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Hintergründe

Nach PEGIDA ist vor der „Bürgerwehr”: Wie eine Politik der Unsicherheit zivile Ordnungshüter*innen anstachelt

Es schien wie ein Hoffnungsschimmer in einer Zeit, in der auf eine negative Nachricht die nächste folgt: Die völkisch-nationalistischen und islamfeindlichen „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes” (PEGIDA) haben am 20. Oktober 2024 zum letzten Mal in Dresden demonstriert. Doch so richtig freuen mag man sich über die Auflösung der rechtsextremen Organisation nicht. Sowohl parlamentarisch als auch außerparlamentarisch hat PEGIDA Spuren der Unsicherheit hinterlassen. Längst werden PEGIDA-Forderungen in Gesetze überschrieben. Aus der Zivilgesellschaft lässt außerdem eine neue Entwicklung aufhorchen: Das Comeback der „Bürgerwehr”.

Von Luisa Gehring

Zehn Jahre lang verbreiteten PEGIDA-Anhänger*innen immer wieder montags rechtsextreme Hetze. Mitgründer Lutz Bachmann schürte in seinen Redebeiträgen gezielt Ängste vor Geflüchteten. Bei einer Demonstration in Dresden am 12. Oktober 2015 fragte er zynisch: „Wenn es schon nicht genügend Jobs für Deutsche ohne Berufsausbildung oder mit geringer schulischer Ausbildung gibt, die trotzdem noch wesentlich höher ist als die der meisten Asylbewerber, woher sollen dann Jobs für die ganzen Invasoren kommen?“ Er spielt damit auf die Verschwörungserzählung des „großen Austauschs” an. Diese beruht auf der rassistischen und antisemitischen Annahme, dass eine jüdische Elite gezielt die Einwanderung von Nichtweißen und Muslim*innen forciere, um den „Volkstod der Weißen” herbeizuführen.

Bei der gleichen Kundgebung rief der rechtsextreme Vordenker und zentrale Figur der Neuen Rechten Götz Kubitschek zur Selbstermächtigung auf und verwies dafür auf Aktivitäten von Rechtsextremen in Österreich: „Mit 30 Aktivisten hat die Gruppe einen Grenzübergang vorübergehend gesperrt. Zwei Stunden lang, immerhin. Können wir das nicht auch? Grenzübergänge sperren, um die illegale Masseneinwanderung zu verhindern?“

Politik der Angst und Unsicherheit

PEGIDA hat über ihre „Montagsdemonstrationen”, die ihren Höhepunkt wohl im Jahr der sogenannten „Flüchtlingskrise” 2015 hatten, zu einem gesellschaftlichen Klima der Angst und Unsicherheit beigetragen. Der Soziologe Didier Bigo (2010) analysiert in seiner Theorie der Versicherheitlichung, wie Geflüchtete durch diskursive Prozesse der Ausgrenzung von Expert*innen als Sicherheitsrisiko dargestellt werden. Im westlichen Staatsverständnis wird der Staat als eine kulturell-homogene Einheit verstanden, die von Migrant*innen bedroht werde. Da dieser Staat für die Sicherheit seiner Bürger*innen verantwortlich ist, kontrolliert er seine Grenze vor „Fremden”. Grenzkontrollen sind für Staaten somit existenziell, da ein Staat ohne sie seinem Versprechen von Sicherheit nicht nachkommt und damit die Berechtigung für sein Gewaltmonopol verliert.

Dabei wird vergessen, dass sowohl Migration als auch Sicherheit soziale Phänomene sind und keinen objektiven Charakter haben. Migration kann nicht kontrolliert werden. Menschen werden immer Wege finden, Grenzen zu überqueren. Gleichzeitig ist die Bedeutung von Sicherheit subjektiv und wandelbar. In Deutschland steht die schiere Omnipräsenz sicherheitspolitischer Themen in der medialen Berichterstattung einer historisch niedrigen Kriminalitätsrate in den letzten Jahren gegenüber.

Neue Formate für PEGIDA – parlamentarisch und außerparlamentarisch

Große Freude kommt über die PEGIDA-Auflösung auch deswegen nicht mehr auf, weil die Bewegung mit der AfD parlamentarisch Fuß gefasst hat. Die Reden der Partei im Bundestag und den Länderparlamenten lassen sich kaum von Redebeiträgen bei PEGIDA-Demonstrationen unterscheiden. Das liegt auch daran, dass sie teilweise von denselben Leuten gehalten werden. So standen bei der letzten PEGIDA-Kundgebung der Brandenburger AfD-Landeschef Christoph Berndt und die AfD-Bundestagsabgeordnete Christina Baum hinter dem Redner*innenpult.

Aber auch die demokratischen Parteien tragen die Themen der Organisation in die Parlamente. Zwei Tage vor der PEGIDA-Auflösung wurden im Bundestag mit dem „Sicherheitspaket” starke Einschränkungen des Asylrechts und erweiterte Befugnisse für Sicherheitsbehörden verabschiedet.

Politiker*innen – auch abseits der AfD – tragen durch die Versicherheitlichung sozialer Phänomene wie Migration zu einer Veränderung des Sicherheitsgefühl bei. Vor allem nach dem Terror von 9/11 stieg die Verunsicherung in der Gesellschaft an, auf die politisch mit law-and-order-Versprechen reagiert wurde. Diese entpuppten sich angesichts der Unterfinanzierung des Bereichs der öffentlichen Sicherheit jedoch als zahnloser Tiger.

Außerparlamentarisch haben sich längst Alternativen zu PEGIDA gebildet. Im thüringischen Gera mobilisiert der Neonazi Christian Klar in Anlehnung an die PEGIDA-Demonstrationen schon seit Jahren zu Montagsspaziergängen „für Frieden und Freiheit”. Zusammen mit bekannten rechtsextremen Stargästen wie Landes-AfD-Chef Björn Höcke und Compact-Herausgeber Jürgen Elsässer ruft Klar allwöchentlich zum Widerstand auf. Auf Instagram warnt er die Thüringer Parteien davor, den angeblichen „Volkswillen“ zu ignorieren. Er appelliert an seine Follower, für Björn Höcke als Ministerpräsidenten auf die Straße zu gehen und die „rot-rot-grüne Regierung aus dem Parlament (zu) jagen”. Er hetzt gegen die „Lügenpresse” und feiert zu „Ausländer raus”- Gesängen. Doch bei diesem rechtsextremen Aktivismus soll es jetzt nicht mehr bleiben. Denn PEGIDA war auch an anderen Stellen Trendsetter: Immer wieder gründen PEGIDA-Aktivist*innen selbsternannte Bürgerwehren, um ihre Forderungen direkt in die Praxis umzusetzen.

Auf Worte folgen Taten

Am Wochenende der letzten PEGIDA-Kundgebung gab nun auch Klar die Gründung einer Bürgerwehr bekannt. Auf einem ersten „Sicherheitsspaziergang” seien zehn Leute mit jeweils einem Hund zwei Mal für eineinhalb Stunden durch Gera patrouilliert, verkündete der Neonazi auf X. Man wolle nicht stören, sondern Bürgern wieder das Gefühl von Sicherheit geben, erklärt er im gleichen Video. Der Neonazi gibt offen zu, dass seine „Bürgerwehr” mit Baseballschlägern bewaffnet ist und man nicht vorhabe, bei Notrufen auf das Eintreffen der Polizei zu warten: „Ich werde eine Notrufnummer einrichten.(…) Und das erste was passiert, wenn ein Notruf kommt. Wird die Polizei darüber informiert? Das löst man mit Baseballschlägern! Und dann haben sie die Chance, schneller zu sein als wir.”

Auch im niedersächsischen Osloß haben Unbekannte in Flugblättern zur Gründung einer Bürgerwehr aufgerufen, „um für Ordnung und Sicherheit zu sorgen”. Hier sind die Hintergründe noch unklar. Der Osloßer Bürgermeister Axel Passeier (SPD) vermutet, dass die anonymen Verfasser*innen gezielt Ängste vor im Ort lebenden Geflüchteten schüren wollen. Bereits im September 2023 berichtete das Antifa Recherche Team Dresden von der Gründung einer neuen Bürgerwehr in der sächsischen Landeshauptstadt. Mit 2.480 Followern hat der privat-gestellte Instagram-Account der Bürgerwehr eine große Reichweite. Auf ihrer Website versucht die „Deutsche Bürgerwehr mit Herz – brauner Adler”, um Mitglieder zu werben und Spenden zu sammeln. Außerdem werden die Ursprünge der Unsicherheit erklärt, gegen die sie vorgehen möchten: „Jugend-Clankriminalität”, „Gruppenvergewaltigungen” und „politischer Islam”. Gezielt wird das Narrativ des „gefährlichen Ausländers” verbreitet: „Wie gut wäre dieses Land, wären nur seine Kriminellen kriminell”, wird auf der Website scheinbar suggestiv gefragt.

Auf der Website „Brauner Adler“ informiert die Bürgerwehr über ihr Selbstbild (Screenshot der Website “Brauner Adler”, 24.10.2024)

Einsatz für Sicherheit und Ordnung oder Rechtsterrorismus?

In den letzten Jahren hatte die Relevanz und öffentliche Präsenz von sogenannten Bürgerwehren abgenommen. 2018 tauchten sie das letzte Mal im Verfassungsschutzbericht des Bundesinnenministeriums auf. Die Neugründungen könnten daher eine beunruhigende Trendumkehr darstellen. Die Gefahr, die von ihnen ausgeht, ist nicht zu unterschätzen. Bürgerwehren greifen das staatliche Gewaltmonopol an. Dieses besagt, dass alle Menschen, die in einem Staat als Bürger*innen zusammenleben, die Verteidigung von Leib, Eigentum und Leben in die Hände des Staates legen und damit auf Selbstjustiz verzichten. Bürgerwehren berufen sich wiederum auf die Jedermannsrechte (§127 Strafprozessordnung), die die vorläufige Festnahme von Straftäter*innen sowie Notwehr- und Notstandsrechte beinhalten. Doch die Gruppen überschreiten oft die Grenze des Legalen: Viele versuchen zusätzlich, die Identität der Beschuldigten festzustellen, tragen Waffen bei sich, drohen Gewalt an oder üben diese auch aus. Der Übergang von Bürgerwehr-Patrouillen zum Rechtsterrorismus verläuft fließend.

Die Süddeutsche Zeitung berichtete 2017 über den Prozess gegen die Gruppe Freital: „Wenn die Mitglieder der ‚Bürgerwehr Freital‘ über ihre Handys miteinander chatteten, hörte sich das alles recht lustig an. Man ging auf ein ‚Bierchen‘ zur Aral-Tankstelle, bestellte ‚Obst‘, um ordentlich ‚Remmidemmi‘ zu machen. Ihre Sätze in den Chats verzierten sie mit vielen Smileys. Doch nachts war es dann nicht mehr lustig. ‚Obst‘ war das Codewort für hochexplosive Böller, und ‚Remmidemmi‘ bedeutete nichts anderes als Sprengstoffangriffe auf Flüchtlingshelfer und Flüchtlingsheime.“

Auch an einer militärischen Ausbildung scheinen manche Bürgerwehren Interesse zu zeigen. So folgt die mittlerweile aufgelöste bayerische Bürgerwehr Vikings Security Germania Division Bayern auf Instagram einem Unternehmen, das private Militärtrainingscamps von ehemaligen russischen Streitkräften anbietet.

Vom Nationalsozialismus über die „Baseballschlägerjahre“ bis zur Kölner Silvesternacht

Zivile Sicherheits- und Ordnungsgruppen haben eine lange Tradition. Auf die Entstehung von Nationalstaaten im 19. Jahrhundert und die damit verbundene Konzentration der bürgerlichen Gewalt zu einem staatlichen Monopol folgten schon bald Forderungen nach der (Wieder-)Bewaffnung der Bürger*innen. Auch in Deutschland wurden Bürgerwehren nach dem Ersten Weltkrieg immer wichtiger und prägten den öffentlichen Raum.

Im Nationalsozialismus wurden Bürgerwehren gar institutionalisiert: Aus dem Saalschutz der NSDAP ging die Sturmabteilung (SA) hervor, die für massiven Straßenterror gegen politische Gegner*innen bekannt wurde. Nach der Machtübernahme durch die NSDAP wurde sie in den Staat integriert und verlor damit ihren autarken Bürgerwehr-Status.

In der Nachkriegszeit traten zivile Ordnungsgruppen nur vereinzelt in Form von „wachsame Nachbarschaftsinitiativen“ auf.

Besonders in der ehemaligen DDR kam es in der Nachwendezeit zu einer Erosion des staatlichen Gewaltmonopols. Die vielen Transformationsprozesse stellten die Behörden vor Herausforderungen. Die Wiedervereinigung war vor allem für Menschen im Osten Deutschlands mit vielen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Unsicherheiten verbunden. Rechtsextreme konnten diese Unsicherheit gezielt für ihre Zwecke nutzen. Anstelle von blühenden Landschaften gab es brennende Geflüchtetenheime. Die 1990er gingen als „Baseballschlägerjahre” in die Geschichte ein. Als Zeit, in der Migrant*innen, Linke, Punks, Obdachlose und Homosexuelle von Neonazis als „Volksfeinde” gejagt, angegriffen, verletzt und immer wieder auch ermordet wurden: Gewalt im Namen des imaginierten „Volkswillens”. Angestachelt wurden sie durch die schon damals diskursiv konstruierten Ängste. Denn auch in den 1990er Jahren wurde eine hitzige Debatte über Migration und die Abschaffung des Asylrechts geführt. Die rechten Mobs bezeichneten sich selbst nicht als Bürgerwehr und rechtfertigten ihre Gewaltexzesse nicht über die Durchsetzung von Recht und Ordnung. Dennoch trugen sie zu einer Normalisierung von Selbstjustiz und Gewalt in der Szene bei und ebneten damit den Weg für die Gründung von Bürgerwehren.

Spätestens ab 2014 schlossen sich in Deutschland wieder Bürger*innen zusammen, um für Recht und Ordnung in ihrem Sinne zu sorgen. Hinter den freiwilligen Ordnungshüter*innen stehen meist gewaltbereite Rechtsextreme, die in ihrer auf Vergeltung und Prävention ausgelegten Selbstjustiz oft über die Stränge schlagen. Im Fokus stehen migrantisch gelesene Menschen, die sie teils mit massiver Gewalt terrorisieren.

Im Jahr 2015 und insbesondere nach der Kölner Silvesternacht Ende des Jahres kam es zu einem explosiven Anstieg der Anzahl von Bürgerwehren. Rechtsextreme instrumentalisieren die sexualisierte Gewalt zum Jahreswechsel, um den Mythos der „kriminellen Ausländer” zu verbreiten und pauschal gegen alle Geflüchteten zu hetzen. Sie konstruieren eine irrationale Angst, die jeglicher empirischen Realität widerspricht.

Eine Recherche von Belltower.News aus dem Jahr 2016 zeigt: Viele Bürgerwehren verblieben im digitalen Raum. Vor allem auf Facebook schließen sich viele law-and-order-Fans zusammen, um sich für mehr Sicherheit und Ordnung im öffentlichen Raum einzusetzen. Dort, wo es zur tatsächlichen Umsetzung ihrer Patrouillen kommt, wird es für Menschen, die sie als fremd oder anders lesen, schnell gefährlich. In Thüringen verfolgen Mitglieder einer Bürgerwehr migrantisierte Menschen und teilen ihre alltäglichen Aktivitäten in Chatgruppen. Bei einem Mitglied einer NPD-nahen  Bürgerwehr in Güstrow (Mecklenburg-Vorpommern) wurden 2015 bei einer Hausdurchsuchung 60 Elektroschocker sowie Teleskopschlagstöcke gefunden. In Brandenburg errichtete eine „Bürgerwehr” eine Barrikade vor einer Erstaufnahmeeinrichtung.

Auch ein Bericht des Tagesspiegels zeigt die enthemmte Selbstermächtigung von Bürgerwehren. In Arnsdorf (Sachsen) fesselten 2016 Mitglieder einer selbsternannten Bürgerwehr einen psychisch kranken Geflüchteten mit Kabelbindern an einen Baum. Sie hatten vermutet, dass der 21-Jährige in einem Supermarkt geklaut hatte. Der zuständige Polizeipräsident verteidigte später das Handeln der Bürgerwehr und bezeichnete es als  „sinnvoll” und „notwendig”.

Bürgerwehren als Reaktion auf Politiken der Verunsicherheitlichung

Die neuen Gründungen von Bürgerwehren sind ein alarmierender Beweis für die entgrenzte Gewaltbereitschaft von Rechtsextremen. Gleichzeitig müssen sie auch als Reaktion auf eine Diskursverschiebung nach rechts verstanden werden, die immer mehr Themen als sicherheitsrelevant darstellt. Sicherheit umfasst dadurch zunehmend Bereiche, die außerhalb der staatlichen Wirkmacht liegen. „Bürgerwehren“ versuchen infolgedessen, die diskursiv konstruierte Unsicherheitslücke zu schließen. Damit tragen sie jedoch zu einer weiteren Verunsicherheitlichung der Gesellschaft bei.

Rechtsextreme Organisationen wie PEGIDA sind in diesem Prozess Brandstifter und Flächenbrand zugleich: Wenn PEGIDA dazu auffordert, den Grenzschutz selbst in die Hand zu nehmen und Bürgerwehren beginnen, eben dies zu tun, reagieren sie auf eine Unsicherheit und tragen gleichzeitig auch zu ihr bei. Dieses Paradoxon kann nur durch eine Durchbrechung des politischen Diskurses über Sicherheit aufgelöst werden. Die Antwort auf die Gründung von Bürgerwehren sollte also nicht „Mehr Sicherheit” sein. Hilfreicher wäre es, den sozialen Ursprüngen von gesellschaftlicher Unsicherheit auf den Grund zu gehen und sie durch einen starken Sozialstaat zu entkräften.

Ob in Dresden, Gera oder Osloß: Dass Neonazis sich jetzt wieder trauen, im Namen von Sicherheit bewaffnet durch die Straßen zu ziehen, ist Ausdruck rechtsextremer Landnahme, angestachelt durch Organisationen wie PEGIDA, aber durch Politiker*innen, die ihnen diese Unsicherheit in die Köpfe gepflanzt haben.

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