getöteter Einzeltäter mit Verbindungen zur WSG Hoffmann als alleinig verantwortlich, obwohl zahlreiche Umstände dagegensprechen. Im Zuge dieser Ermittlungen wird auch die Wehrsportgruppe Ausland noch einmal beleuchtet. Es ist nicht auszuschließen, dass auch Erkenntnisse über den Mord an Lewin und Poeschke ans Licht kommen. Auch das Wissen der Geheimdienste spielt für dieses Verfahren eine Rolle. Anfragen der Linksfraktion zufolge hat die GBA zwar Akten seitens BfV und BND angefordert, jedoch bislang keine Offenlegung der Identitäten von V-Leuten verlangt.24 Dass es diese in bzw. im Umfeld der Wehrsportgruppe gegeben hat, ist verschiedentlich belegt.25 Der Fall ist juristisch abgeschlossen und dennoch: Ein Täter wurde nie verurteilt, das Unrecht ist nicht abgegolten, die Schuld, wie der Journalist Ulrich Chaussy 2011 in seiner Rede in Erlangen festhielt, noch keiner Sühne zugeführt worden. Dieser Anspruch verjährt nicht. Er beharrt auf der Unabgeschlossenheit und nimmt Gestalt in kritischer historischer Recherche, in zähen, ausdauernden juristischen Auseinandersetzungen und in antifaschistischer Politik, wie sie Lewin in seiner Rede 1977 gegen den „Auschwitz-Kongress“ der Neonazis umriss:

Wir müssen versuchen, diese Menschen aufzuspüren, wo immer sie sind, um sie hinauszudrängen. Sie müssen in die Isolation gehen. Sie müssen geschändet und geächtet werden. Wir müssen sie entdecken, wir müssen sie enthüllen. Wir müssen ihre Schandtaten und ihre Lügen […] aufzeigen. Die Menschen müssen aufwachen und sehen, welche Gefahr […] von diesen Faschisten wieder auf uns zukommt. […] Wir müssen ihnen das Handwerk legen.26

Quellen:

1 Die Inschrift auf dem Grab Shlomo Lewins in Haifa, Israel lautet: „Hier ruht unser teurer Rabbi Shlomo Salman Lewin, Sohn des Rabbi David Eliahu, ermordet von Händen von Bösewichten. Gott wird sein Blut rächen.“

2 Für viele erhellende und bereichernde Gespräche danken Autorin und Autor Ulrich Chaussy.

3 Die Schilderungen der WSG Ausland im Libanon, der vom Gericht angenommenen Abläufe vor, während und nach der Tat sowie der Aussagen von Zeugen und Beschuldigten beziehen sich auf das Urteil des Landgerichtes Nürnberg-Fürth vom 30.06.1986, Aktenzeichen 3Ks 340 Js 40387/81 bzw. die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth von 1983 Aktenzeichen 340 Js 40387/81.

4 Vor allem auf Akten der Hauptabteilung XXII und dem Sekretariat des Stellvertreters des Ministers Neiber.

5 Vgl.: „Wehrsportgruppe Hoffmann“ auf wikipedia.de, zuletzt abgerufen am 24.09.2019, https://de.wikipedia.org/wiki/Wehrsportgruppe_Hoffmann.

6 Der bayerische Innenminister Tandler war der Auffassung, einer Gruppe, die sich an das „Waffengesetz, das Naturschutzgesetz, die Straßenverkehrsordnung usw. halte, könne die Abhaltung von ‚Wehrsportübungen‘ nicht unterbunden werden“ (Der Spiegel 6/1980, zit. nach: www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/167686/ohne-fuehrer-und-bekennerschreiben zuletzt abgerufen am 24.09.2019.) Ministerpräsident Strauß griff Baum sogar für die Verbotsverfügung an: „Mein Gott, wenn sich ein Mann vergnügen will, indem er am Sonntag auf dem Land mit einem Rucksack und einem mit Koppel geschlossenen ‘battledress’ spazieren geht, dann sollte man ihn in Ruhe lassen.“ (Chaussy 2016: 104).

7 Zit. Nach: www.zeit.de/2010/37/Oktoberfest-Attentat/komplettansicht, zuletzt abgerufen am 24.09.2019.

8 Zu den Hintergründen und ungelösten Widersprüchen des Oktoberfestattentats vgl.: Chaussy 2014.

9 Aussagen anderer WSG-Mitglieder belegen, dass Bergmann schwerstens misshandelt wurde. Zusätzlich zu den oben beschriebenen Gewalttaten wurde er mit einem heißen Messer und brennenden Zigaretten gequält, außerdem wurde ihm ein Brennstoffwürfel auf dem Bauch angezündet.

10 „Es hat den Anschein, als seien die Ermittler in diesem Mordfall mit Blindheit geschlagen gewesen.“ so Spiegel-Redakteur Hans-Wolfgang Sternsdorff 1984 in Der Spiegel 47/1984.

11 OGGI Nr. 9, 26.02.1977.

12 Eine erste Anklageschrift wies die 5. Strafkammer des Landgerichtes Nürnberg-Fürth ab.

13 In den Aussagen der ehemaligen WSG-Mitglieder wird allerdings noch ein weiteres potenzielles Mordopfer erwähnt. Bei dieser Person soll es sich um einen Juden aus Westberlin handeln, der in einem Geschäft gearbeitet haben soll.

14 Sowie in Bezug auf Behrendt: „Wenn ich Spock [Spitzname von Behrendt, S.W.] belaste, belaste ich doch ihn.“ Die Frage, ob sie Behrendt zum Tatort gefahren habe, verneinte sie. Als sie gefragt wurde, ob sie Behrendt, der über kein eigenes Auto verfügte, ihren Wagen überlassen habe, sagte sie erneut „Nein, ich habe ihn nicht gefahren.“ Und schließlich antwortete sie auch auf die Frage, ob Hoffmann Behrendt gefahren habe „Ich habe ihn nicht gefahren. Ich kann ihn doch nicht belasten.“ (Urteil des Landgerichtes Nürnberg-Fürth vom 30.06.1986, Aktenzeichen 3Ks 340 Js 40387/81 S. 785) In einer späteren Vernehmung wollte sie sich dazu nicht mehr äußern bzw. gab an, sich nicht mehr genau erinnern zu können. Vor Gericht schwieg Birkmann ebenfalls.

15 Vgl.: Erkenntnisse zum Erlanger Doppelmord an Shlomo Lewin und Frida Poeschke, BT Drucksache 18/11602.

16 In der Meldung vom 23.08.1984 wird berichtet, dass die Leiche Behrendts gefunden wurde. In dem darin zitierten Bericht der libanesischen Polizei heißt es, dass der Tote „ein Rekrut der Baader-Meinhof-Bande“ gewesen sei, der von seiner Guerilla-Ausbildung desertiert und anschließend in einem palästinensischen Gefängnis inhaftiert worden sei. Bei einem Fluchtversuch sei er dann erschossen und von seinem Mörder vergraben worden.

17 Vgl.: Sekretariat des Stellvertreters des Ministers Neiber, Information G/08789/12/05/83.

18 Die genauen Umstände dieser Europa-Reise sind unklar und verschiedene Aussagen enthalten diesbezüglich unterschiedliche Angaben. So sollen ein PLO-Mann und/oder Hoffmann selbst Behrendt begleitet haben. Leroy Paul, ein weiterer WSG-Mann, verweigerte auf die Frage, ob er Behrendt mit Hoffmann begleitet habe, die Aussage mit Verweis auf das Zeugnisverweigerungsrecht angesichts wahrscheinlicher Strafverfolgung.

19 Sowohl Hoffmann als auch Birkmann wurden im Hinblick auf die Morde freigesprochen. Hoffmann wurde wegen Geldfälschung, mehrerer Fälle von Freiheitsberaubung, gefährlicher Körperverletzung und Nötigung, Strafvereitlung sowie verschiedener waffenrechtlicher Vergehen verurteilt, Birkmann wegen der Nichtanzeige einer geplanten Straftat.

20 Einen entsprechenden Kassiber legte der Zeuge Keeß im Prozess vor. Außerdem gab er an, nach seiner polizeilichen Vernehmung unter Druck gesetzt worden zu sein.

21 Urteil des Landgerichtes Nürnberg-Fürth vom 30.06.1986, Aktenzeichen 3Ks 340 Js 40387/81 S. 848.

22 In der Anklageschrift wird das Aussageverhalten von Hoffmann und Birkmann wie folgt beschrieben: „Diese wiederholt wechselnden und offensichtlich aufeinander abgestimmten Einlassungen der Angeschuldigten machen deutlich, auf welche Weise versucht wird, die Ermittlungsbehörden zu täuschen und den wahren Sachverhalt zu verschleiern. Die Angeschuldigten streiten konsequent ab, was sie belasten könnte und sind erst dann zu Teilgeständnissen bereit, wenn sie aufgrund der Beweissituation erkennen, dass sie durch weiteres Leugnen ihre eigene Glaubwürdigkeit untergraben.“ (Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth 1983 Aktenzeichen 340 Js 40387/81 S. 84).

23 Das Gericht scheint auch Hoffmanns Selbstauskunft gefolgt zu sein, er sei kein Antisemit. Das ist umso erstaunlicher, als dass Hoffmann in der Angabe des Motivs von Behrendt zumindest implizit antisemitisch argumentierte. So soll Behrendt aus stellvertretender Rache für Hoffmann gehandelt haben. Die Rache richtete sich gegen einen Juden, weil es Hoffmann zufolge der israelische Geheimdienst war, der Hoffmann durch den Oktoberfestanschlag kompromittieren wollte. Vgl.: „Mit dem Rucksack“ in: Der Spiegel 34/1984 vom 20.08.1984, S. 37–40.

24 Vgl. die Antworten der Bundesregierung auf die mündlichen Fragen von Martina  vom 17.01.2018 (Bundestagsdrucksache 19/414) & 04.03.2015 (Plenarprotokoll 18/90) sowie die schriftlichen Fragen von Martina  vom 01.09.2016 (Bundestagsdrucksache 18/9641) & 07.04.2016 (Bundestagsdrucksache 18/8191).

25 Vgl. Die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Linksfraktion: „Mutmaßliche Aktenvernichtungen im Zusammenhang mit dem Oktoberfestattentat und der Wehrsportgruppe Hoffmann bei deutschen Geheimdiensten“ (BT Drucksache 18/3985) sowie insbesondere die diesbezügliche Nacherfüllung BT Drucksache 18/13318. Vgl. außerdem Renner/Wehrhahn 2017.

26 Vermerk des Bayerischen LKA, SG 721, Tagebuchnummer 2984/80.

 

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