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Laudatio von Sergey Lagodinsky auf die Preisträger*innen des Sächsischen Demokratiepreises

Sergey Lagodinsky bei der Laudatio zum Sächsischen Förderpreis für Demokratie 2022. Quelle: Screenshot Twitter (https://twitter.com/SLagodinsky)

Die diesjährige Laudatio zur Würdigung der Preisträger*innen des Sächsischen Förderpreis für Demokratie hielt der Europa-Abgeordnete Dr. iur Sergey Lagodinsky. Wir dokumentieren die Rede.

Kiew ist Leipzigs älteste Partnerstadt: Seit 1961 sind die Sachsen mit der ukrainischen Hauptstadt verbunden. Aber was eint eigentlich Leipzig, Apolda, Groß Strömkendorf, Bautzen oder Neukieritzsch noch mit der angegriffenen Ukraine? Mehr als uns lieb ist. Die Angst vor dem nächtlichen Feuer, die Angst vor dem Hass, die Angst wieder einmal alles zu verlieren, am Ende gar das eigene Leben. Denn Zielscheiben der Brandanschläge der letzten Wochen waren sie, diese Zufluchtsuchenden. Ukrainer*innen, die vor Besatzung und Raketen, vor Vergewaltigung und Tod, geflohen sind und nun in Deutschland mit Brandsätzen empfangen werden. Die Gefahr macht noch nicht einmal vor ihren Kindern halt. Denjenigen, die noch mit dem Trauma aus ihrer Heimat kämpfen und deren einziger sicherer Raum, in dem Freude und Unbeschwertheit wieder erlaubt war, über Nacht brennt und jedes zögerliche Lachen im Rauch erstickt.

Wie viel kleiner wirkt dabei unsere moralische Betroffenheit? Denn auch wir wurden getroffen von diesen Anschlägen; unsere Integrität ist getroffen. Die Integrität von Menschen aus und in Deutschland und – wieder einmal – von Menschen in Ostdeutschland. Wir kennen den realen Wahnsinn des Krieges nur aus den Erzählungen der Großeltern, wir diskutieren die Frage, wie viel Verantwortung wir für die Taten unserer Vorfahren überhaupt noch übernehmen müssen. Reden sie klein.

Durch den menschenfeindlichen Terror heute werden wir daran erinnert, dass diese Verantwortung nicht verjährt. Unsere Verantwortung verjährt nicht und jede und jeder Einzelne von uns bleibt in wirklich jedem Augenblick gefordert. Und das müssen wir an jedem 9. November bekräftigen. Und an jedem 10. Und an jedem 7.
Wir müssen uns an einem jeden Tag hinterfragen, ob wir genug getan haben, ob wir lauter werden müssen. Nicht aus historischer Schuld, nicht, weil Geschichte es fordert – nein, die Gegenwart ruft uns zu: Werdet wach, werdet aktiv. So wie die Preisträger*innen heute. Das gebieten unsere gemeinsamen Werte. Das gebietet die Menschlichkeit in uns.

Genau das lehren uns die Preisträgerinnen und Preisträger des heutigen Abends: bei allen Krisen und Kriegen, die über uns hereinbrechen, bei allen Problemen und Streitereien in unseren Parlamenten, bei all dem Grau des Himmels und der Kühle in unseren schwach beheizten Räumen, bei den hohen Rechnungen für den Stromverbrauch, bleibt das Gebot unserer Menschlichkeit. Nicht mehr und nicht weniger. Das ist nicht links, das ist nicht rechts. Das ist Mensch!

Nach diesem Gebot handeln die Preisträgerinnen und Preisträger des heutigen Abends. Nach diesem Gebot müssen wir uns gegen den Reflex wehren, uns in unserer Scham zu verkriechen. Stattdessen müssen wir uns in unserem Innern dem Kampf stellen, dem Kampf zwischen den Resten der im Frühjahr leidenschaftlich ausgelebten Solidarität einerseits und andererseits im Herbst wiederentdeckten, angestaubten, post-sowjetischen Romantik, dem immer noch in so vielen von uns schwach atmendem Gespenst der nicht mehr existierenden Sowjetunion. Oder der DDR. Oder, oder, oder… Das Gespenst, das manche von uns seltsam nostalgisch stimmt und andere durch Furcht in unserer Solidarität demobilisiert.

Ich kenne diesen inneren Kampf, dieses Wandeln zwischen den Welten, Engelchen und Teufelchen auf der Schulter. Immerhin bin ich selbst in der Sowjetunion geboren und aufgewachsen. Der Kollektivismus und sein Zerfall haben mich 18 Jahre lang geprägt.

Unsere kleine, jüdische Community im Süden Russlands war so etwas wie eine Welt in der Welt – wir waren Sowjets, aber laut Pass keine Russen. Wir gehörten dazu, aber irgendwie doch nicht. Vielleicht vergleichbar mit dem, was die Ostdeutschen heute fühlen? Oder auch Menschen aus anderen Ländern, die hierherkommen? Oder Menschen, die hier geboren sind, aber nur, weil sie anders heißen oder anders aussehen nicht gleich behandelt werden.

Als ich mit meiner Familie in Deutschland ankam, waren wir auf die Solidarität der Menschen in einem fremden Land angewiesen. Menschen, wie die heutigen Preisträgerinnen und Preisträger.
Auch in unserer neuen Heimat waren wir Teil einer kleinen Community, innerhalb der Gesellschaft. Es erinnerte mich ein wenig an den Aufbau an einer Matrjoschka. Ungewollt waren wir in einer der inneren Puppen gelandet, dort gefangen. Aus dieser Puppe kam man nur schwer heraus. Sie ist zwar selbstverständlicher Teil des Aufbaus, von außen aber nicht zu sehen. Aus dieser Rolle heraus führte nur ein Weg, bei dem wir vor allem sehr viel Eigeninitiative brauchten und viel menschliche Hilfe. Wir brauchen diese Hilfe auch, um Menschen zu bleiben. Auch wenn die Welt um uns herum wehtut und Du dir alleine vorkommst und die ganze neue „deutsche“ Welt gegen dich ist oder dich schlicht und einfach ignoriert. Es gab ein bekanntes sowjetisches Lied: „Ich schreie. Und als Antwort kommt nur die Stille zurück“. Das auszuhalten und dabei Mensch zu bleiben, ist eben auch eine Leistung und eine Last. Menschlichkeit ist keine Einbahnstraße!

Den Weg aus der innersten, aus der kleinsten und hartnäckigsten Matjroschka ebneten uns Menschen, wie die Preisträgerinnen und Preisträger von heute. Damals gab es noch nicht so viele, Anfang der 90er. Nicht viele helfende Hände. Geblieben ist der lange Atem für die Wellenbewegungen. Für das hin und her. Wie oft ging es für uns einen Schritt vor und zwei zurück? Viele Preisträgerinnen und Preisträger kennen es sicher auch aus eigener Erfahrung. Ein Schritt vor, zwei zurück. Manchmal habe ich das Gefühl, diesen Weg geht auch unsere Gesellschaft als Ganzes. Kann sie aber, können wir aber, daraus etwas Positives, etwas Produktives gewinnen?

Ich denke da an den Sommer 2015. In der ersten Jahreshälfte strahlte Deutschland noch Gefühlskälte, Abgeklärtheit, Arroganz aus. Unser Bild im Ausland war beschädigt. Die deutsche Politik während der Finanzkrise hatte ihr Übriges dazu getan. Im Sommer 2015 änderte sich aber plötzlich alles und das Blatt wendete sich. Wir öffneten die Arme, stellten keine Bedingungen mehr, wir halfen. Wir entdeckten sie wieder, diese Menschlichkeit in uns. Wir standen an den Bahnhöfen, hießen willkommen, boten Obdach und badeten in der plötzlich international veränderten Sicht auf uns. Die Bundesregierung übernahm sowohl eine praktische, als auch moralische Führungsrolle in Europa und die Bevölkerung machte mit und machte vor. Dieses neue veränderte Deutschlandbild fühlte sich gut an. Der Schwung, der aus diesem Hochgefühl entstand, hielt aber nicht lang. Diese schnelle Bewegung von Solidarität zu Frustration, vom wohligen Gänsehautgefühl angesichts eines scheinbar nie dagewesenen Zusammenhalts, zum Schauer beim Anblick der Demonstrierenden, mit Fackeln in der Hand.

Dabei ist es egal, ob es um Menschen in Not im Jahre 2015 geht, um die jetzige russische Aggression oder um die Pandemie und ihre Folgen. Der Mechanismus bleibt immer gleich: wir finden zusammen, freuen uns an diesem neuen „Geeintsein“-Gefühl und driften dann noch weiter auseinander, als wir es vorher überhaupt waren. Uns geht mitten drin immer die Luft aus und wir bieten Raum für Missmut und Verbitterung.

Das sind ganz andere Wellen, als die, über die in den letzten Jahren immer gesprochen wurde. Die Flut und Ebbe unserer Demokratie und unserer Menschlichkeit. Diese Wellenbewegungen der letzten Jahre haben aber eines gezeigt: wir haben die Kraft zur Regeneration. Die Freude am gemeinsamen Erschaffen nimmt nicht ab. Das sehen wir auch hier. Vielmehr nimmt sie Anlauf auf die nächste Hürde, die wir gemeinsam meistern. Dieser Wille, zusammen zu halten und einen positiven Unterschied im Leben anderer zu machen, dieser Wille gibt uns Kraft. Und es gibt Menschen und Organisationen, so wie die, die heute auf dieser Bühne stehen, die wie Leuchttürme den Gezeiten unserer Demokratie trotzen und uns über Flut und Ebbe hinweg Kontinuität und Orientierung in diesen Wellen geben. Und sie signalisieren Menschlichkeit.

Der Sächsische Förderpreis für Demokratie steht für mich für diese demokratische Kontinuität und die Freude an Menschlichkeit. Auch in diesem Jahr haben alle Preisträgerinnen und Preisträger diese symbolträchtige deutschlandweite Strahlkraft: Sie geben der schweigenden Mehrheit in Regionen wie Freiberg oder Plauen eine Stimme. Orte, die außerhalb Sachsens pauschal und stereotyp für bürgerliche Wut bekannt sind und als dunkle Seite Deutschlands gebrandmarkt werden, finden in Ihnen und in euch, eine neue, eine andere Sprache.

Lassen Sie mich nur zwei Beispiele nennen, die ja auch heute bereits zur Sprache kamen: die bundesweit beachteten Aktionen von #gesichtzeigen, einer Freiberger Bürgerinitiative, oder dem wunderbaren Onlineberatungstool für Menschen mit Beeinträchtigungen des Antidiskriminierungsbüros Sachsens. Das sind Projekte, die einen Unterschied machen. Und das sind Projekte, die optimistisch stimmen. Und das sind Projekte, die uns Energie geben, immer wieder und wieder diesen Wellenbewegungen zu trotzen.

Sie zeigen damit klar, dass Vorurteile unberechtigt sind und wer laut ist, meistens nicht unbedingt Recht hat. Die Projekte bieten Beratung, Dialog und Prävention – sie stellen sich klar gegen Diskriminierung. Sie regen uns nicht nur zum Denken, sondern zum Handeln an. Und sie zeigen, dass Demokratie von Dialog und Mitwirkung lebt.
In Deutschland bekommt bekanntlich nicht nur jede noch so verrückte Idee eine Bühne, es dürfen sich auch alle an der Gestaltung des Landes beteiligen. Das ist das Tolle an Demokratie! Beides!

https://twitter.com/SLagodinsky/status/1590010334852833280

Nur wollen wir Bürgerinnen und Bürger wirklich diese eigene Mitgestaltung, oder sind wir zu phlegmatisch geworden? Autokratien, aber auch verkrusteten Demokratien bringen Bequemlichkeit mit sich, und diese Bequemlichkeiten sehen und spüren wir als ‚Ach, da kann man ja eh nichts machen!‘.

Wo finden wir diejenigen, die den Mut haben, in ihren Heimatorten Verantwortung zu übernehmen? In den Gemeindevertretungen, in Stadträten und als Bürgermeister*innen! Viele von ihnen arbeiten auch auf diesen kleinsten Ebenen der Mitwirkung, denn sie wissen, da können sie etwas ändern. Die meisten von ihnen sind nicht auf montäglichen Demonstrationen zu finden. Denn sie arbeiten weiter hart daran, dass just diese Demonstrierenden ungestört demonstrieren können. Und sie arbeiten daran, dass ihre Kinder wohnortnah zur Kita und Schule gehen können, Ärzte erreichbar sind, die Feuerwehr gut ausgerüstet ist und, und, und… Sie sorgen dafür, dass selbst kleinste Sorgen und Wünsche gehört werden, egal aus welcher Richtung sie kommen. Oder sie bauen Treffpunkte für Jugendliche, wie unsere Hauptpreisträger. Zum Dank hören sie viel zu oft, dass diese Demokratie ein Auslaufmodell sei. Und sie hören gelegentlich viel Schlimmeres. Und es ist gut, dass wir Euch und sie heute feiern. Und dass hier etwas Anderes gesagt wird, über ihre und Eure Arbeit. Demokratie und Menschlichkeit sind kein Spaziergang. Sie sind harte Arbeit. Und dafür danken wir Ihnen.

Diese Menschen, über die ich gerade gesprochen habe, sind genau hier im Saal. Und das ist das positive Bild der Bundesländer wie Sachsen. Sie retten dieses positive Bild. Sie sorgen für den Schwung, der uns so schnell verloren geht und füllen den Raum, den ansonsten Passivität und Verbitterung einnehmen würde.

Genau das zeigt sich auch im diesjährigen Hauptpreis: Geithain ist eine Stadt im Landkreis Leipzig, welche, wie so viele Gemeinden Sachsens, mit einer starken rechten Dominanzkultur konfrontiert ist. Die Grenzen des Sagbaren verschieben sich immer weiter ins Abseits und mit Interventionen aus der Bevölkerung ist bei verbalen und physischen Attacken nicht zu rechnen. Umso wichtiger sind sichere Räume für Demokratinnen und Demokraten, für Kinder und Jugendliche, welche sich diesen Gruppen nicht anschließen wollen. Es ist nicht selbstverständlich, dass sich nach der Schließung des örtlichen Jugendfreizeitzentrums Menschen zusammentun, die ein neues soziales Zentrum aufbauen und Kindern und Jugendlichen einen neuen Raum für ihre Freizeit geben. Und, dass die Organisator*innen dabei auf Hilfe zur Selbsthilfe, Beteiligung und Selbstorganisation der Jugendlichen setzen, ist sicherlich nicht alleine den knappen Ressourcen geschuldet, sondern dem Gebot der Befähigung, der Selbstermächtigung, der Emanzipation als Subjekte, nicht als Objekte in unserer Gesellschaft. Ein einst baufälliges Gebäude wurde saniert und wurde zu einem Zuhause für die junge Generation. Was für ein Sinnbild für unser gemeinsames politisches Projekt. Bauen statt hetzen.

Zwischen der Kulturwerkstatt Geithain e.V. und Neukieritzsch, wo vor genau einer Woche eine Unterkunft für geflüchtete Ukrainer*innen mit Pyrotechnik beworfen wurde, liegen 25 km. Menschen, die von Vergewaltigung und Tod erzählen können, die alles verloren haben, deren Böller Brandbomben waren, die ihre Nachbarn zerrissen haben. Menschen, die noch vor einigen Wochen vor den Kratern ihrer Häuser und Schulen standen und nun mit deutschen Feuerwerkskörpern beschossen werden? 25 Kilometer können umgerechnet in Menschlichkeit auch Lichtjahre sein. Gut, dass es Menschen und Initiativen gibt, die beharrlich daran arbeiten, diese Lichtjahre zu überbrücken. Dafür herzlichen Dank!

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